# taz.de -- Theaterkollektiv „Prunk & Plaste“: Tanz ums Theaterschwein | |
> „Prunk & Plaste“ nennt sich ein neues Kollektiv für crossmediales | |
> „Isolationstheater“. Die Arbeit „Bilder des Dorian Gray“ hat heute | |
> Online-Premiere. | |
Bild: In „Bilder des Dorian Gray“ geht es um Narzissmus und die Verführung… | |
BREMEN taz | Sie lassen Blumen sprechen, also zumindest Grünpflanzen. Mit | |
Augenaufklebern schmückt Mathilde Lehmann einige Blätter eines | |
Fensterbankdschungels, gibt ihnen einen Namen, wackelt an den Stängeln und | |
illusioniert so lebendige Individuen – als wäre das Blattwerk ein Ensemble | |
von Puppentheaterfiguren. Ihre Dialoge sind mit kindlich verzerrten Stimmen | |
eingesprochen. | |
„Fleisch“ lautet der Titel des Videos, die Wortwechsel kreiseln | |
orientierungswillig um Liebe, Kinderkriegen, gesellschaftliche Konventionen | |
und die Frage, wie die Ungerechtigkeit zu rechtfertigen sei, dass Menschen | |
gern Hunde streicheln, Schweine hingegen essen, aber nie ein menschliches | |
Baby verspeisen würden. Dabei seien doch beide klein, rosa, speckig und | |
nicht in der Lage, Gedanken zu formulieren, sollten sie welche haben. | |
Diese putzig philosophierende Kannibalismus-Debatte ist eine der ersten | |
Homeoffice-Produktionen, die unter dem Label des Theaterkollektivs | |
„[1][Prunk & Plaste]“ erschienen sind. Gegen die kulturelle | |
Coronatristesse hat es die Gründung als gemeinnütziger Verein vorgezogen | |
und veröffentlicht nun erst mal zeitgeistig virale Fingerübungen in online | |
möglichen Formaten. | |
Beispielsweise eine „WebCamApokalypse“: Lehmanns nun reale Protagonisten | |
erwachen Panik-infiziert in einer surreal anmutenden Pandemiezeit. Sie | |
tauschen sich, isoliert in ihrer häuslichen Umgebung, per Videochat über | |
das imaginär werdende Draußen aus und verlieren dabei zunehmend den | |
Verstand – in diesem Skype-Theater. | |
## Skype-Apokalypse | |
Lehmann und Katharina Lackmann sind die Gründerinnen der Kulturinitiative. | |
Ein logischer Schritt ihrer Karriereplanung. Von 2016 bis 2019 war Lehmann | |
Regie-, Lackmann Ausstattungsassistentin am Theater Bremen. Nach dem | |
Auslaufen der Verträge leben beide in der Hansestadt vorübergehend von | |
Arbeitslosengeld II. Sozusagen ihr Startkapital in die Selbstständigkeit. | |
Um nicht als Einzelkämpferinnen mühsam Job um Job in der Theaterszene | |
ergattern zu müssen, haben beide selbst ein Netzwerk gestrickt aus sich | |
gegenseitig unterstützenden, in verschiedenen Städten verwurzelten | |
Fachleuten von mannigfaltiger Kompetenz. Neun Kolleg*innen aus Leipzig, | |
Bremen, Hamburg, Hannover, Bremerhaven und Wien sind dabei und decken | |
Bereiche wie Regie, Dramaturgie, Bühnen- und Kostümbild, Videokunst, | |
Produktionsleitung, Schriftstellerei sowie Theaterpädagogik ab. Zwei Männer | |
und sieben Frauen. Sie wollen gegen das alte „patriarchale | |
Stadttheatersystem“ neue Formate ohne festgetackerte Sitze in vielartigen | |
Räumen entwickeln. | |
Prunk & Plaste ist ein virtuelles Theaterhaus der freien Szene, nur ohne | |
Performer, die müssen für die eigenständig entwickelten Projekte noch | |
hinzuengagiert werden – ab Herbst auch für Live-Performances. „Das | |
Theaterschwein in uns ist einfach zu groß, wir brauchen ein co-präsentes | |
Publikum“, sagt Lehmann. Entsprechend hat sich das künstlerische Nonett per | |
Web-Konferenz bereits zu sieben kleinen Produktionsteams | |
zusammengeschlossen, die in den kommenden anderthalb Jahren jeweils ein | |
Konzept umsetzen wollen. | |
