| # taz.de -- Peru im Corona-Lockdown: Virus der Reichen, Krise der Armen | |
| > Sehr schnell nach den ersten Corona-Fällen hat Peru dichtgemacht. Doch es | |
| > gibt Machtmissbrauch und Aushöhlung von Arbeitnehmerrechten. | |
| Bild: Soldaten gegen Corona: Ausgangssperre in Lima im April | |
| Lima taz | Sorgfältig schneidet Miguel Vidal, 36 Jahre, Zitronen in kleine | |
| Scheiben und gibt sie zu dem heißen Tee in seiner Thermoskane hinzu. | |
| Vitamin C und Wärme sollen schließlich helfen gegen das Virus, das | |
| Immunsystem stärken. Bloß nicht krank werden, bloß nicht ausfallen und | |
| ersetzt werden, jetzt, wo die Konkurrenz noch rasanter wächst und das | |
| ohnehin vorhandene Misstrauen unter KollegInnen durch die Ansteckungsgefahr | |
| mit Corona noch eine weitere Dimension bekommen hat. | |
| Im Moment überhaupt noch eine Arbeit zu haben ist bereits ein Privileg, in | |
| einem Land, in dem über siebzig Prozent der Bevölkerung in der | |
| Schattenwirtschaft arbeitet, im sogenannten informellen Sektor. Fliegende | |
| HändlerInnen, AutoputzerInnen, ObstverkäuferInnen, FahrerInnen, sie alle | |
| sind seit Wochen zu Hause. Der Hunger macht sich breit, in den vielen | |
| kleinen Wohnungen der Tagelöhner. | |
| Seit dem 16. März ist das Land im Ausnahmezustand, samt Fahrverbot und | |
| Ausgangssperre. „Obligatorische soziale Isolation für alle“, nennt das | |
| Staatspräsident [1][Martin Vizcarra]. Am 6. März wurde der erste Fall eines | |
| an Corona erkrankten Menschen in Peru bekannt, nicht einmal zehn Tage | |
| später war so gut wie alles dicht. | |
| Das Militär ist ausgerückt, Hubschrauber kreisen am Himmel von Lima, und | |
| besonders nach 18 Uhr, wenn absolute Ausgangssperre herrscht, heulen die | |
| Sirenen. Wer sich dann noch auf der Straße befindet und nicht einen sehr | |
| dringenden Grund samt Erlaubnisbescheinigung hat, kommt für eine Nacht ins | |
| Gefängnis. | |
| ## Präsident Vizcarra ist überaus populär | |
| Prävention und Eindämmung scheinen die einzige Hoffnung zu sein, in einem | |
| Land mit 32 Millionen EinwohnerInnen, von denen ein Fünftel nicht einmal | |
| Zugang zu Trinkwasser hat. Die hohe Bevölkerungsdichte in Ballungszentren | |
| sowie das starke gemeinschaftliche Zusammenleben sind weitere | |
| Risikofaktoren, die die Verbreitung des Virus fördern. In den | |
| Armenvierteln, in denen meist mehrere Generationen auf wenigen | |
| Quadratmetern zusammenwohnen, ist Abstand halten oder gar Isolation von | |
| Kranken schlichtweg unmöglich. | |
| Gerade wegen der schlechten medizinischen Infrastruktur wird das | |
| Krisenmanagement von Präsident Vizcarra viel gelobt. Laut Umfragen des | |
| Meinungsforschungsinstituts Ipsos liegt seine Popularität bei über 80 | |
| Prozent. Seine Konsequenz und sein schnelles Handeln zum Aufstocken | |
| medizinischer Ausrüstung könnten das Gesundheitssystem des Landes vor dem | |
| Schlimmsten bewahren. | |
| Während die Staatsführer Chiles oder vor allem [2][Brasiliens] die Epidemie | |
| noch als Panikmache belächelten, hatte Vizcarra schon längst das | |
| Alltagsverhalten seiner Bevölkerung neu geregelt: Eine Person pro Familie | |
| darf einkaufen gehen, Alte und Kinder will er überhaupt nicht mehr auf den | |
| Straßen sehen. | |
| Um dem Hunger entgegenzuwirken, haben laut Regierungsangaben 3,5 Millionen | |
