| # taz.de -- Videoperformance „Grusel Grusel“: Im Reich der Geistergurken | |
| > Performer:innen von Die Neue Kompanie und dem Hamburger Fundus Theater | |
| > hauchen Alltagsgegenständen unheimliches Leben ein. | |
| Bild: Eher lustig als schlimm: Die meisten Monster sind auch für Sechsjährige… | |
| Bremen taz | Am gruseligsten ist natürlich der „Pale Man“, dieser uralte | |
| Kinderfresser mit seinen schwarzen Klauen und den noch spitzeren Zähnen, | |
| dem ständig die Augen rausfallen. Denn als wäre dieses Ungeheuer nicht | |
| schon von wegen Erscheinungsbild hinreichend fies, funktioniert es dazu | |
| noch als beklemmende Allegorie auf Hunger, Verzweiflung und ihre grausamen | |
| Profiteure. Wer Guillermo del Toros Horrormeisterwerk „Pans Labyrinth“ | |
| gesehen hat, wird die groteske Alptraumgestalt nie wieder vergessen – und | |
| alle anderen lernen sie jetzt im Kindertheater kennen. | |
| „Grusel Grusel“ heißt die Videoperformance von Die Neue Kompanie, dem | |
| Hamburger Fundus Theater und der Schaubude Berlin. Unter Leitung von | |
| Ekaterina Statkus und Helen Schröder haben sich die Performer:innen 26 | |
| Monster vorgenommen und sie zu einem ABC des Schreckens aufgestellt. Von A | |
| wie Argus bis Z wie Zombie werden mehr oder weniger klassische | |
| Schreckgestalten in kurzen Stop-Motion-Filmen vorgestellt: gebastelt aus | |
| Haushaltsgeräten, Gemüse und Plunder – eigentlich mehr lustig als schlimm | |
| für Menschen ab sechs. | |
| Ein Testgucker aus der Zielgruppe befand dann auch gar nicht das eingangs | |
| beschriebene Ungetüm am aufregendsten, sondern die irische Todesfee | |
| Banshee: ein Fahrradhelm mit Blumenaugen, blonder Perücke und einem | |
| Bananenmund, aus dem gelegentlich eine Salamischeibe als Zunge baumelt. | |
| Die Geschichten sind kurz und knackig und verschwinden bald hinter der | |
| kunstvoll-absurden Bauweise der Figuren und der handgemachten | |
| Animationstechnik. Das ist wohl auch so gewollt, wo die Macher:innen ihren | |
| kürzlich online gestellten Trickfilm ja schließlich als Performance | |
| verstanden wissen wollen. | |
| Hierin liegt wohl auch das Geheimnis der eigenwilligen Schönheit von | |
| „Grusel Grusel“: Wo in der Stop-Motion der Film im schnellen, aber | |
| sichtbaren Sprung von Standbild zu Standbild Fahrt aufnimmt, sind jene | |
| Menschen zugleich sonderbar an- und abwesend, die ihre Objekte hier immer | |
| wieder neu arrangieren und ihnen somit Leben einhauchen. | |
| Nicht von ungefähr ist das künstliche Leben ein Kernthema gerade der | |
| unheimlicheren Phantastik vom Pygmalionmythos über E.T.A. Hoffmann bis zu | |
| Star Treks jüngster Androiden-Revolte. Auch die Theorie hat sich damit | |
| immer wieder beschäftigt, wenn etwa Freud sich höchst lesenswert mit der | |
| Frage herumschlägt, „unter welchen Bedingungen das Vertraute unheimlich, | |
| schreckhaft werden kann“. | |
| Und eben darum geht es bei Die Neue Kompanie nun zunächst auf | |
| handwerklicher Ebene. Kurz gesagt: In diesem Bestiarium wird spielerisch | |
| (und tatsächlich ausgesprochen lustig) das Horrorwissen ganzer Generationen | |
| mobilisiert und wer weiß: beim Einsortieren ins Kinderbuch-ABC ja | |
| vielleicht auch die eine oder andere Angst gezähmt. | |
| Erstaunlich egal ist dabei, ob man „Grusel Grusel“ nun als aus Banalem | |
| improvisierte Monsterschau, oder umgekehrt als die Verzauberung des Alltags | |
| anschaut. Für die kribbelige Atmosphäre ist wohl beides wichtig – als | |
| bewegten sich die tradierten Geschöpfe zwar höchstpersönlich in unserer | |
| Alltagswelt, dort aber eben immer knapp außerhalb des vertrauten | |
| Sichtfelds, in der Abstellkammer, oder unter dem Bett. | |
| Diese Entrückung ins Zwischenreich macht auch vor den Erzähler:innen nicht | |
| halt, die zum Anfang der Episoden auftreten und ihre Monster in | |
| Alliterations-übersättigten Versen vorstellen. Auch sie treten ausdrücklich | |
| als Bilder in Erscheinung, als grob kollagierte Fotos sich bewegender | |
| Münder und Augen. | |
| Mit diesem Effekt dürfte auch zu tun haben, dass die alte | |
| Stop-Motion-Technik selbst im millionenschweren CGI-Kino nie ganz | |
| ausgestorben ist. Man denke an Tim Burtons „Nightmare before Christmas“ | |
| oder an den deutlich frischeren, vielfach preisgekrönten „Anomalisa“ von | |
| Charlie Kaufman und Duke Johnson. Retro-Charme ist dabei nur ein Gimmick, | |
| tatsächlich geht es um diese extreme Distanz zur künstlerischen Bildebene | |
| bei maximaler Konkretheit ihrer gegenständlichen Zutaten. Um das Vertraute | |
| also, und wie es einem fremd wird. | |
| Dabei gehen die einzelnen Episoden von „Grusel Grusel“ sehr unterschiedlich | |
| mit dem profanen Material um. Der Fahrradhelm kriecht zum Beispiel sehr | |
| dinglich durch die Wohnung. | |
| Die „Mittagsfrau“ hingegen, ein Naturgeist, der Bauern auf bestellten | |
| Feldern dahinrafft, als zweidimensionales Bild aus wunderschön arrangierten | |
| Lebensmitteln: Sonnenstrahlen aus getrockneten Nudeln, Figuren aus | |
| Hülsenfrüchten, Stern‑anis, und Lakritzschnecken – verarbeitete | |
| Naturprodukte, deren Form sich bald in einem ornamentalen Spiralmuster | |
| auflöst. Vielleicht ist das Wirbelwind, als der die slawische Sagengestalt | |
| mitunter dargestellt wird, sicher aber auch ein poetisches Bild für den | |
| Kampf zwischen Natur und Landwirtschaft. | |
| Apropos slawisch: Am Ende ist „Grusel Grusel“ auch eine hübsche Weltreise, | |
| vorbei an irischer Banshee, griechischer Charybdis und dem koreanischen | |
| Ungeheuer Xiezhi. Und das ist bei aller Gänsehaut und spaßigen Tricks | |
| vielleicht die schönste Pointe: dass auf der ganzen Welt, wirklich jede und | |
| jeder ein Gespenst im Schrank hat. | |
| 12 Jun 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan-Paul Koopmann | |
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