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# taz.de -- Literaturexpertin über Krimis: „Immer die gleiche Polizeiarbeit�…
> Krimis sind nie einfach Unterhaltung. Sie prägen unser Verständnis von
> Wahrheit und Gerechtigkeit, sagt Kulturwissenschaftlerin Sandra Beck.
Bild: Ice-T gilt als Pionier des Gangsta-Rap. In der Serie „Law & Order“ is…
taz : Frau Beck, in den letzten Jahren wurden viele Videos, die
Polizeigewalt zeigen, in den sozialen Netzwerken öffentlich gemacht. In
Polizeiserien ist diese Gewalt selten Thema. Warum?
Sandra Beck: Das hat zwei wesentliche Gründe: Der eine betrifft die
[1][Produktionsbedingungen für diese Formate]. Wer schreibt Drehbücher? Wer
finanziert das? Wer führt Regie? Wer gibt die Serien in Auftrag? Aber ganz
massiv auch: Welche Expert*innen werden im Vorfeld konsultiert, um diese
Fiktionen zu entwickeln? Das Genre befragt nämlich auch oftmals
Polizist*innen, weil es den Anspruch hat realistisch zu sein. Der andere
große Komplex ist die Erzählstruktur.
Wie wird in Polizeiserien erzählt?
Sowohl Täter*innen als auch Ermittler*innen übernehmen im Krimi
eigentlich nur eine bestimmte Funktion. Die Täter*innen verursachen eine
Störung, das ruft die Ermittler*innen auf den Plan, die versuchen, diese
Störung zu heilen, oder zumindest, das Taträtsel zu lösen. Das klassische
Erzählprinzip ist: Wer war es und warum? Um diese zentralen Rätselfragen zu
lösen, greifen Krimis gezielt darauf zurück, dass sie die Erzählperspektive
sehr eng an die Perspektive der Ermittler*innen zurückbinden.
Wir lernen also, Empathie für die Seite der Polizist*innen zu entwickeln?
Ja, auch weil die Seite der Täter*innen kaum gezeigt wird. Bis wir alle
liebenswerten Eigenheiten von Adrian Monk, Ermittler aus der Serie „Monk“,
und die Art und Weise, wie er seine Ermittlungen führt, kennengelernt
haben, vergeht so viel Zeit, dass den Täter*innen kaum mehr Erzählraum
gegeben werden kann.
In [2][Ihrem Essay mit dem Titel „Die zwei Seiten von Law & Order – Über
die kulturelle Diskrepanz von Bildern“] schreiben Sie, die Erzählstruktur
der Krimis „ist darauf zugeschnitten, Zuschauer*innen zu überzeugen, sie
würden als Teil der Polizei ähnlich denken, fühlen und handeln“. Was steckt
dahinter?
Ermittler*innen bekommen in aktuellen Krimiserien immer mehr Raum für ihre
persönlichen Geschichten. Es sind traumatisierte, versehrte Figuren, die
uns da präsentiert werden. Befunde aus der Emotionsforschung zeigen: Je
detaillierter Figuren in ihrem Handeln vorgestellt, auch psychologisch
nachgezeichnet werden, desto tiefer werden wir als Zuschauer*innen in
diese erzählte Welt verstrickt. Polizeiserien haben einen gleichbleibenden
Cast von Ermittler*innen, während das Gegenüber, die Täter*innen, jede
Folge aufs Neue entdeckt werden. Ermittler*innen werden uns bekannter,
wir kennen deren Namen, deren Biografien und psychologische Belastungen.
Was folgt daraus?
Wir als Zuschauer*innen werden in die Lage versetzt, den emotionalen
Zustand von Polizist*innen zu verstehen und ihren Blick auf die Welt zu
übernehmen. Und wir können uns rational erklären, warum sie handeln, wie
sie handeln. Und empfinden eine gewisse emotionale Verbundenheit mit
ihnen.
Welche Funktion übernehmen Täter*innen?
Krimis konzentrieren sich immer auf die Wahrheitsfindung. Wie wird die
Wahrheit der Tat herausgefunden? Wie werden Schuldige ermittelt? Das lässt
sich so weit auf die Spitze treiben, dass Täter*innen in dieser erzählten
Welt gar nicht mehr vorkommen. Sie sind zwar Erzählanlass, aber sie
bekommen kaum eine Stimme oder psychologisches Profil. Wir sind es gewohnt,
wenig über ihre Gedanken- oder Gefühlswelt mitzubekommen, sondern sehen
Polizist*innen zu, die Täter*innen auf der Spur sind.
Hat diese Erzähllogik Einfluss darauf, wie reale Polizeiarbeit bewertet
wird?
Das ist nicht so leicht zu beantworten. Fiktionen entstehen nicht im
luftleeren Raum. Und sie werden auch nicht im Luftleeren rezipiert, sondern
sie prägen unsere Vorstellung von der Welt, davon, worauf wir uns verlassen
können, mit was wir rechnen müssen – ob es das Konzept der romantischen
Liebe ist oder eben die Polizeiarbeit. Ich glaube tatsächlich, dass es
einen Effekt gibt, weil in unterschiedlichen Besetzungen und
unterschiedlichen Kontexten immer die gleiche Vorstellung von Polizeiarbeit
gezeigt wird.
Welche Vorstellung ist das?
