# taz.de -- Woher kommt das Coronavirus? | |
> Viele Erreger von Infektionskrankheiten stammen von Tieren. Allerdings | |
> kommt selten zur Sprache, dass bei der Übertragung auf den Menschen die | |
> Zerstörung von Lebensräumen eine zentrale Rolle spielt. | |
Bild: Zibetkatzen auf einem Markt in Guangzhou | |
von Sonia Shah | |
Könnte es ein Schuppentier sein? Eine Fledermaus? Oder womöglich eine | |
Schlange? Der Wettlauf ist eröffnet, wer als Erster das Wildtier | |
identifizieren wird, von dem das Coronavirus stammt, offiziell als | |
Sars-CoV-2 bezeichnet. | |
Infolge des Virus, das die als Covid-19 bezeichnete Erkrankung auslöst, | |
wurden in China und anderen Ländern viele Millionen Menschen unter | |
Quarantäne gestellt oder in Sperrzonen von der Umwelt abgeschottet. | |
Natürlich ist es wichtig, das Rätsel der Herkunft zu lösen. Noch viel | |
wichtiger ist allerdings, zu erkennen, dass unsere zunehmende | |
Verwundbarkeit durch Pandemien eine tiefere Ursache hat: die immer raschere | |
Zerstörung von Lebensräumen. | |
Seit 1940 sind hunderte krankmachende Erreger in Regionen neu aufgetaucht | |
oder wieder aufgetaucht, wo manche von ihnen nie zuvor beobachtet wurden. | |
Das gilt für HIV, für Ebola in Westafrika, für das Zikavirus auf dem | |
amerikanischen Kontinent und eine Vielzahl neuer Coronaviren. Die Mehrheit | |
dieser Erreger (60 Prozent) sind tierischen Ursprungs. Einige stammen von | |
Haustieren oder Nutztieren, aber die meisten (mehr als zwei Drittel) von | |
Wildtieren. | |
Die Tiere können nichts dafür. Obwohl immer wieder Wildtiere als Ursprung | |
zerstörerischer Epidemien dargestellt werden,[1]ist die Annahme falsch, sie | |
seien besonders häufig mit todbringenden Erregern infiziert, die jederzeit | |
auf Menschen überspringen können. Tatsächlich lebt der größte Teil der | |
Mikroben in den Wildtieren, ohne ihnen im Geringsten zu schaden. Das | |
Problem liegt woanders: Durch die immer massivere Abholzung der Wälder und | |
die wachsende Urbanisierung haben wir diesen Mikroben Wege eröffnet, den | |
menschlichen Körper zu erreichen und sich entsprechend anzupassen. | |
Durch die Zerstörung der Lebensräume droht zahlreichen Arten die | |
Ausrottung,[2]darunter auch Heilpflanzen und Tieren, die in unseren | |
Arzneibüchern seit jeher ihren Platz haben. Den überlebenden Arten bleibt | |
nichts anderes übrig, als sich in die reduzierten Lebensräume | |
zurückzuziehen, die ihnen die menschlichen Siedlungen übrig lassen. Dadurch | |
erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie in engen Kontakt mit Menschen | |
kommen, und so können Mikroben, von denen sie besiedelt sind, in unsere | |
Körper gelangen, wo sie sich möglicherweise in tödliche Krankheitserreger | |
verwandeln. | |
Ebola ist ein gutes Beispiel dafür. Als Ursprung des Virus wurden | |
verschiedene Fledermausarten identifiziert. Eine 2017 durchgeführte | |
Untersuchung hat gezeigt, dass Ausbrüche des Virus häufiger in solchen | |
Gebieten Zentral- und Westafrikas vorkamen, in denen kurz zuvor Wälder in | |
großem Stil gerodet worden waren. Wenn man die Bäume der Fledermäuse fällt, | |
zwingt man sie, auf Bäume in unseren Gärten und auf unseren Farmen | |
auszuweichen. | |
Wie es dann weitergeht, ist leicht vorstellbar: Ein Mensch beißt in eine | |
Frucht, die von Fledermausspeichel bedeckt ist. Oder jemand tötet eine | |
Fledermaus, die in sein Haus geflogen ist, und kommt dabei mit dem Erreger | |
in Kontakt. So springen viele Viren, die für die Fledermäuse harmlos sind, | |
auf menschliche Populationen über – neben dem Ebola- auch das Nipah-Virus | |
(vorwiegend in Malaysia und Bangladesch) und das Marburg-Virus (in | |
Ostafrika). | |
Wenn dieses „Überschreiten der Artengrenze“ häufiger geschieht, besteht d… | |
Möglichkeit, dass sich die Mikroben aus tierischen Organismen an den | |
Menschen anpassen und so weiterentwickeln, dass sie zu Krankheitserregern | |
werden. | |
Auch bei Krankheiten, die von Mücken übertragen werden, wurde ein | |
Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Epidemien und Abholzung | |
festgestellt[3]– mit dem Unterschied, dass es hier weniger um den Verlust | |
von Lebensräumen als um deren Umgestaltung geht. Mit den Bäumen | |
verschwinden auch die Laubschicht auf dem Boden und die Wurzeln. Wasser und | |
Sedimente können leichter über solche schutzlosen, von der Sonne | |
ausgetrockneten Böden fließen und Pfützen bilden, in denen sich Mücken | |
