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# taz.de -- Bildungsbericht 2020 vorgestellt: Ein verlorenes Jahr?
> Individuelles Lernen, kleine Klassen: Was die Schulen aus der Coronazeit
> mitnehmen können.
Bild: Home-Schooling für Anfänger*innen
Ein verlorenes Jahr sei dieses, klagte neulich die 16-jährige Tochter einer
Freundin. „Das sollte der Sommer meines Lebens werden!“ Geträumt hatte sie
von Tanzen und Küssen im Park – Corona schien dies durchkreuzt zu haben.
Tags darauf kam sie strahlend heim. „Mama, es ist Pandemie, das kommt in
die Geschichtsbücher – und wir sind dabei!“
Fiona hatte das getan, [1][was Psycholog*innen Reframing nennen]. Sie hatte
ihren Erfahrungen als Teenager im Lockdown einen neuen Rahmen gegeben, sie
umgedeutet. Sie schaute nicht mehr auf das, was ihr entging, sondern auch
auf das, was sie gewinnt. Reframing heißt nicht, sich etwas schön zu reden.
Fiona hat nicht behauptet, sie würde nicht unter den Einschränkungen
leiden. Sie hat ihre Perspektive erweitert.
So ließe sich auch auf die Schulschließungen der letzten drei Monate
blicken. Zweifellos haben die zu teils [2][kaum aushaltbaren Belastungen]
geführt, für Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen. Aber wäre jetzt nicht
auch die einmalige Chance zu fragen, was gut war in der Zeit ohne Schule
oder später mit dem „eingeschränkten Regelbetrieb“?
Fiona zum Beispiel fand den Unterricht in kleinen Gruppen toll. Warum fragt
man nicht systematisch Schüler*innen, was sie aus dieser Zeit mitnehmen?
Und analysiert, wie sich das Lernen unter Pandemie-Bedingungen auf den
Lernerfolg ausgewirkt hat – im Schlechtem wie im Guten?
Es macht einen Unterschied, ob 30 Kinder in einem Raum sitzen und die
Aufmerksamkeit der Lehrkraft verlangen oder aufgrund von Abstandsregeln nur
die Hälfte. Es ist möglich, dass Bildungsziele dadurch schneller erreicht
werden. In der Konsequenz könnte dies bedeuten, dass weniger
Unterrichtsstunden gegeben werden müssten. Kinder und Jugendliche hätten
dann wieder mehr Zeit für selbstbestimmtes Lernen, für eigene Interessen.
Weniger Stunden in der Schule bedeutet mehr Zeit zu Hause. Aber auch das
wurde während der vergangenen Wochen erprobt. Homeoffice und Homeschooling
war nicht nur Stress, sondern hat auch Familien näher zusammengebracht. Und
vielleicht gibt es jetzt Eltern, Väter insbesondere, die nicht zurück
wollen zu den Zeiten, in denen die Erwachsenen- und Kinderwelt strikt
voneinander getrennt waren. Die sich mehr Zeit mit ihren Kindern wünschen
und sie nicht wegorganisieren wollen in Kindergarten und Schule.
Der Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) scheinen solche Ideen
fremd zu sein. Sie teilte nach der Veröffentlichung des zwischen SPD und
CDU verabredeten Konjunkturpaktes vor zehn Tagen mit, zusätzliches Geld für
den Ausbau der Ganztagsschulen locker gemacht zu haben. [3][Und verkaufte
dies als „neue Perspektive“ für die „jungen Familien,] die in der
Coronakrise Außerordentliches leisten müssen“.
Das kann man auch so übersetzen: Dafür, dass ihr euch kaputt macht, habt
ihr danach Ruhe. Her mit der Schule bis 18 Uhr! Statt: 15-Stunden-Woche für
alle.
Dabei haben doch gerade die vergangenen Monate gezeigt, dass Lernen nicht
nur stattfindet, wenn in der Schule „Stoff bearbeitet“ wird. Sondern wenn
Kinder und Jugendliche den Umgang mit schwierigen Situationen üben, kreativ
werden müssen, weil auch Netflix irgendwann leer geguckt und Daddeln
langweilig wird.
Klar, nicht wenige werden sehr viel Zeit vor Monitoren verbracht haben. Und
nicht alle haben eigene Projekte verfolgt, die Eltern und
Bildungspolitiker*innen Freudentränen in die Augen treiben. Die Tochter
einer anderen Freundin betrieb ein Kinderradio. Das eigene Kind wollte
lieber spielen. Draußen, drinnen, etwas aufbauen, Comics lesen, klettern,
malen, sich mit dem Geschwisterkind streiten.
## Weniger Zeit in Schule
Ist das vertane Zeit, nur weil es dabei keine Inhalte nach den
Bildungsplänen der Länder aufnimmt? Oder lernt es vielleicht sogar besser,
wenn es weniger Zeit fremdbestimmt in der Schule absitzen muss?
Und offenbar – auch das war zu beobachten und sollte erforscht werden –
gibt es Kinder, die allein zu Hause besser lernen. Und möglicherweise hat
das nichts mit dem Einkommen und Bildungsgrad ihrer Eltern zu tun.
Solche Gedanken bringen hierzulande lahme Tischgesellschaften fast so gut
in Schwung wie die [4][Bemerkung, die Fremdbetreuung von Kleinkindern nutze
ausschließlich Eltern] – und nicht ihren Kindern. Dabei schaltete
ausgerechnet Deutschland schnell auf Homeschooling um, obwohl das hier,
wenn nicht gerade Pandemie herrscht, [5][anders als in fast allen anderen
europäischen Ländern strikt verboten ist]. Warum klebt vor allem die SPD so
an der Schulpflicht wie sonst nur am Mantra, die Ganztagsschule stelle
automatisch Chancengleichheit her?
## Heiß geliebtes Gymnasium
Die CDU wiederum muss sich fragen lassen, ob ihr heiß geliebtes Gymnasium
die Schulform ist, die Schüler*innen in der Ausnahmesituation am besten
versorgte. Darum müsste es jetzt gehen: Welchen Schulen, Lehrkräften,
Schüler*innen fiel die Umstellung leicht? Woran lag dies? Welche Ressourcen
konnten mobilisiert werden?
Der Blick auf Stärken und Fähigkeiten ermöglicht wie das Reframing, aus dem
Zustand des Leidens herauszukommen und gestaltend zu wirken.
Für das System Bildung, in dem und über das so viel gejammert wird wie
sonst nur über fehlendes Klopapier, hieße das, eine Vision zu entwickeln,
was Schule eigentlich soll, was Lernen ist. „Schule nach Corona darf nicht
Schule vor Corona plus Händewaschen sein“, das stand kürzlich in der Zeit.
Denn dann wäre es wirklich ein verlorenes Jahr.
Mehr über die Bilanz des Ausnahmezustands in den Schulen lesen Sie in der
gedruckten taz am Wochenende oder [6][hier].
12 Jun 2020
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Umdeutung_(Psychologie)
[2] /Kinder-in-der-Coronakrise/!5691595
[3] https://www.bmbf.de/de/karliczek-mit-investitionen-in-bildung-und-forschung…
[4] /Umgang-mit-Kindern-in-der-Coronakrise/!5678547
[5] https://www.bundestag.de/resource/blob/415424/dbc64afb565391f883ebe737ba444…
[6] /Unser-eKiosk/!114771/
## AUTOREN
Eiken Bruhn
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