| Haushalte aus den armen Bevölkerungsschichten erste Bonuszahlungen | |
| erhalten, weitere sind versprochen. Hilfsorganisationen fahren zudem | |
| allabendlich Essen in die Armenviertel von Lima. | |
| ## Ein Türöffner für den Machtmissbrauch | |
| In der fünften Woche des Ausnahmezustandes, am 14. April, stellte Vizcarra | |
| gemeinsam mit der gerade einmal 35 Jahre alten Wirtschaftsministerin Maria | |
| Antonieta Alva ein Rettungspaket für die nationale Wirtschaft vor, das mit | |
| über 25 Milliarden US-Dollar den wirtschaftlichen Folgen der Krise | |
| entgegenwirken soll. | |
| Doch der durch die sanitäre Krise vermeintlich gerechtfertigte autoritäre | |
| Führungsstil öffnet die Türen für Machtmissbrauch. Die Kultur staatlicher | |
| Gewalt ist in Peru tief verankert, jüngstes Beispiel ist das neue, in | |
| Zusammenhang mit den Notstandgesetzen in Kraft getretene Polizeigesetz, das | |
| Polizisten vor strafrechtlicher Verfolgung schützt, sollten sie „im Rahmen | |
| ihrer verfassungsrechtlichen Funktion“ Menschen verletzen oder sogar töten. | |
| Die Koordinationsstelle für Menschenrechte in Peru ([3][Cnddhh]) stuft das | |
| Gesetz als verfassungswidrig ein. Es schaffe den Grundsatz der | |
| Verhältnismäßigkeit ab und biete Platz für Willkür und Straflosigkeit. In | |
| einem Schreiben verlangt sie seine sofortige Rücknahme. | |
| Berechtigte Zweifel gibt es auch daran, ob die Boni für bedürftige Menschen | |
| wirklich dort ankommen, wo sie am dringendsten benötigt werden. Denn um in | |
| den Verteilerlisten überhaupt aufzutauchen, muss eine Person offiziell | |
| registriert sein. Die elektronische Erfassung aller Bürger ist jedoch ein | |
| Unterfangen, das die Regierung erst für Mitte 2021 auf der Agenda stehen | |
| hat. | |
| ## Arbeitnehmerrechte weiter ausgehöhlt | |
| Und wie so oft sind es auch jetzt wieder gerade die Rettungspakete für die | |
| Wirtschaft, die die ohnehin stark angespannte soziale Situation noch | |
| verschärfen. Zur Entlastung der Unternehmen bieten sie den Arbeitgebern | |
| weiteren Spielraum, sich außerhalb des ohnehin rudimentären | |
| arbeitsrechtlichen Rahmens zu bewegen. | |
| So erließ die Regierung im Rahmen des Notstandes ein Dekret, das | |
| Unternehmen erlaubt, Lohnzahlungen an Angestellte mit befristetem Vertrag | |
| auszusetzen – für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten. Dies bedeutet de | |
| facto für Millionen Angestellte die sofortige Kündigung, da ihre | |
| Arbeitsverträge ohnehin nur wenige Monate laufen. | |
| Die Sicherheitsfirma, für die Miguel Vidal arbeitet, hat die | |
| 12-Stunden-Schichten auf 24-Stunden-Schichten erweitert. Legitimation | |
| hierfür gibt ihr die nächtliche Ausgangssperre. Wer aufmuckt, kann gehen. | |
| Vidal als venezolanischer Migrant erst recht. Er schneidet lieber Zitronen | |
| in kleine Scheiben und gibt sie zu dem Tee in seiner Thermoskanne hinzu. | |
| Vitamin C und Wärme sollen schließlich helfen gegen das Virus. Und die | |
| Nacht verspricht, eine lange zu werden. | |
| Trotz des sich abkühlenden sozialen Klimas und der prekären | |
| Versorgungssituation stehen laut Ipsos weiterhin 79 Prozent der Bevölkerung | |
| hinter den Maßnahmen der Regierung. Denn die Angst ist groß. Peru ist ein | |
| Malarialand, auch Gelbfieber und Denguefieber fordern jährlich Dutzende | |
| Todesopfer. | |
| ## Erinnerungen an die Cholera | |
