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# taz.de -- Proteste während der Pandemie in Chile: Hunger in der Hauptstadt
> In Santiago de Chile leiden Bewohner*innen der Armenviertel unter den
> Ausgangssperren. Sie protestieren – denn der Staat lässt sie im Stich.
Bild: Demonstrierende in Santiago de Chile
Santiago taz | „Hambre“ (Hunger) steht in leuchtenden Großbuchstaben auf
einem Hochhaus im Zentrum von Santiago. Es ist eine Lichtprojektion des
Kunstkollektivs Delight Lab. Im Oktober, [1][als der Aufstand in Chile
begann], hatten sie das Wort „Dignidad“ (Würde) an die gleiche Stelle
projiziert. Der Anlass ist dieses Mal, dass die Bewohner*innen der
Armen- und Arbeiter*innenviertel von Santiago protestieren, weil sie
Hunger leiden. Wegen der strengen Ausgangssperren können sie nicht arbeiten
und haben keinerlei Einkommen.
Die Proteste beginnen am Montag in der Gemeinde El Bosque. Barrikaden
werden errichtet, Reifen angezündet, eine Metzgerei geplündert. „Das
Problem ist nicht die Quarantäne, sondern die Abwesenheit des Staats, der
sich nicht um sein Volk kümmert“, sagt einer der Protestierenden. „Wir
können nicht arbeiten, wir haben kein Einkommen, keine Lebensmittel und es
gibt keine Hilfe, was sollen wir denn machen?“, ein anderer. Sie tragen
Schutzmasken aus Stoff. Dass Menschenansammlungen die Verbreitung des
Coronavirus beschleunigen, wissen sie. Aber es sei eben die einzige
Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen.
Es dauert nicht lange, bis die chilenische Polizei, die Carabineros, mit
gerade neu gekauften Wasserwerfern anrücken, um die Menschen
auseinanderzutreiben. Auch Tränengasgranaten schießen sie auf die Menschen.
22 Personen werden festgenommen.
Am Abend brennen Barrikaden in weiteren Stadtvierteln, zwei Busse werden
angezündet. An den Fenstern schlagen die Menschen in der ganzen Stadt aus
Protest mit Löffeln auf leere Kochtöpfe. Die Gemeinde El Bosque wird jetzt
von Soldaten bewacht. „Die Hungrigen bitten um Brot, Blei gibt ihnen die
Miliz“, sang einst Violeta Parra. Heute steht dieser Satz wieder an den
Wänden Santiagos.
## Erkrankte müssen aus der Hauptstadt ausgeflogen werden
Die Regierung von Präsident Sebastián Piñera hat vor einer Woche eine
strikte Quarantäne über die Hauptstadt Santiago verhängt, weil das
Coronavirus sich rasant ausgebreitet hat. Mehr als 53.000 Menschen haben
sich bisher angesteckt, die Zahl der täglichen Neuinfektionen liegt
mittlerweile bei über 4.000. Es gibt kaum noch Intensivbetten in den
Krankenhäusern, weshalb Erkrankte aus der Hauptstadt in Krankenhäuser
anderer Regionen ausgeflogen werden.
Besonders viele Infektionen gibt es in den Armenvierteln von Santiago, weil
es dort nicht genug Wohnraum gibt und die Leute sehr beengt dicht an dicht
leben. Die Regierung hat außerdem ein Gesetz verabschiedet, dass es
Arbeitgeber*innen erlaubt, Arbeitnehmer*innen fristlos zu
entlassen oder ihren Vertrag ohne Lohnfortzahlung zu suspendieren.
Anderthalb Millionen Menschen haben seitdem ihre Arbeit verloren.
Am Mittwoch gehen auch in der Gemeinde La Pintana am südlichen Stadtrand
Santiagos die Menschen zum Protest und cacerolazo auf die Straße. Sie
schlagen auf leere Kochtöpfe, um Lärm zu machen. „Wenn uns nicht das Virus
tötet, tötet uns der Hunger“, steht auf einem ihrer Plakate. Sie werden
umringt von Spezialeinsatzkräften der Carabineros. „In unserem Viertel
leben bis zu acht Personen auf 35 Quadratmetern, da ist es unmöglich, die
Quarantäne einzuhalten“, sagt einer der Protestierenden.
„Wir haben sehr viele Infizierte, niemand hilft ihnen. Wir sind alleine.
Wir brauchen Lebensmittel, Medikamente, Masken, Desinfektionsmittel, um uns
zu schützen“, sagt eine ältere Frau. Ihr Schwiegersohn habe Covid-19 und
sei mit ihrer Tochter und zwei Kindern zu Hause. Als er das positive
Testergebnis erhielt, habe man ihn ohne weitere medizinische Versorgung
nach Hause geschickt. „Wir wissen nicht, ob meine Tochter und die Kinder
sich angesteckt haben.“
## Hilfspakete sind nicht überall angekommen
Präsident Sebastián Piñera hat zwar Hilfspakete mit Lebensmitteln
angekündigt, aber die sind bisher nicht überall angekommen. Und wenn sie
ankommen, werden sie die strukturellen Probleme der Menschen in Santiago
wahrscheinlich nicht lösen.
Die Mitglieder des Künstlerkollektivs Delight Lab haben in den letzten
Tagen Gewaltandrohungen erhalten. Sie wollten das Wort „Humanidad“
(Menschlichkeit) an ein Hochhaus projizieren, aber ein unbekanntes Fahrzeug
mit riesigen Scheinwerfern machte die Nachricht unlesbar.
22 May 2020
## LINKS
[1] /Demonstration-in-Chile/!5636231
## AUTOREN
Sophia Boddenberg
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