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# taz.de -- Kulturschaffende in der Coronakrise: Bedrohte Arbeitsplätze
> Zwei Mitarbeiter der Firma Mehr-BB Entertainment sind auf Wanderschaft,
> um auf das Corona-Desaster in der Kulturbranche aufmerksam zu machen.
Bild: Kulturwandernde: Viele Schritte führen von der Online- zur analogen Blase
Bremen taz | Für ihr Anliegen gehen sie auf die Straße. Wer etwas davon
erfahren will, dem werden keine Plakate zum Lesen, keine skandierten
Sprüche zum Interpretieren geboten, der muss mitlaufen und ins Gespräch
eintauchen. Die 26-jährige Laura Kuhlen und der 31-jährige Meik Gudermann
wandern mit Stock und Regenkapuze in drei Wochen 750 Kilometer von Köln
über Bremen nach Berlin, ihr „Pilgerweg durch die private
Kulturlandschaft“, wie sie sagen. Die Diversität der rund 220 privaten
Theater, 2.200 freien Spielstätten und 2.500 Amateurbühnen in Deutschland
sei bedroht durch den Lockdown.
„Es wird über Kaufprämien für Autos und Milliardenhilfen für Airlines
diskutiert, wir wehren uns buchstäblich mit den Füßen dagegen, dass dabei
die Kulturschaffenden vergessen werden“, so Gudermann am Halbzeit-Pausentag
in der Hansestadt. Sein Zwischenfazit: „30 Kilometer am Tag sind okay,
alles darüber hinaus ist eine Qual.“
Alles für die Kunst? „Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass
Hunderttausende Arbeitsplätze bedroht sind, von denen viele nicht wissen,
dass es sie gibt“, sagt Kuhlen. Wie ihr eigener und der von Kollege
Gudermann.
Angst haben sie um ihre berufliche Zukunft bei Mehr-BB-Entertainment, für
dessen Theaterangebote weniger die zeitgenössische Relevanz von Inhalten
und Ästhetiken eine Rolle spielt: Große Häuser sollen mit massenkompatiblen
Darbietungen gefüllt werden. Kuhlen ist Harry-Potter-Fan und hat sich bis
zur coronabedingten Absage ums Social-Media-Marketing der Hamburg-Premiere
von „Harry Potter und das verwunschene Kind“ gekümmert. Gudermann ist als
Social-Media-Manager in der Düsseldorfer Zentrale tätig.
Online leisten sie auch jetzt ihre Aufklärungsarbeit: Auf einem [1][Blog]
und [2][bei Instagram] stellen die beiden unterschiedlichste
Backstage-Berufe vor und die Theater, in denen sie auf ihrem Trip
übernachten. 3.900 Follower hat der Marsch durch die privaten Institutionen
bereits. Genutzt werden digitale Kanäle des Arbeitgebers. Der entließ
Kuhlen und Gundermann extra aus der Kurzarbeit, reaktivierte ihre
100-prozentige Lohnzahlung und legte noch eine Verpflegungspauschale drauf.
Das Wanderpärchen besucht auch die Spielstätten des Unternehmens. Die
bleiben laut Kuhlen geschlossen, bis 100 Prozent der Plätze wieder verkauft
werden dürfen. „Nur bei 70-prozentiger Auslastung spielt eine Aufführung
die Kosten ein.“
Was beider Engagement über eine Werbemaßnahme für Mehr-BB-Entertainment
honorig erhebt, ist das Bemühen, sich und ihren Online-Zuschauern einen
Einblick ins breite Spektrum der Theatermöglichkeiten zu verschaffen.
Überrascht waren sie über Bühnenmenschen, bei deren Arbeit der
Profitgedanke fehlt – etwa dass versucht wird, Zuschauer mit wichtigen
Inhalten zu konfrontieren, so wie die besuchte Theaterpädagogische
Werkstatt (TPW) in Osnabrück, die Stücke für Kinder entwickelt zum Schutz
vor sexueller Gewalt.
Dabei wird auch ein großer Unterschied deutlich: Während Festangestellte
der Stadttheater oder bei Mehr-BB-Entertainment dank Kurzarbeit vorerst
abgesichert sind, stehen Soloselbstständige der freien Szene seit Mitte
März vor einem Nichts an Einnahmen. Weswegen Kuhlen und Gudermann einen
Spendenaufruf der TPW in solidarischer Weise gleich mal geteilt und
verlinkt haben.
In Bremen logieren die Wanderer im Metropol-Theater. Das Gastspielhaus
kuratiert seit eh und je sein Programm nicht nach künstlerischen Kriterien:
Wer zahlt, darf spielen. Seit 13. März sind Besucher im 1.451-Plätze-Haus
aber verboten. Bis Ende August werden 52 avisierte Veranstaltungen nicht
stattgefunden haben. Für einige Ende 2020 terminierte Events würden zwar
offiziell Tickets verkauft, so Joost Osmers, Projektleiter Veranstaltungen.
Aber schon jetzt sei absehbar, dass auch dann viele angekündigte
Darbietungen nicht stattfinden werden.
Da ab kommende Woche immerhin 200 Besucher zugelassen sind, plant er
kleinere Formate und daher erstmals umfangreiche Kooperationen mit Bremer
Kollegen: Das Theaterschiff und das Fritz-Theater werden vorübergehend
einziehen und spielen. Wie lange kann das Metropol-Theater überleben? Sechs
Festangestellte gebe es, monatlich müssten Fixkosten von etwa 70.000 Euro
aufgebracht werden, auch bei fehlenden Einnahmen, so Osmers. „Mit den
zugesicherten Coronahilfemaßnahmen halten wir bis Ende des Jahres durch.“
Um die ökonomische Dimension zu verdeutlichen, beteiligt sich das
Metropol-Theater auch an der Aktion [3][„Night of light“], mit der die
Branche ihre Häuser vom 22. auf den 23. Juni rot anstrahlen will – als
Hinweis aufs Ausbluten der Szene. Der Schlachthof hat ebenfalls seine
Beteiligung kundgetan. Im Aufruf dazu heißt es, faktisch alle Unternehmen
aus den Bereichen Messebau, Veranstaltungstechnik, Event- und
Kongressmanagement, Catering, Bühnenbau, Messegesellschaft, Tagungshotel
hätten derzeit 80 bis 100 Prozent Einnahmeausfall. Zusammen mit der Kultur-
und Kreativwirtschaft seien bundesweit mehr als 300.000 Unternehmen
betroffen – über drei Millionen Menschen.
Auch die Härte des Wegs, der vor ihnen liegt, wollen Laura Kuhlen und Meik
Gudermann mit ihrer Wanderung verdeutlichen: Realer Muskelkater und analoge
Blasen können Symbole sein.
15 Jun 2020
## LINKS
[1] http://blog.eintrittskarten.de/category/Kulturkilometer/
[2] https://www.instagram.com/mehrentertainment/?hl=de
[3] https://night-of-light.de/
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
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