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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Volksgesundheit und Staatsräson
> Seit Jahrhunderten nutzen Staaten Epidemien, um ihre Macht auszuweiten.
> In Zeiten von Corona wittern nun auch Techkonzerne einen riesigen
> Datenschatz.
Bild: Drohnen überwachen die Ausgangssperre in Toulouse am 29. April
Der Gouverneur des Bundesstaates Western Australia darf potenziellen
Corona-Infizierten, die unter Quarantäne gestellt wurden, neuerdings
elektronische Armbänder verpassen. Wer sich in China Essen nach Hause
liefern lässt, bekommt auf seinem Smartphone nicht nur den aktuellen
Standort, sondern auch die Körpertemperatur des Kurierfahrers angezeigt.
Aber auch der Belieferte wird auf Schritt und Tritt überwacht, um sein
Ansteckungsrisiko zu ermitteln. Aufgrund dieser Daten wird ein
Risiko-Farbcode festgelegt, der darüber entscheidet, wer seinen
Arbeitsplatz, öffentliche Verkehrsmittel oder eine Wohnanlage betreten
darf.
In China werden Polizisten zudem mit Augmented-Reality-Brillen ausgerüstet,
die durch eine Wärmebildkamera in der Lage sind, fiebernde Menschen aus der
Menge herauszufiltern. Polinnen und Polen, die sich in Quarantäne befinden,
müssen per App regelmäßig ein Selfie an die Polizei schicken, das in den
eigenen vier Wänden aufgenommen wurde. In Neuseeland hat die Polizei eine
digitale Denunziationsplattform eingerichtet und fordert die Bürgerinnen
und Bürger auf, Verstöße gegen die Ausgangsbeschränkungen zu melden.
Die Situation mutet auf den ersten Blick paradox an: Die Regierungen, die
gegen das Virus weder Behandlungsmethoden noch genügend Intensivbetten,
Diagnosetests und Schutzmasken aufbieten können, reagieren auf die
Gesundheitskrise mit einer Sicherheitsoffensive und erklären die eigene
Bevölkerung zur Bedrohung, um diese dann vor sich selbst zu schützen. Die
Paradoxie ist allerdings nur vordergründig. Schon seit Jahrhunderten werden
Epidemien genutzt, um die Macht des Staates auszuweiten und neue
Polizeimethoden einzuführen.
Dass man einer Krise der Volksgesundheit mit dem Instrumentarium der
Sicherheitspolitik begegnet, wirkt in unserer Vorstellungswelt archaisch.
Der medizinische Fortschritt verhieß einen kontinuierlichen Rückgang der
großen Epidemien. Doch diese Rechnung hatte man ohne den Kapitalismus
gemacht, der durch die Zerstörung von Lebensräumen, die industrialisierte
Landwirtschaft und die Beschleunigung der internationalen Waren- und
Personenströme [1][die Verbreitung von Krankheitserregern befördert].
## Mit Algorithmen und Big Data gegen Pandemien
Im Kampf gegen das Wiederaufleben der epidemischen Infektionskrankheiten,
das seit den 1990er Jahren zu beobachten ist, setzen Akteure wie die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder die milliardenschwere Stiftung von
Bill und Melinda Gates auf Algorithmen und Big Data. Von der Auswertung
riesiger Datenmengen erhofft man sich eine Früherkennung von Krankheiten,
damit die Behörden ihre Gegenmaßnahmen vorausplanen und Krisen vorbeugen
können.1
Die Sars-CoV-2-Pandemie konnten diese Technologien leider nicht verhindern.
Von der Krise kalt erwischt, sahen viele Staaten keine andere Möglichkeit,
als jahrhundertealte drakonische Maßnahmen zu ergreifen. Wie der Historiker
und Demograf Patrice Bourdelais erläutert, war die Verhängung von
Ausgangssperren und Quarantäne „im 19. Jahrhundert das Markenzeichen
totalitärer Regime. Das liberale England empfahl damals neue Schutzregeln.
