| # taz.de -- Die Polizei in Frankreichs Kultur: Ziemlich beste Tölpel? | |
| > Polizeikritik hat in der französischen Popkultur eine lange Tradition – | |
| > anders als in Deutschland. Die Netflix-Serie „Lupin“ versucht da | |
| > anzuknüpfen. | |
| Bild: Assane Diop (Omar Sy) flieht über die Dächer von Paris | |
| [1][“All cops are berufsunfähig“]. Dieser Satz hat in Deutschland eine | |
| mittlere Regierungskrise ausgelöst, in Frankreich beschreibt er ein ganzes | |
| Genre. Es gibt eine jahrzehntelange französische Komödientradition des | |
| überforderten und unfähigen Polizisten, der sich von smarten Gaunern | |
| übertölpeln lässt. | |
| Einer der großen Helden dieses Genres ist der von Maurice Leblanc Anfang | |
| des 20. Jahrhunderts in einem Groschenroman entworfene Arsène Lupin. Lupin | |
| ist ein Gentlemandieb, dandyhaft, hoch gebildet, pazifistisch und gerecht. | |
| Er bestiehlt nur jene, die es verdient haben, und macht sich gern zum | |
| Komplizen der Polizei. Netflix hat diesen Stoff für die Serie „Lupin“ | |
| weiterentwickelt: Ein Mann aus dem Senegal wird verdächtigt, Juwelen | |
| gestohlen zu haben. Er ist unschuldig, aber da ihm angeboten wird, dass im | |
| Falle eines Schuldeingeständnisses sein Sohn bestens versorgt würde, | |
| gesteht er und begeht anschließend Suizid. | |
| Dieser Sohn, Assane Diop (Omar Sy), wächst als großer Bewunderer von Arsène | |
| Lupin auf. Er wird selbst ein Gentlemandieb, und als die Juwelen | |
| wiederauftauchen, ahnt er, dass sein Vater doch kein Verbrecher war. Er | |
| setzt alles daran, die Unschuld des Vaters zu beweisen – trickreich und | |
| verfolgt von einer Polizei, die sowohl korrupt ist als auch einfallslos. | |
| Assane Diop ist mit seiner Migrationsgeschichte und seinem Leben im Paris | |
| der Neuzeit eine moderne Adaption des klassischen Lupin. Die Grundhaltung | |
| der Serie aber – netter Gauner, überforderte Polizei – reicht weit in die | |
| französische Kulturgeschichte zurück. | |
| ## Gallionsfigur der Anarchisten | |
| Seine Wurzeln hat das Genre in den Romanen des 19. Jahrhunderts. Der | |
| Bestseller damals hieß „Les mystères de Paris“ von Eugène Sue und erschi… | |
| 1842 – eine Robin-Hood-Geschichte im zeitgenössischen Paris: Der adlige | |
| Rodolphe versucht in der Hauptstadt Gerechtigkeit herzustellen und lernt | |
| dabei die Lebenswelten des Proletariats und der Kleinkriminellen kennen. | |
| Mit Sue beginnt die Tradition der polizeikritischen populären Erzählung, | |
| die sich im frühen 20. Jahrhundert im Film fortsetzt. | |
| Louis Feuillade schafft ab 1911 mit „Fantômas“ eine düstere, | |
| surrealistische Variante dieses Topos: Fantômas ist ein Verbrechergenie, | |
| der im Dunkeln bleibt und grausam durch die Welt zieht. Anders als | |
| ehrenwerte Verbrecher zögert der originale Fantômas nicht, zu foltern und | |
| zu töten. Die Polizei ist machtlos, obwohl sich Kommissar Juve obsessiv in | |
| die Ermittlungen stürzt. Aber das Verbrechen ist immer schlauer, gewiefter | |
| und bewundernswerter als die Polizei. Am Ende stellt sich heraus, dass | |
| Fantômas der Zwillingsbruder des Kommissars ist: Verbrechen und Polizei | |
| sind zwei Seiten einer Medaille. | |
| Fantômas wurde zur Galionsfigur der Anarchisten; im Laufe der Jahrzehnte | |
| mit Dutzenden Fortsetzungen landete der Stoff da, wo das Kleinbürgertum den | |
| Anarchismus am liebsten hat: im Klamauk. Louis de Funès gab 1964 in seiner | |
| Adaption des Fantômas-Stoffes den überforderten Kommissar, der weder die | |
| technischen Mittel noch den Intellekt hat, um seinen Gegenspieler – einen | |
| ruchlosen Juwelendieb – zu besiegen. Die Filme sind auch „James | |
| Bond“-Parodien, die den amoralischen Verbrecher zum wahren Helden machen. | |
| Es war de Funès’ Durchbruch als Komiker. Die Filme waren auch so | |
| erfolgreich, weil sie das Misstrauen in die unfreiwillig komische, | |
| nichtsdestotrotz bedrohliche, zentralstaatlich gesteuerte und zutiefst | |