| Mit Krankheiten kennt man sich hier aus. Besonders die Älteren erinnern | |
| sich an die [4][Cholera-Epidemie vor 29 Jahren], an ihre rasante | |
| Verbreitung über Landesgrenzen hinweg, an die Erkrankten, denen man nicht | |
| helfen konnte, an ihre Toten, die man irgendwo verscharrte, Hauptsache weg | |
| aus dem Blick der Gesunden. | |
| Doch Corona ist anders. Corona ist keine „Seuche der Armen“, sondern eine | |
| Krankheit, die ihre Ursprünge in Kreisen der lokalen Eliten und reichen | |
| Touristen hat. Bei jenen, die es sich leisten können, um die Welt zu | |
| fliegen, die gut Versicherten und bestens Versorgten. Jene, die den Virus | |
| aus Italien, Frankreich oder Spanien einschleppen und ihn nicht selten als | |
| erstes an ihre Hausangestellten weitergeben. Jene, die sich in Listen ihrer | |
| Botschaften einschreiben können, um nach Hause gebracht zu werden. | |
| Martin Vizcarra hat den Ausnahmezustand und mit ihm die Ausgangssperre für | |
| weitere zwei Wochen bis zum 10. Mai verlängert. Die Sicherheitsfirma wird | |
| weitere MitarbeiterInnen entlassen. Leerstehende Gebäude brauchen weniger | |
| Schutzpersonal. Miguel Vidal schneidet Zitronen in kleine Scheiben und gibt | |
| sie zu dem heißen Tee in seiner Thermoskanne hinzu. Vitamin C und Wärme | |
| sollen schließlich helfen gegen das Virus, das Immunsystem stärken. | |
| 6 May 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Archiv-Suche/!5491190/ | |
| [2] /Corona-in-Bolsonaros-Brasilien/!5674157 | |
| [3] http://derechoshumanos.pe | |
| [4] /Archiv-Suche/!1724300/ | |
| ## AUTOREN | |
| Janina Strötgen | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Peru | |
| Martín Vizcarra | |
| Peru | |
| Peru | |
| Lateinamerika | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Peru | |
| Peru | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Abwahl des peruanischen Präsidenten: Sieg für die Korruption | |
| Martín Vizcarra ist vordergründig wegen Untreue gestürzt worden. In | |
| Wirklichkeit störte er die etablierten Machtstrukturen im Land. | |
| Perus Präsident abgesetzt: „Permanente moralische Unfähigkeit“ | |
| Perus Parlament setzt mit großer parteiübergreifender Mehrheit den | |
| Präsidenten Martín Vizcarra ab. Der Grund sind Korruptionsvorwürfe. | |
| Investigatives Netzwerk in Lateinamerika: Zusammen stärker | |
| Durch Corona wird grenzübergreifender Journalismus noch wichtiger. In | |
| Lateinamerika wird dieser jetzt vermehrt erprobt – mit ersten Erfolgen. | |
| Proteste während der Pandemie in Chile: Hunger in der Hauptstadt | |
| In Santiago de Chile leiden Bewohner*innen der Armenviertel unter den | |
| Ausgangssperren. Sie protestieren – denn der Staat lässt sie im Stich. | |
| Corona in Lateinamerika: Die soziale Zeitbombe | |
| Bis zu zwei Drittel der Bevölkerung in Lateinamerika lebt von der Hand in | |
| den Mund. Die Corona-Quarantäne wird für viele zur Überlebensfrage. | |
| Korruptionsverfahren in Peru: Keiko Fujimori zurück im Gefängnis | |
| Es läuft nicht gut für Perus rechte Oppositionsführerin. Erst verlor ihre | |
| Partei die Mehrheit im Parlament, jetzt muss Fujimori zurück in | |
| Untersuchungshaft. | |
| Parlamentswahl in Peru: Debakel für Opposition | |
| Die rechtspopulistische Fuerza Popular stürzt ab. Die anderen | |
| zentristischen Parteien dürften Schwierigkeiten haben, eine Mehrheit zu | |
| bilden. |