| # taz.de -- Galerie Wedding in Berlin: Kunst trifft Sozialamt | |
| > In der kommunalen Galerie Wedding ist noch bis Samstag die Ausstellung | |
| > „Gift“ zu sehen. Zwischenzeitlich zog wegen Corona das Sozialamt in die | |
| > Räume. | |
| Bild: Maja Smoszna, kuratorische Assistentin, und Kurator Jan Tappe in der Gale… | |
| Die Kunst soll zum Volke. Diese Forderung wird von sozial engagierten | |
| Künstler*innen und Kunstvermittler*innen gern erhoben. In der [1][Galerie | |
| Wedding im Berliner Stadtteil Wedding] – Raum für zeitgenössische Kunst | |
| erfährt nun diese Forderung derzeit eine ganz besondere institutionelle | |
| Unterstützung. Die ist zwar bestimmt nicht von jedem so gewollt und | |
| tatsächlich auch höchst problematisch. Der Berufsverband Bildender | |
| Künstler*innen (BBK) befürchtet sogar, dass die kommunale Galerie Wedding | |
| in Zukunft komplett dem Sozialamt weichen muss. | |
| In den Morgenstunden sieht man lange Schlangen vor dem Eingang der Galerie | |
| Wedding in der Müllerstraße. Menschen drängen sich. Ihr erstes Ziel ist | |
| aber nicht die Kunst. Denn in die Räumlichkeiten der Galerie ist auch das | |
| Sozialamt eingezogen. | |
| Drei Stunden am Vormittag empfangen die Mitarbeiter*innen des Sozialamts | |
| hier Antragsteller*innen und Empfänger*innen von Hilfen. Ab 12 Uhr | |
| übernehmen die Aufsichtskräfte der Galerie. Die | |
| Ausstellungsbesucher*innen erleben dann eine installative Überlagerung. | |
| Zum einen gibt es „Gift“, eine Ausstellung von Julian Irlinger. Der | |
| 34-jährige Künstler erzählt mittels Fotografien und Dokumenten die | |
| Eigentümergeschichte eines Hauses in Schönebeck in Sachsen-Anhalt. Das Haus | |
| gehörte einst seiner Familie, wurde zu DDR-Zeiten enteignet und nach der | |
| Wende rückübertragen. | |
| ## Geschichte des Verfalls | |
| Irlinger selbst, in Erlangen geboren und dort aufgewachsen, wusste lange | |
| Zeit nichts von dem einstigen Familienbesitz jenseits der Grenze. Die | |
| Fotos, die er für die Ausstellung ausgewählt hat, zeigen einen verlassenen, | |
| weitgehend leeren und verwahrlost wirkenden Bau – einen Zustand, der in den | |
| frühen 1990er Jahren für viele Wohn- und Gewerbebauten im Osten | |
| Deutschlands typisch war. | |
| Jetzt überlagert sich diese alte Verlassenheitssituation mit der aktuellen. | |
| Denn mitten in den Ausstellungsräumen haben Sozialamtsmitarbeiter ihre | |
| Schreibtische aufgebaut. Ihre Computer stehen noch herum, hier und da | |
| findet man einen – vermutlich leeren – Kaffeebecher. Ganz im Coronamodus, | |
| trennen Plexiglasscheiben sowie eine provisorisch wirkende transparente | |
| Folie den Arbeitsbereich vom „Kunden“bereich. | |
| Die Szenerie strahlt Trostlosigkeit aus. Das Büromobiliar, das teilweise | |
| aus den 1980er Jahren zu stammen scheint, korrespondiert perfekt mit | |
| Irlingers Erzählung vom Familienhaus in Schönebeck. „Die Situation hat sich | |
| mit meinem Projekt gar nicht so gebissen. Ich fand es auch interessant, | |
| dass sich gewissermaßen die Geschichte umarmt“, bestätigt Irlinger diesen | |
| Eindruck. | |
| Ihn interessieren in seiner Kunst die institutionellen Verschiebungen. Und | |