Diejenige, dass mit dem Eintreffen der Polizei alles gut wird. Ihr
Eintreffen steht für Sicherheit und Gerechtigkeit. Es markiert das Ende des
Verbrechens und den Beginn der Aufklärungsgeschichte, die mit einer
gerechten Strafe schließt.
Polizeiserien wie die US-amerikanische Produktion „Law & Order“, die seit
1999 mit 21 Staffeln erfolgreich ist, haben eine ziemlich diverse
Besetzung. Machen die etwas anders?
Der Cast von „Law & Order“ ist von Beginn an deutlich diverser als die
Besetzung der Mehrzahl der deutschen Politiktalkshows. Aber das Problem
ist, dass diese Diversität kaum die Perspektive bestimmt.
Was meinen Sie damit?
Diese Figuren verkörpern trotzdem den Blick der Polizei. Die Erzähllogik
von „Wir gegen die“ und „Wir als Rechtsinstanz und Verfolgungsinstanzen
gegen Täter*innen“ bleibt bestehen.
Das heißt, selbst wenn es Schwarze Figuren gibt, werden diese aus einer
weißen Perspektive erzählt?
Genau. Es bleibt die Logik einer weißen, patriarchalen Welt. Vorstellungen
von Rationalität, von Wahrheit, von Wissen und Erkenntnis werden in den
Serien als universale Wahrheit kommuniziert. Die Art und Weise, wie
Wahrheit ermittelt wird, bildet die mögliche Vielfalt nicht ab.
Krimiserien haben den Anspruch, realistisch zu erzählen. Es heißt dann oft,
die erzählten Geschichten stammten aus dem realen Leben. Erzählungen von
[3][Rassismus oder rassistischer Polizeigewalt] tauchen aber selten auf.
Wie kann das sein?
Es gibt diese krasse Kluft zwischen der erzählten Menschlichkeit der
Ermittler*innen und der wirklichen Unmenschlichkeit dokumentierter
rassistischer Polizeigewalt im echten Leben. Für Menschen, die
[4][Rassismus und rassistischer Polizeigewalt] ausgesetzt sind, ist diese
Kluft natürlich weitaus kleiner als jetzt aus meiner Perspektive als weiße
Europäerin. Ich würde aber nicht sagen, dass in Polizeiserien Fälle von
Rassismus zwangsläufig marginalisiert werden. Diese Fälle haben in Serien
aber immer Einzelfallstatus, und es stärkt im gewissen Sinne die Position
der Polizei.
Wie geschieht das?
Ermittler*innen und Polizist*innen werden als diejenigen vorgestellt,
die gesellschaftliche Konfliktfelder und rassistische Konflikte in der
Community lösen können und damit auch gesellschaftlichen Frieden stiften.
Weil sie auf einer Gleichbehandlung vor dem Gesetz beharrten.
Rassismus wird also nicht als strukturelles Problem dargestellt und
Polizist*innen dafür als Held*innen.
Was diese Serien immer wieder kommunizieren, ist, dass es kontraproduktiv
sei, wenn sich die Medien oder Bürgerrechtsgruppen einmischen, weil das
alles zu einer Emotionalisierung führe, zu Chaos, zu weiteren gewaltsamen
Übergriffen. Dass das sowieso alles nicht notwendig sei, weil sich die
Polizei eben kümmere. Dass Polizist*innen immer damit beschäftigt seien,
emotionale Reaktionen so weit zu unterbinden, dass der gesellschaftliche
Frieden nicht gestört werde. Polizeiarbeit wird da also als etwas
Versöhnendes und Heilendes dargestellt.
Wie sähe eine neue Ethik des Erzählens im Krimi aus?
Eines der grundlegenden Probleme ist, dass immer nur die eine Wahrheit
erzählt wird. Und die war lange an eine westliche, europäische, weiße
Perspektive gekoppelt. Polizeiserien können aber durchaus zeigen, dass es
eben nicht nur die eine Perspektive auf Wahrheit gibt. Oder den einen Blick
auf Täter*innen als diejenigen, die verfolgt, vor Gericht gestellt und
weggesperrt werden. Ich glaube, Serien sollten sich trauen, Zuschauer*innen
etwas zuzumuten: nämlich sich selbst infrage zu stellen und auf
spektakuläre Serienmörderplots, die wir sehr gut von uns weghalten können,
zu verzichten. Verbrechen müssen stärker in ihren sozialen Kontexten
beleuchtet werden, also die Frage gestellt werden: Welches Verbrechen ist
denn eigentlich symptomatisch für welche Gesellschaft? Das würde bedeuten,
dass wir den Fokus von Gewaltverbrechen wegnehmen und uns zum Beispiel
stärker der White-collar-Kriminalität zuwenden, also Straftaten, die in
privilegierten Gesellschaftsschichten vorkommen. Denn die werden bislang
nicht so oft thematisiert. Und wenn Krimiserien den Anspruch haben,
realistisch zu erzählen, müssen sie sich den Verbrechen zuwenden, die die
gesellschaftliche Realität bestimmen. Also auch rassistischer
Polizeigewalt.
14 Jun 2020
## LINKS
[1] /ARD-nach-der-Corona-Pause/!5691917
[2] https://www.54books.de/die-zwei-seiten-von-law-order-ueber-die-kulturelle-d…
[3] /Rassistische-Polizeigewalt-in-den-USA/!5692040
[4] /Busfahrer-ueber-Widerstand-in-Minneapolis/!5686259
## AUTOREN
Erica Zingher
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