# taz.de -- „Projekt 2038“ für Architekturbiennale: Rückwärts staunen | |
> Die Architekturbiennale in Venedig wurde ins kommende Jahr verlegt. Was | |
> heißt das für den Beitrag des deutschen Pavillons „Projekt 2038“? | |
Bild: Die Informatikerin Francesca Bria erdenkt für das „Projekt 2038“ die… | |
Wie geht man damit um, dass das Projekt, das man in der alten Normalität, | |
im Vor-Corona-Leben, erdacht hatte, nicht kommt wie geplant, sondern aufs | |
nächste Jahr verschoben wird: Soll man es kalt stellen, einfrieren, im | |
nächsten Jahr wiederauftauen, ein bisschen Pfeffer drüber streuen und tun, | |
als ob nichts wäre? | |
Diese Frage stellten sich [1][Christopher Roth], Arno Brandlhuber, Olaf | |
Grawert und Nikolaus Hirsch, Kuratoren des deutschen Pavillons der | |
[2][Architekturbiennale in Venedig], die abgesagt und ins nächste Jahr | |
verlegt worden ist. Roth und Brandlhuber, die bereits für Filme wie | |
„Legislating Architecture: Architecting after Politics“ zusammengearbeitet | |
haben, hatten sich gemeinsam mit dem Architekten Nikolaus Hirsch, dem | |
Mitbegründer der Architekturplattform e-flux, und dem Architekten und | |
Städteplaner Olaf Grawert vorgenommen, aus Fiktion Realität werden zu | |
lassen. | |
Ihr „Projekt 2038“ ging von einer Krise aus, die im Jahr 2023 die Welt zum | |
Umdenken zwingen würde und in deren Folge die Art und Weise, wie wir | |
denken, handeln, agieren, konsumieren, produzieren, planen und | |
zusammenleben, von Grund auf neu zu denken sei. Architektur, im Konzept des | |
Quartetts weit gefasst durch die Linse des Kurzfilms, denkt künftig | |
Kategorien wie soziale Herkunft, Bildung und psychosoziale respektive | |
soziologische Beziehungen mit und nimmt Abstand von einer ausschließlich | |
ästhetischen Interpretation von Architektur. | |
Nun kam das Leben den Visionären zuvor: Die Krise ist keine Zukunftsvision | |
mehr, sie ist da, in Form einer Pandemie, und greift in unser Leben und | |
unseren Alltag ein. Was macht diese Zäsur namens Corona mit dem Projekt | |
2038? Welche Visionen ergeben sich aus dieser, unserer Gegenwart für die | |
Zukunft? Welche Zukunft malen wir uns, ausgehend vom Coronajahr 2020, für | |
das Jahr 2038 aus? Wird alles „noch mal gut gegangen sein“? | |
## Ihr könnt aufatmen | |
Das zumindest postulieren die Kuratoren in ihrer nunmehr nicht physisch | |
begehbaren, sondern ins Netz verlagerten Rückschau: Die in Kurzfilmen | |
präsentierten, sich teils thematisch konterkarierenden Lösungsansätze auf | |
die drängenden gesellschaftlichen, ökologischen und ökonomischen Problemen | |
unserer Zeit vereint ein und derselbe Tenor: Ihr könnt aufatmen. Alles ist | |
gerade noch mal gut gegangen. | |
Eine Gegenposition folglich zu den gut bekannten, weit verbreiteten | |
düsteren Zukunftsdystopien, die regelmäßig das Ende der Welt prophezeien, | |
nie jedoch das Ende des Konsums. | |
Der Blick des Teams 2038 schweift anders: Anstatt auf Angsteffekte setzen | |
die Macher auf eine Erkenntnisschleife. Die Berichterstatter hoffen nicht | |
bloß auf, sie wissen um den positiven Ausgang der Geschichte. Keiner der | |
Kurzfilme verschwendet seine Energie darauf, Zuschauerinnen und Zuschauer | |
mit Horrorszenarien zu konfrontieren, die erst- und vorrangig künftige | |
Gefahren und Probleme aufdecken. | |
## Glückliches Ende dank ausgeklügelter Entwürfe | |
Das Projekt 2038 schaut aus der Zukunft mit einer in der Gegenwart | |
unbekannten Gelassenheit. Die Protagonisten geben grünes Licht: Unsere | |
Geschichte nimmt ein glückliches Ende. Erkenntlich zeigen dürfen wir uns | |
bei ausgeklügelten Entwürfen zahlreicher Architektinnen und Architekten, | |
„die mit alten wie neuen Modellen und ganzheitlichen Ansätzen“ an jener | |
Erfolgsstory beteiligt waren. | |
So sehen wir zum Beispiel, dass 2038 Wale im New Yorker Hudson River | |
schwimmen und uns in der Zwischenzeit vertraut gewordene künstliche | |
Intelligenzen zu unserem Wohl agieren, statt in großen Data Centern hinter | |
verschlossenen Türen, manipuliert von unbekannter Hand, ihr Unwesen zu | |
treiben. | |
Inwiefern Technik tatsächlich Initiator für mehr Freiheit und | |
Mitgestaltungsmöglichkeiten sein kann und nicht bloß Mittel zum Zweck einer | |
kontinuierlichen Kontrolle, erörtert der Kurzfilm von [3][Audrey Tang], | |
einer früheren taiwanischen Programmiererin, Hackerin und Ministerin. | |
