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# taz.de -- Arbeit in der Fleischindustrie: Für eine Handvoll Cent
> Wenn Tönnies und Co. ihre Arbeiter nicht mehr über Subunternehmer
> ausbeuteten, würde das Kilogramm Schweinefleisch um nur knapp 10 Cent
> teurer.
Bild: Geschlachtete Schweine bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück
Mit der Angst vor hohen Fleischpreisen machen deutsche Konservative gern
Politik. Fleisch dürfe „nicht etwas nur für Besserverdiener sein“, sagt
Bundesagrarministerin und CDU-Vizechefin Julia [1][Klöckner] gern.
ParteifreundInnen von ihr haben Forderungen nach besseren
Arbeitsbedingungen, Tierschutz- und Umweltauflagen erfolgreich mit dem
Argument abgebügelt, die höheren Kosten würden vor allem den Armen schaden.
Fleisch ist für viele eben immer noch ein Symbol für ausreichende
Ernährung.
Doch die Angst vor zu hohen Fleischpreisen ist übertrieben. Hungersnöte
gibt es in Deutschland seit den 1950er Jahren nicht mehr. Schon lange essen
Männer in Deutschland pro Woche fast doppelt so viel Fleisch wie die von
Ernährungswissenschaftlern empfohlenen maximal 600 Gramm. Der mögliche
Aufpreis für Fleisch, der derzeit wegen des massiven Auftretens von
Coronavirusinfektionen in Schlachthöfen besonders diskutiert wird, ist
minimal.
In der Debatte geht es vor allem um einen Gesetzentwurf, den
Bundesarbeitsminister [2][Hubertus Heil] noch im Juli vorlegen will. Der
SPD-Politiker möchte, dass ab 1. Januar 2021 in Fleischfabriken nur noch
deren eigene Mitarbeiter Tiere schlachten und Fleisch verarbeiten dürfen.
Dann wäre es verboten, dass wie bisher in großen Schlachthöfen 80 bis 90
Prozent der ArbeiterInnen nicht direkt, sondern von Subunternehmen
angestellt sind, die über Werkverträge beauftragt werden.
Von den ungefähr 110.000 ArbeiterInnen der deutschen Fleischindustrie
insgesamt seien etwa 30.000 bei Werkvertragsfirmen angestellt, schreibt
der Europäische Verband der Landwirtschafts-, Lebensmittel- und
Tourismusgewerkschaften (EFFAT) in einem am Dienstag veröffentlichten
Bericht. Sie kommen meist aus armen Ländern wie Rumänien oder Polen.
## 48 bis 65 Arbeitsstunden pro Woche
Mithilfe der Subunternehmen können die Fleischfirmen den
GewerkschafterInnen zufolge die Kosten senken und sich vor der
Verantwortung dafür drücken, dass Arbeitnehmerrechte verletzt werden, die
Beschäftigten weniger als den gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 9,35
Euro erhalten und Sozialbeiträge sowie Steuern hinterzogen werden: „Das
System ist der Haupttreiber des anhaltenden Unterbietungswettbewerbs bei
Löhnen und Arbeitsbedingungen.“ Dieses „Sozialdumping“ habe Tausende
Arbeitsplätze in anderen EU-Ländern wie Dänemark vernichtet, wo die
Arbeiter direkt angestellt und besser bezahlt werden.
Beschäftigte von Subunternehmen müssten im Allgemeinen 48 bis 65 Stunden
pro Woche arbeiten, heißt es in dem Bericht. Die direkt von den
Schlachthäusern angestellten Arbeiter dagegen kämen normalerweise auf etwa
40 Stunden, maximal 48. „Für Arbeiter von Subunternehmern kann der
Arbeitstag bis zu 16 Stunden dauern, bei 6 Tagen pro Woche.“
Der Report kritisiert, dass oft nicht alle Arbeitsstunden notiert und damit
bezahlt würden. Zudem würde den Menschen – illegalerweise – Geld vom Lohn
abgezogen für Arbeitsmaterial wie Messer, Schürzen oder Handschuhe. „Auch
die Wohnbedingungen sind extrem schlecht“, bemängelt EFFAT. „Arbeiter der
Subunternehmer leben oft in überfüllten Wohnungen mit gemeinsamen
Badezimmern und sogar mit bis zu 5 oder 6 Menschen in einem Schlafzimmer.“
Der Arbeitgeber vermiete die Unterkünfte, was die Beschäftigten noch
abhängiger mache. Außerdem würden sie oft nur befristet angestellt. Deshalb
hätten sich Arbeiter aus Angst vor Kündigung trotz Symptomen nicht
krankgemeldet.