| die Spuren, die Pandemie und Lockdown in der Galerie hinterlassen, nimmt er | |
| in seiner Arbeit auf. „Kunst muss nicht clean sein. Viele Museen und | |
| Galerien haben jetzt wieder aufgemacht. Aber was man sieht, sind die reinen | |
| Kunsträume“, meint er. | |
| ## Ergebnis einer Notsituation | |
| In der Galerie Wedding hingegen sieht man die durch Corona bewirkten | |
| Veränderungen ganz deutlich. „Es war doch eine Notsituation. Viele Menschen | |
| kamen aufgrund der geschlossenen Grenzen nicht heraus, aber ihr | |
| Aufenthaltsrecht erlosch. Da muss man doch schnell etwas machen. Und ich | |
| konnte auch verstehen, dass die Sozialamtsmitarbeiter den üblichen | |
| Publikumsverkehr unter den Coronabedingungen nicht mehr in ihren Büros oben | |
| abwickeln konnten“, erklärt Irlinger. | |
| Während er die Situation künstlerisch nutzte, stellt die Hybridnutzung von | |
| Sozialamt und Kunstraum für die Galerieleitung zunehmend ein Problem dar. | |
| „Erst hieß es, dass das Sozialamt die Räume bis 30. Juni nutzt. Vor ein | |
| paar Tagen wurde uns aber mitgeteilt, dass es bis 30. September geht. Das | |
| schränkt unsere Arbeit ein“, erzählt Kuratorin Solvej Ovesen der taz. Denn | |
| nicht jedes Projekt passt zu der Situation. | |
| Ovesen kritisiert auch die innerbehördliche Kommunikation, in der ohne | |
| große Rücksprache die Doppelnutzung einfach angeordnet wurde. „Eine | |
| feindliche Übernahme war es sicher nicht“, wehrt Bezirksamtsprecher | |
| Christian Zielke auf Anfrage der taz ab. Wie lange der Zustand der | |
| Doppelnutzung dauern wird, kann das Bezirksamt nicht mitteilen, bekundet | |
| aber den festen Willen „an diesem Standort eine funktions- und | |
| leistungsfähige Galerie zu erhalten und gleichzeitig für die | |
| Kundensteuerung des Sozialamtes eine zukunftsfähige Lösung zu entwickeln“. | |
| Der [2][Arbeitskreis Kommunale Galerien des Berufsverbands Bildende | |
| Künstler*innen] äußerte in einem offenen Brief bereits die Befürchtung, | |
| dass die Galerie Wedding auf Dauer geschlossen und die Räume dem Sozialamt | |
| zufallen könnten. „Dagegen werden wir kämpfen. Die Galerie Wedding ist | |
| unsere wichtigste kommunale Galerie im Bezirk, und sie strahlt auf die | |
| gesamte Stadt aus“, erklärte Ute Müller-Tischler, Leiterin der Galerie und | |
| zugleich Fachbereichsleiterin für Kunst, Kultur und Geschichte im | |
| Bezirksamt Mitte. | |
| Sie wie auch Ovesen sehen zwar ebenfalls den Reiz, der im Zusammenbringen | |
| der bisher eher getrennten Welten von Sozialhilfempfänger*innen und Art | |
| Crowd liegt. „Aber es kann nur gelingen, wenn es auf Freiwilligkeit beruht | |
| und man solche Projekte gut vorbereiten kann. Andernfalls zwingt man nur | |
| den einen die Kunst auf und den anderen die Einschränkungen, die durch die | |
| Doppelnutzung entstehen“, erklärt Ovesen. | |
| Die Künstler*innen der kommenden Ausstellung, die am 6. August beginnt und | |
| in Zusammenarbeit mit dem DAAD entsteht, müssen nun eigene Wege der | |
| Auseinandersetzung finden. „Sie werden vor allem performativ auf die | |
| Situation eingehen“, kündigte Ovesen an. | |
| 24 Jul 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tom Mustroph | |
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