Die Passagiere ankommender Schiffe wurden ärztlich untersucht, die Kranken
in gesonderte Spitäler eingeliefert und die augenscheinlich Gesunden über
mehrere Wochen beobachtet.“ Aus dieser Zeit stamme auch die Idee, den
Kranken individuell zur Verantwortung zu ziehen. „Wenn er sich im
öffentlichen Raum bewegte, riskierte er ein Bußgeld oder eine mehrtägige
Gefängnisstrafe.“2
Die Verknüpfung von Volksgesundheit und Staatsräson ist kein neues
Phänomen. Doch im Zeitalter der Globalisierung gelten die Eingriffe in die
Bewegungsfreiheit nicht mehr nur für einzelne Städte oder Regionen, sondern
weltweit. Die Regierenden überbieten sich gegenseitig mit Technologien und
Sicherheitslösungen, wobei sie sich an Strategien orientieren, die die
chinesischen Behörden bereits seit Februar erproben.
Das Bewegungsverhalten und die sozialen Interaktionen in der Bevölkerung
werden überwacht, um Infektionsketten zu erfassen. Was bislang nur zur
Identifizierung und sozialen Kontrolle von Abweichlern eingesetzt wurden,
erklären die Staaten und ihre privaten Partner nun flächendeckend für
legitim.
Zukünftige Historiker werden sich beim Rückblick auf diese Zeit vielleicht
darüber wundern, dass die Regierungen darüber nachdachten, ob sie nicht der
gesamten Bevölkerung Tracking-Apps verordnen sollen, die die physischen
Kontakte jedes Einzelnen speichern. Die totalitäre Raffinesse dieser
Maßnahme hätte die paranoidesten Regimes des 20. Jahrhunderts vor Neid
erblassen lassen.
## „Es ist nur zu eurem Besten“
Das Argument der amtierenden Regierungen erinnert an die immer gleiche
Rechtfertigungsfloskel der Despoten: „Es ist nur zu eurem Besten.“ Dabei
ist noch nicht einmal gesichert, ob diese Maßnahmen, die Handynutzer vor
Ansteckungsrisiken warnen und Infektionsketten rekonstruieren sollen, ihren
Zweck erfüllen – zumal wenn sie freiwillig bleiben.
Zudem besteht die Gefahr, „dass durch die technologische Herangehensweise
andere Strategien vernachlässigt werden, die für die Bewältigung
gesundheitlicher Krisen wichtiger und letztlich entscheidend sind“, sagt
die Gesundheitswissenschaftlerin Susan Erikson von der kanadischen Simon
Fraser University.3 Sie verweist darauf, dass 2014 im Kampf gegen die
Ebola-Epidemie in Westafrika durch den „technologischen Machbarkeitswahn“
kostbare Zeit vertan worden sei.
Für die multinationalen Digitalriesen ist der Datenrausch indes ein
Glücksfall. Ende März nahm die Trump-Regierung Gespräche mit Google,
Facebook und anderen Unternehmen auf, um deren gigantische Datenbestände
für den Kampf gegen das Virus zu mobilisieren. Die Speerspitzen des
Überwachungskapitalismus, die seit Jahren in der Kritik stehen, entdecken
die Krise als Chance, um ihre toxischen Geschäftsmodelle salonfähig zu
machen und sich als natürliche Partner des staatlichen
Gesundheitsmanagements in Stellung zu bringen. Google und Apple, die sich
den Weltmarkt für mobile Betriebssysteme untereinander aufteilen, haben
bereits angekündigt, dass sie bei der Entwicklung von Tracking-Lösungen mit
den Behörden zusammenarbeiten wollen.