## Kaum Kontrolle der Coronamaßnahmen
Weil sie so leicht austauschbar sind und kaum Deutsch können, wehren sie
sich auch selten, wenn sie trotz Coronapandemie Ellbogen an Ellbogen am
Produktionsband stehen müssen – wie es üblich ist, um möglichst viele Tiere
möglichst schnell schlachten zu können. Die Werkvertragskonstruktion führt
laut der deutschen Gewerkschaft Nahrung-Genussmittel-Gaststätten (NGG)
sogar dazu, dass die Schlachthöfe Abstandsregeln im eigenen Haus nicht
durchsetzen dürften.
Wenn ein Vorarbeiter der Fleischfabrik den Werkvertragsbeschäftigten
Anweisungen gebe, „dann ist es kein Gewerk mehr, sondern eine illegale
Arbeitnehmerüberlassung“, sagte NGG-Vizechef Freddy Adjan vor Kurzem der
taz.
Die zuständigen Kreisverwaltungen kontrollieren EFFAT zufolge kaum, ob die
Coronaregeln eingehalten werden. Außerdem könne sich das Virus auch deshalb
leicht ausbreiten, weil es in den Werkshallen so kalt ist und die
Klimaanlagen die Luft nicht richtig filtern.
Das sind Ursachen, weshalb sich in Schlachthöfen Tausende Menschen mit dem
Coronavirus angesteckt haben – mehr als irgendwo sonst in der
Fleischindustrie eines EU-Landes. Allein im Stammwerk des Marktführers
Tönnies im westfälischen Rheda-Wiedenbrück wurden laut der zuständigen
Kreisverwaltung in Gütersloh Ende Juni etwa 1.400 ArbeiterInnen positiv
getestet.
Hunderte Fälle gab es bei Müller Fleisch im baden-württembergischen
Birkenfeld, bei Westfleisch in Coesfeld nahe Münster und bei Vion im
schleswig-holsteinischen Bad Bramstedt. Kleinere Ausbrüche wurden zum
Beispiel im Putenschlachthof von PHW/Wiesenhof im niedersächsischen
Wildeshausen bekannt.
Nach anfänglichem Widerstand hat sogar der [3][Verband der
Fleischwirtschaft] dem von der Bundesregierung geplanten Verbot der
Werkverträge in den Kernbereichen von Schlachthöfen zugestimmt. Plötzlich
behauptet die Lobbyorganisation nicht mehr, dass viele Betriebe ohne
Subunternehmer ihre Wettbewerbsfähigkeit verlieren und Teile der Branche
ins Ausland abwandern würden. Zu den Vorwürfen der EFFAT wollte der Verband
auf taz-Anfrage nicht Stellung nehmen.
Dass diese Kehrtwende ehrlich gemeint ist, darf bezweifelt werden. Am
Mittwoch schlug der maßgeblich von Wiesenhof beeinflusste Zentralverband
der Deutschen Geflügelwirtschaft vor, die Werkverträge nicht per Gesetz,
sondern durch einen Tarifvertrag aus seiner Branche zu verbannen.
Begründung: Es wäre verfassungswidrig, Werkverträge nur in einer Branche
gesetzlich zu untersagen. Die NGG spricht von einer „Nebelkerze“ einer
Industrie, die schon mehrmals aufgefallen sei, weil sie Versprechen nicht
hielt.