| korrumpierte Polizei kanalisierten. | |
| Noch pointierter gelang dies in den nuller Jahren der „Taxi“-Reihe | |
| (produziert von Luc Besson), in der der Taxifahrer Daniel Morales | |
| Verbrechen verhindert und die Unfähigkeit des Polizeiapparats offenlegt. | |
| Die Filme spielen in Marseille und zeichnen die aus Paris entsandten | |
| Polizisten als inkompetent und lächerlich. Das Lachen über die Polizei ist | |
| auch eine Befreiung von der bürokratischen Unterjochung, die von der | |
| übermächtigen Hauptstadt ausgeht. | |
| ## Rassismus als Spielerei | |
| Ein weiterer Schlüsselfilm in der popkulturellen Verarbeitung der Polizei | |
| ist ein kurzer Sketch der Gruppe Les Inconnus aus dem Jahr 1990. In | |
| zweieinhalb Minuten macht sie sich über Versatzstücke polizeilicher | |
| Krisenkommunikation lustig, sie wird heute immer noch zitiert. Die Parodie | |
| begleitet drei Polizisten, die fortwährend betonen, dass sie vor allem | |
| Menschen sind und einer moralischen Berufung folgen. Wegen ihrer | |
| Unfähigkeit zu kommunizieren, ihrem Fatalismus und ihrer Weigerung, Opfern | |
| von Gewalttaten zuzuhören, richten sie am Ende mehr Schaden an, als ohne | |
| sie entstanden wäre, und werden dafür – natürlich – nicht belangt. Zwar | |
| lässt der Sketch das Thema Rassismus aus. Trotzdem spiegelt sich hier die | |
| selbstherrliche Unangreifbarkeit der Polizisten wider, die mit den seit den | |
| 80ern in den Vorstädten wiederkehrenden Unruhen zusammenhängt. | |
| In Frankreich kommt es immer wieder zu polizeilichen Tötungen – | |
| insbesondere von rassifizierten Jugendlichen –, die juristisch derart | |
| wenige Konsequenzen für die Täter’innen haben, dass Amnesty International | |
| von einer „faktischen Straflosigkeit“ für tötende Polizist’innen sprach. | |
| Die Netflix-Neuverfilmung von „Lupin“ reißt Klassismus und Rassismus nur | |
| an. Immer wieder macht sich Assane Diop den Alltagsrassismus seiner | |
| Mitmenschen zunutze, um sie auszutricksen. Es ist allerdings eine der | |
| Schwächen der Serie, dass die Opfer Diops immer nur dann Rassist’innen | |
| sind, wenn es ihm in die Karten spielt. Dadurch macht die Serie Rassismus | |
| zu einer reinen Spielerei, und das unter einer strikt rassistischen | |
| Voraussetzung. Denn dieses Spiel, dieser Aufstieg, diese Assimilation | |
| gelingt Assane Diop nur deswegen, weil er sich derart von seiner eigenen | |
| Geschichte abschneidet, dass er darüber sogar den Vater verliert. | |
| Die erste Staffel der Serie endete abrupt nach fünf Folgen. Im Sommer | |
| sollen weitere erscheinen. Im Vergleich zu anderen französischen Filmen und | |
| Serien, die die Polizei der Lächerlichkeit preisgeben, ist „Lupin“ bisher | |
| eher zurückhaltend. Vergleicht man „Lupin“ allerdings mit deutschen | |
| Produktionen, fällt der große Unterschied auf. Was hierzulande über die | |
| Polizei im Serienprogramm läuft – von „Notruf Hafenkante“ bis zum „Tat… | |
| –, [2][überhöht die Polizei], macht sie entweder zu gebrochenen Helden, die | |
| an der Elendigkeit der Welt zugrunde gehen, oder zu Halbgöttern, die mit | |
| Mut und Verstand gegen mächtige Bösewichte siegen. | |
| Zwar gibt es international auch immer wieder Versuche, sich dem Thema | |
| komödiantisch zu nähern, wie zum Beispiel die Netflix-Produktion „Brooklyn | |
| 99“. Aber auch diese Serien zielen auf ein komplizenhaftes Lachen der | |
| Zuschauer’innen, das letztlich Sympathien ausdrückt. Das Ergebnis ist, | |
| wie es die Kulturwissenschaftlerin Sandra Beck [3][gerade im taz-Interview | |
| sagte], „eine gewisse emotionale Verbundenheit“ mit Polizist’innen | |
| herzustellen. Lächerlich aber sollen Polizist’innen im deutschen | |
| Fernsehen fast nie sein – obwohl doch gerade ihre fortwährende Überhöhung | |
| in Filmen und Serien dazu einladen würde. | |
| 6 Feb 2021 | |
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| Frédéric Valin | |
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