Die Krise ist für sie auch eine gute Gelegenheit, neue Allianzen mit
medizinischen Einrichtungen zu schmieden, um neue Tools zur Verarbeitung
großer Datenmengen zu entwickeln und etwa die Mittelzuweisung in den
zusehends kaputtgesparten Krankenhäusern besser zu steuern. Die
Big-Data-Branche trägt auf der einen Seite durch Steuerflucht zur
Schwächung des Gesundheitssystems bei und auf der anderen Seite profitiert
sie massiv von der Austeritätspolitik.
## Comeback des Staates
Auch wenn der Staat gerade ein unverhofftes Comeback erlebt und verspricht,
die Gesundheitssysteme besser zu finanzieren, könnte die Epidemie dazu
führen, dass die betriebswirtschaftliche Logik und die Auslagerung
wichtiger Aufgaben an die Digitalindustrie noch weiter um sich greifen. Der
britische National Health Service (NHS) etwa gab am 28. März bekannt, in
der Covid-19-Krise mit Amazon, Microsoft und dem kalifornischen Unternehmen
Palantir zusammenzuarbeiten. Palantir ist auf Datenanalyse spezialisiert
und dafür bekannt, dass es einen engen Draht zur CIA hat und die
amerikanischen Einwanderungsbehörden bei der Verfolgung von „illegalen“
Immigranten unterstützt.
Auch die großen Telekommunikationsanbieter sichern sich ihr Stück vom
Kuchen. Sie nutzen die Gesundheitskrise, um lautstark für ihre rechtlich
zweifelhaften Tools zur Analyse von Handyortungsdaten zu werben, die sie
seit Jahren im Rahmen von „Smart City“-Projekten den Kommunen schmackhaft
zu machen versuchen.
Seit Ausbruch der Epidemie veröffentlichen die Netzbetreiber Daten zum
Bewegungsverhalten der Bevölkerung. In Frankreich nutzen die Behörden und
die Medien diese Statistiken, um etwa die schwarzen Schafe an den Pranger
zu stellen, die sich entgegen der Anordnung nicht an ihrem Hauptwohnsitz
aufhielten. Neben den Bildern von überfüllten Bahnhöfe dienten diese Zahlen
auch dazu, ein noch nie dagewesenes Polizeiaufgebot zu legitimieren;
Hunderttausende Strafzettel wurden verteilt und neue Kontrolltechnologien
eingesetzt. Vielfach kam es zu Gewalt.
Auch auf Drohnen, die seit einigen Jahren in relativ begrenztem Umfang bei
der Überwachung von Demonstrationen zum Einsatz kommen, wird in der Krise
trotz vollkommen ungeklärter Rechtslage immer häufiger zurückgegriffen. Die
ferngesteuert Luftfahrzeuge, die sich der Staat für teures Geld von
privaten Anbietern leiht, sind mit Lautsprechern und Kameras bestückt. Sie
können Warnungen durchgeben oder Straßen und Grünflächen kontrollieren,
damit die Polizeistreifen am Boden die Übeltäter aufgreifen können, die
sich nicht an die Anordnungen halten. Im April veröffentlichte das
französische Innenministerium eine Ausschreibung für 650 solcher Geräte.
## Überwachungskameras in Parkanlagen
Der Polizei dienen sich mittlerweile unzählige Spezialfirmen an, die sich
auf dem boomenden Markt für die sicherheitstechnische [2][Überwachung
„intelligenter Städte“] tummeln. In Frankreich hat das Start-up Two-I den
Ordnungskräften angeboten, kostenlos seine Algorithmen für die
Echtzeitanalyse gigantischer Datenströme aus den Überwachungskameras in
Parkanlagen zu testen. So sollen Verstöße gegen die sozialen Abstandsregeln
registriert werden: „Mit unserer Technologie lassen sich
Menschenansammlungen orten, damit die Sicherheitskräfte präventiv
eingreifen können“, erläutert Mitbegründer Guillaume Cazenave.4 Die Grenze
zwischen Prävention und Repression zu überschreiten, überlässt er der
Polizei.
