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# taz.de -- Berlinale-Film über Kritiker John Berger: Wie sehen wir Tiere an?
> Vier Porträts zu vier Jahreszeiten: Die Dokumentation „The Seasons in
> Quincy“ zeigt John Bergers besonderen Blick auf die Kunst und die Welt.
Bild: Auch Tiere lesen John Berger.
John Berger schaut genau hin. Immer. Für sein präzises Auge wurde der
britische Kunstkritiker und Autor bekannt. Und für seine
70er-Jahre-TV-Sendung [1][“Ways of Seeing“], in der er zigfach
durchtheorisierte Gemälde von Rembrandt bis Goya neu sah, oft entzauberte,
ja sogar mit dem Messer zerschnitt. Im Dokumentarfilm [2][“The Seasons in
Quincy: Four Portraits of John Berger“] wird er nun zur Abwechslung selbst
betrachtet.
Dafür bekam er über fünf Jahre hinweg Besuch. Die Schauspielerin Tilda
Swinton, der Regisseur Christopher Roth, der Dokumentarfilmer Bartek
Dziadosz und der Produzent Colin MacCabe fuhren nach Quincy – in dem
kleinen französischen Alpendorf lebt Berger seit 1973. Aus den vier
Besuchen entstanden vier Portraits in vier Jahreszeiten. Auf der Berlinale
laufen sie nun erstmals als zusammenhängender Film.
Der beginnt in Bergers Küche. Die erste Episode „Ways of Listening“ (Colin
MacCabe) zeigt ihn mit der Oscar-Gewinnerin Tilda Swinton – beim
Äpfelschälen. Das ist schon alles. Die statische Kamera fängt beide ein:
wie ein Stillleben, das dann aber in Bewegung gerät. Wenn Berger mit
sanfter Intonation und zaghaften Gesten von seinem Nachkriegsvater erzählt,
dessen rare Momente der Nähe in einfachen Worten gemalt werden. Bis hin zu
einer seltenen Erinnerung, in der der Vater für ihn beim Frühstück Äpfel
schnitt: „erst in Hälften, dann in Viertel, dann schälte er sie“.
Klingt simpel. Doch genau so wird Bergers besonderes Talent wiedergegeben:
das exakte Hinsehen und Beschreiben. In seinen Essays und seiner Sendung
zeigt er, wie sich der Blick auf die Kunst je nach Licht, Bildausschnitt
und eigener Biografie ganz unterschiedlich gestaltet. Farben anders
aussehen. Sich die Materialität des Gezeigten verändert. Berger, der lange
an grauem Star litt, weiß das nur zu gut.
## Äpfel eben. Oder Väter.
Die Küchenszene demonstriert dabei sehr schön, woraus sich Bergers
unakademischer Blick zehrt. Nämlich aus dem Alltäglichen. Äpfeln eben. Oder
Vätern. Und vor allem aus Quincy, das sein Schreiben seit den 70ern auf
unterschiedliche Weise beeinflusst. Durch die raue Natur des Ortes: „So
eine Landschaft kann die Sehgewohnheiten eines ganzen Lebens prägen“,
schrieb Berger im Essayband „Das Leben der Bilder oder die Kunst des
Sehens“ (1981). Durch seine genügsamen Menschen: Vom einfachen Leben in
seinem Dorf berichtet Berger mit viel Sympathie und Nähe in seiner
Roman-Trilogie „Von ihrer Hände Arbeit“ (1979 bis 1990).
Und sogar durch seine Tiere: In Bergers Essay „Warum sehen wir Tiere an?“
(1981) heißt es schließlich: „Keine andere Gattung als die des Menschen
wird den Blick des Tieres als vertraut empfinden. [. . .] Der Mensch wird
sich, indem er den Blick erwidert, seiner selbst bewusst.“
All das formt Bergers Blick auf die Kunst und die Welt. Christopher Roth
fängt dies in seiner Episode „Spring“ ein, indem er Berger gar nicht erst
vorkommen lässt. Sondern nur das zeigt, was dieser in Quincy sieht: wie
sich die Schneeberge in sattgrüne Weiden verwandeln. Die Bauern ihre Tiere
aus den Ställen lassen. Und dann Cut: Ochsen und Esel, Pferde und Schweine
nacheinander direkt in die Kamera schauen.
In Bildcollagen, Dialogen, Offkommentaren, aber auch in Archivmaterial wird
Berger auf dieselbe Art betrachtet, wie er in seinen Essays und Romanen
betrachtet. Immer wieder neu. Immer wieder anders. So zeigt die
Sommerepisode „A Song for Politics“ (Colin MacCabe und Bartek Dziadosz)
auch Bergers politisches Engagement – 1972 etwa spendete er ungefähr die
Hälfte seines Preisgelds, das er mit dem Booker Prize erhielt, an die Black
Panther Party. „Harvest“ (Tilda Swinton) beschäftigt sich dagegen mit
seiner Familie und seinen Freunden.
Und was sehen wir am Ende? Einen nicht immer einfachen, aber klugen Film.
Der Bergers Kunstverständnis aufgreift, doch nie ausdefiniert, damit sich
der Zuschauer auch seine Gedanken machen darf. So nimmt der Film nicht nur
das Betrachtete, sondern auch den Betrachter wichtig. Das war immer auch
Teil von Bergers Philosophie.
19 Feb 2016
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=0pDE4VX_9Kk
[2] https://vimeo.com/148352867
## AUTOREN
Christine Stöckel
## TAGS
Schwerpunkt Berlinale
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Tiere
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