Jedenfalls würden die VerbraucherInnen wohl – wenn überhaupt – nur wenig
mehr für Fleisch bezahlen müssen, wenn die ArbeiterInnen direkt von den
Schlachthöfen angestellt und auch korrekt bezahlt würden. Zwar teilte
Tönnies auf taz-Anfrage mit: „Es ist zu erwarten, dass es damit verbunden
Preissteigerungen geben wird.“ Denn die Mehrkosten dürfen – natürlich –
nicht den Gewinn seiner Haupteigentümer belasten, obwohl [4][Clemens] und
[5][Robert] Tönnies mit einem von der Zeitschrift Forbes geschätzten
Vermögen von jeweils 2 Milliarden Euro zu den reichsten Deutschen gehören.
Tönnies braucht ja auch noch Geld für teure Berater mit besten Verbindungen
in die Politik. Der ehemalige SPD-Chef und frühere
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel etwa sollte für ein kurzes
Intermezzo von März bis Mai bei dem Fleischkonzern pro Monat mindestens
10.000 Euro kassieren.
Aber der Preisaufschlag für die Arbeiter ist, umgelegt auf ein Kilogramm
Schweinefleisch (die in Deutschland wichtigste Fleischsorte) sehr gering:
„Der Anteil der Lohnkosten bei Schlachtunternehmen liegt je nach
Geschäftsmodell und je nachdem, wie viel Verarbeitung sie haben, bei 5 bis
10 Prozent“, sagt Achim Spiller, Professor für Marketing von Lebensmitteln
und Agrarprodukten an der Universität Göttingen, der taz. „Wenn die
Lohnkosten um ein Fünftel stiegen und die Schlachtung ein Drittel des
Verbraucherpreises ausmacht, würde er sich nur um einen einstelligen
Centbetrag erhöhen.“
Matthias Brümmer, Fleischexperte der NGG, hat das 2015 am Beispiel eines,
wie der Gewerkschafter sagt, typischen Schlachthofs durchgerechnet.
Ergebnis: Wenn die Arbeiter einen tariflichen Stundenlohn von 15 Euro
bekämen und darauf 40 Prozent Lohnnebenkosten anfielen, verteuerte sich das
Kilogramm Schweinefleisch um 9 Cent. Mit Mehrwertsteuer wären das knapp 10
Cent.
Damit korrigiert er die Angaben anderer NGG-Vertreter, die 20 Cent genannt
hatten. Brümmers Berechnung liegt der taz vor. Der Verband der
Fleischwirtschaft wollte sie nicht kommentieren – auch nicht dementieren.
Im vergangenen Februar hätten die VerbraucherInnen also laut Agrarmarkt
Informations-Gesellschaft pro Kilo Schweinefleisch im Schnitt nicht 7,27
Euro zahlen müssen, sondern 7,37 Euro.
„Diese geringen Mehrkosten allein würden nicht zu Abwanderung von
Fleischwerken ins Ausland führen“, sagt Spiller. Die NGG weist auch darauf
hin, dass die Schlachthöfe ja Tiere benötigen, die sie in dieser Menge
bisher nicht zum Beispiel in Rumänien beziehen könnten. Tatsächlich schrieb
Tönnies der taz: „Wir selbst haben vor, die Produktion auch nach Umstellung
der Werkverträge unvermindert in Deutschland fortzuführen.“ Der drittgröß…
Schlachtkonzern hierzulande, Westfleisch, antwortete der taz auf Anfrage:
„Arbeitsplätze werden nicht verlagert.“ Und die Nummer zwei der Branche
teilte immerhin mit: „Vion hält an ihren deutschen Standorten fest.“
4 Jul 2020
## LINKS
[1] /Julia-Kloeckner-ueber-Tiere-als-Essen/!5534590/
[2] https://www.bmas.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/mehr-arbeitsschutz-un…
[3] https://www.v-d-f.de/news/pm-20200626-0139
[4] https://www.forbes.com/profile/clemens-toennies/#729579cb5078
[5] https://www.forbes.com/profile/robert-toennies/#5e36920c47b9
## AUTOREN
Jost Maurin
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