Zum Arsenal der computergestützten Eingriffe in die Bürgerrechte gehört
auch eine Technologie, die noch vor wenigen Monaten als Inbegriff der
chinesischen Überwachungsgesellschaft galt: die Gesichtserkennung. Zu
Beginn der Epidemie erklärte Frankreichs Staatssekretär für Digitales,
Cédric O, dass dieses Instrument, für das er sich massiv starkmacht,
„möglicherweise eine Reihe von Vorteilen für die öffentliche Ordnung, aber
auch für das Krankheitsmanagement bietet“.5
In Moskau, wo 100 000 Kameras rund um die Uhr den öffentlichen Raum
überwachen, werden per Gesichtserkennung Quarantänesünder herausgefiltert.
Und auch die New Yorker Polizei sieht sich absolut im Recht, wenn sie in
einer Epidemiesituation auf diese „kontaktlose“ Lösung setzt; dass sei
„hygienischer“, als ein Ausweispapier zu kontrollieren. Im Klartext heißt
das: Für das Ausufern der biometrischen Überwachung werden in Zukunft
gesundheitspolitische Argumente bemüht werden.
## Mittel des Antiterrorkampfs gegen Zivilbevölkerung
Und da wir uns ja „im Krieg befinden“, wie Präsident Emmanuel Macron Mitte
März in seiner Fernsehansprache betonte: Was spricht dagegen, auch die
Möglichkeiten des Antiterrorkampfs für den Kampf gegen das Coronavirus zu
mobilisieren? Am 14. März autorisierte Israels Premier Netanjahu den
Inlandsnachrichtendienst Schin Bet, eine bis dato geheim gehaltene Methode
zur Verhinderung von Selbstmordanschlägen für die Bekämpfung der Epidemie
einzusetzen. „Bisher“, so rechtfertigte er diesen Schritt, „habe ich es
vermieden, diese Mittel gegen die Zivilbevölkerung einzusetzen, aber wir
haben keine Wahl mehr.“6
Mit den Tools der israelischen Firma NSO, die sich auf Cyberspionage
spezialisiert hat und in mehrere Skandale um die Ausspähung von
Menschenrechtsaktivisten und Journalisten verwickelt ist, lassen sich
Telekommunikations-Metadaten und abgefangene Nachrichten analysieren. NSO
verknüpft all diese Daten miteinander und ordnet jeder Person einen
„Infektiositäts-Score“ auf einer Skala von 1 bis 10 zu. Rund ein Dutzend
weiterer Länder erproben dieses System derzeit.
Man braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie sich eine solche
Infrastruktur nach Abklingen der Coronakrise für weniger hehre Ziele der
politischen Überwachung umfunktionieren ließe. Von Krise zu Krise greift
die Sicherheitsgesellschaft unter dem Deckmantel von Staatsräson und
Public-private-Partnerships weiter um sich. Jeglicher Versuch
gesellschaftlicher Veränderung wird dadurch immer weiter erschwert.
1 Siehe Tim Eckmanns, Henning Füller, Stephen Roberts, „Digital
epidemiology and global health security: An interdisciplinary
conversation“, Life Sciences, Society and Policy, Bd. 15, Nr. 1, März 2019.
2 Patrice Bourdelais, „Le retour des dispositifs de protection anciens dans
la gestion politique des épidémies“, Extrême-Orient Extrême-Occident, Nr.
37, September 2014.
3 Susan L. Erikson, „Cell phones ≠ self and other problems with big data
detection and containment during epidemics“, Medical Anthropology
Quarterly, Bd. 32, Nr. 3, September 2018.
4 Le Journal des entreprises, Nantes, 25. März 2020.
5 Zitiert nach www.liberation.fr, 13. März 2020.
6 Times of Israel, Jerusalem, 14. März 2020.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
11 May 2020
## LINKS
[1] https://monde-diplomatique.de/!5668094
[2] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5602548
## AUTOREN
Félix Tréguer
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