Dabei wird keine gemeinsame Ästhetik gesucht als Erkennungszeichen oder | |
Alleinstellungsmerkmal der Prunk-&-Plaste-Arbeiten. „Flexibler ist | |
schöner“, meint Lehmann. Aber noch überschreiten die Projekte nur längst | |
geöffnete Grenzen, wenn auch keck individuell. Ein interaktives Hörspiel | |
soll beispielsweise entstehen, während Lackmann eine Hochglanzzeitschrift | |
herausgeben möchte, die mit einem „weiblichen Blick“ auf „Mode, Macht, | |
Männlichkeit“ prunken soll. Ob man das Männermagazin auch tanzen oder in | |
eine Performance übersetzen kann, werde zudem untersucht. | |
Lehmann will derweil eine Textfläche von Peter Thiers inszenieren, die | |
Pornografiesucht thematisiert und entstigmatisieren soll. Bereits | |
finanziert sei eine Recherchearbeit für das Lofft in Leipzig. Vor dem | |
Hintergrund des Medea-Mythos sollen Migrantinnen ihre Fluchtgeschichte | |
erzählen und sich zum Heimatbegriff, zu Rassismus und Fremdenhass äußern. | |
Die Interviews will Lehmann in einer Video-Installation erlebbar machen. | |
## Anything goes | |
Wird die maximale Vielfalt der artifiziellen Entäußerungen zum Selbstzweck? | |
Gibt es wirklich nichts, was die neun mit Prunk & Plaste vernetzten | |
Kollegen eint? Doch, ihnen genüge transmediales, spartenübergreifendes | |
Theater nicht mehr, sie wollten alle crossmediale, spartenfluide, | |
nichtdisziplinäre Kunst machen, erzählt Lehmann. Die genutzten Medien und | |
Ausdrucksmittel würden nicht vermengt, sondern ihren Eigenwert behalten, | |
nebeneinander stehen und so in der Wirkung miteinander reagieren, erklärt | |
die Regisseurin. | |
Wie das aussieht, ist beim „Macbeth“-Film zu bestaunen. Ohne Proben, ohne | |
Absprachen durften 30 befreundete Künstler eine Szene des | |
Shakespeare-Dramas realisieren – nach dem Prinzip: Anything goes. Da | |
artikulieren Schauspiellaien aus zu neun Zehnteln dunklen Bildern ihren | |
Text, andere sprechen aufm Klo so vor sich hin oder halten beim Reden ein | |
Heiner-Müller-Buch hoch. Frühstückseier sind in Stop-motion-Tricktechnik | |
dabei, von einem Conchita-Wurst-Epigonen wird Lady Macbeth gegeben. | |
Erst nach einer halben Stunde wird erstmals Jux und Dollerei mit | |
schauspielerischem Können dargeboten, wenn Stephanie Schadeweg dem Trio | |
Macbeth, Lennox, Macduff in Monty-Python-Manier die Sporen gibt. Schon | |
stolpern Männer-auf-Anabolika-Puppen über den Bildschirm und zu Beginn des | |
dritten Aktes liegt Theater-Bremen-Mime Guido Gallmann nackt in | |
blassblutrotem Badewannenwasser. Es folgen noch Computerspielanimation und | |
betonungslos eingesprochene Passagen zu unscharfen Bildern von irgendwas. | |
Weder in der inhaltlichen Fokussierung noch der formalen Ausformulierung | |
hat irgendeine dieser Kraut-und-Rüben-Szenen mit irgendeiner anderen etwas | |
zu tun, die sich radikal widersprechende Bildentwürfe wirken wahllos | |
aneinandergereiht. | |
Da das mit der Narration so opulent gescheitert ist bei „Macbeth“, spielt | |
sie beim Nachfolgeprojekt kaum mehr eine Rolle. 29 Darsteller entwerfen | |
ihre Bildnisse des Dorian Gray, nicht der Oscar-Wilde-Roman ist Thema der | |
Clips, sondern eine möglichst buntes Sammelsurium von Sichtweisen auf den | |
Narzissmus, das Nicht-altern-Wollen, die Verführungsmagie des Scheins und | |
die Möglichkeiten der Kunst, als Spiegel der menschlichen Seele die | |
Geheimnisse der Oberflächen zu durchdringen. | |
18 Jun 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.prunkundplaste.de/ | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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