## Digitalisierung für das Gemeinwohl | |
Die Theoretikerin Francesca Bria, die über eine neue Art von Smart City | |
nachdenkt, berichtet von einer Digitalisierung, die nicht die Interessen | |
weniger (einflussreicher Internetkonzerne oder autoritärer Staaten) | |
bedient, sondern dem Gemeinwohl dient. | |
Im Jahr 2038 erinnert man sich nur noch vage an eine Zeit der | |
privatisierten Städte, in der sich der größte Teil des weltweiten Kapitals | |
in den Händen von einem Prozent der Bevölkerung befand. Reichtum wird | |
geteilt. Privatisierung von Reichtum ist eine Unsitte der Vergangenheit. | |
Menschlichkeit ist angesagt, auch das hat die Coronakrise gezeigt. Trotz | |
teils radikaler Einschnitte in die persönliche Freiheit ist es den Menschen | |
gelungen, solidarisch und konstruktiv zu bleiben. | |
Brandlhuber, bekannt für eine Baukultur, die fortschreibt, statt | |
abzureißen, versteht Architektur wie seine Kollegen als Akteur in einem | |
Gesamtsystem, das weitsichtig arbeitet und soziale wie ökologische | |
Gesichtspunkte in den Blick nimmt, statt sich in kurzsichtiger Manier als | |
rein ästhetisches Medium zu verstehen. | |
Es bedarf keines rigorosen Niederreißens: Ein kluger Architekt weiß, wie er | |
das Vorhandene ausweitet und kollektiv nutzt. Überhaupt kommt dem | |
Partizipativ-Kollektiven seit Corona ein höherer Stellenwert als dem | |
Repräsentativ-Elitären zu. | |
## Ändert die Zukunft die Richtung? | |
Wirkt Corona als Paradigmenwechsel-Beschleuniger? Markiert die Krise einen | |
jener historischen Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert? | |
Welche Verantwortung muss jeder Einzelne übernehmen, damit es weitergeht | |
(und es wird ja weitergehen, wie die Zukunftsmacher uns versichern)? Die | |
Bürger, das steht fest, müssen Verantwortung übernehmen, in Prozesse und | |
Entscheidungen eingebunden werden, um das Gefühl zu entwickeln, | |
tatsächlicher Teil eines solidarischen Ganzen zu sein und Einfluss zu | |
haben. | |
Ebenso wichtig wie ein einvernehmlicher, allen zugänglicher Umgang mit | |
Daten und Technik ist die menschlich-soziale Komponente. So stellt etwa | |
Joanna Pope ihre Theorie des „Degrowth“ vor; Baubotaniker erzählen darin | |
aus der Zukunft vom Modell des „mitwachsenden“ Hauses, nicht bloß im | |
metaphorischen, sondern im konkreten Sinne: Die Fassaden der Häuser sind | |
Bäume. | |
Vermittelt wird die Idee einer „gewachsenen“ Architektur, die sich und ihre | |
Aufgabe neu definiert: Nicht mehr als Aufgabe rein ästhetischer Art, | |
vielmehr steuern ökologische Fragen die Planung; das neue Nachdenken über | |
Architektur gebraucht das Verb „architektieren“. Das Projekt 2038 befreit | |
die Zukunft aus ihrer Angststarre und verhilft ihr zu neuer Lebendigkeit | |
und Heiterkeit. | |
## Videokonferenzen als Erfolgsmodell | |
Und nächstes Jahr? Was wird zu sehen sein im deutschen Pavillon? Die | |
geplante Rückschau aus dem Jahr 2038, ergänzt um krisenbildende sowie | |
gesellschaftsfördernde Faktoren der Coronapandemie wie die Ära des | |
Homeoffice, die Phantomtheater, zu kurz greifende Hilfspakete, sterbende | |
Kinos und virtuelle Begegnungen? | |
Da wären zum Beispiel die Videokonferenzen, begleitet von der Einsicht – | |
ganz gleich, ob sie alteingesessenen Digitalpessimisten immer noch | |
widerstrebt –, dass sich viele Kulturtechniken des Digitalen in der Praxis | |
als praktikabel und produktiv erweisen und dass eben nicht immer und | |
überall ein Businessflieger bestiegen werden muss. | |
Roth und sein Team wollen ihren Rückblick aus der Zukunft jedenfalls nicht | |
ungesehen in der Schublade vermodern lassen: Sie nutzen die Vorzüge ihrer | |
Zeit, Websites und Onlinemedien wie den Online-Auftritt des Kunstmagazins | |
[4][Arts of The Working Class] sowie die Architekturzeitschrift Arch+, um | |
ihre Weltumbaumodelle und theoretischen Pflaster, die sich angesichts der | |
aktuellen Krise pointierter geben denn je, zu veröffentlichen. | |
Das Narrativ der Zukunft, frohlockt man bei der Betrachtung jener | |
Kurzfilme, ist keine Apokalypse. Es ist ein Neuanfang. | |
2 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Berlinale-Film-ueber-Kritiker-John-Berger/!5276235 | |
[2] /16-Architekturbiennale-in-Venedig/!5508402 | |
[3] /Trans-Ministerin-ueber-Taiwan/!5651745 | |
[4] http://artsoftheworkingclass.org/www-artsoftheworkingclass-orghome/ | |
## AUTOREN | |
Marielle Kreienborg | |
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