vermehren. Laut einer Untersuchung in zwölf Ländern kommen Mücken, die für | |
den Menschen gefährliche Erreger übertragen, in abgeholzten Gebieten | |
doppelt so häufig vor wie in Gebieten mit intakten Wäldern. | |
## Fledermausspeichel im Obstgarten | |
Die Zerstörung der Lebensräume verändert auch die Populationsgrößen der | |
verschiedenen Arten, was wiederum das Verbreitungsrisiko eines | |
Krankheitserregers erhöhen kann. Das West-Nil-Virus beispielsweise wird von | |
Zugvögeln übertragen. Durch den Verlust von Lebensräumen und andere | |
Zerstörungen ist deren Zahl in Nordamerika in den letzten 50 Jahren um ein | |
Viertel zurückgegangen, wobei nicht alle Arten gleichermaßen betroffen | |
sind. | |
Sogenannte Spezialisten (für einen bestimmten Lebensraum) wie Spechte und | |
Rallen leiden stärker unter den Zerstörungen als Generalisten wie | |
Rotkehlchen und Krähen, die besonders gute Überträger sind. Deshalb ist das | |
Virus bei diesen Vögeln sehr verbreitet, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, | |
dass eine Mücke erst einen infizierten Vogel sticht und dann einen | |
Menschen.[4] | |
Genauso ist es bei Krankheiten, die durch Zecken übertragen werden. Im | |
Nordosten Amerikas fressen sich die Städte immer weiter in die Wälder und | |
vertreiben Tiere wie die Opossums, die die Population der Zecken unter | |
Kontrolle halten, während andere Arten wie die Weißfußmaus und der Hirsch | |
weiter gedeihen. So können sich durch Zecken übertragene Krankheiten wie | |
die Lyme-Borreliose, die in den USA erstmals 1975 auftrat, leichter | |
ausbreiten. In den letzten 20 Jahren wurden sieben neue Krankheitserreger | |
identifiziert, deren Überträger Zecken sind.[5] | |
Nicht nur der Verlust von Lebensräumen vergrößert das Risiko von | |
Krankheitsausbrüchen, sondern auch, wie wir mit Tieren umgehen, die für den | |
menschlichen Verzehr vorgesehen sind. Manche von ihnen gelangen in den | |
illegalen Handel oder werden auf sogenannten wet markets verkauft – | |
Märkten, auf denen lebendige (oder frisch geschlachtete) Tiere gehandelt | |
werden. | |
Dort sitzen verschiedene Tiere, die sich in der freien Natur wohl niemals | |
begegnet wären, in Käfigen nebeneinander, und die Mikroben können fröhlich | |
vom einen zum anderen wandern. Genau auf diese Weise konnte 2002/03 das | |
Coronavirus entstehen, das für die Sars-Epidemie (Schweres Akutes | |
Atemwegssyndrom) verantwortlich war, und möglicherweise ist dies auch der | |
Ursprung des neuen Coronavirus. | |
Die vielen Tiere in unserem System der industriellen Fleischproduktion | |
werden, bevor sie im Schlachthof enden, auf engstem Raum zusammengepfercht | |
gehalten: ideale Bedingungen für die Verwandlung von Mikroben in tödliche | |
Krankheitserreger. Wenn beispielsweise Vogelgrippeviren, deren Wirtstiere | |
wildlebende Wasservögel sind, in Geflügelmastbetriebe eindringen, mutieren | |
sie und werden sehr viel gefährlicher als in freier Wildbahn. | |
Dieser Vorgang erfolgt so zuverlässig, dass er sich im Labor reproduzieren | |
lässt. Ein Stamm des Influenza-A-Virus, H5N1, überträgt sich auch auf den | |
Menschen. Bei Tieren endet die Krankheit in über der Hälfte der Fälle | |
tödlich. 2014 musste in Nordamerika millionenfach Geflügel gekeult werden, | |
um die Ausbreitung einer anderen Variante von Influenza-A zu stoppen.[6] | |
Die Berge von Ausscheidungen, die unser Nutzvieh produziert, bieten | |
Mikroben tierischen Ursprungs weitere Gelegenheiten, Menschen zu | |
infizieren. Weil unendlich viel mehr Exkremente anfallen, als die | |
landwirtschaftlich genutzten Flächen in Form von Dünger aufnehmen können, | |
werden sie häufig in nicht abgedichteten Jauchegruben abgeladen – der | |
ideale Lebensraum für Enterohämorrhagische Escherichia coli. | |
Über die Hälfte der Tiere in US-amerikanischen Mastbetrieben sind damit | |
infiziert, aber das Bakterium schadet ihnen nicht.[7]Bei Menschen | |
verursachen solche Varianten von Colibakterien (wie Ehec), die nicht | |
natürlich im menschlichen Darm vorkommen, hingegen blutige Durchfälle und | |
Fieber und können zu akutem Nierenversagen führen. Und weil die | |
Ausscheidungen der Tiere nicht selten in unser Trinkwasser und unsere | |
Lebensmittel gelangen, sind allein in den USA jedes Jahr 90 000 Menschen | |
davon betroffen. | |
## Masern von Kühen, Grippe von Enten | |
Es passiert heute zwar immer häufiger, dass tierische Mikroben zu | |
menschlichen Krankheitserregern mutieren, aber das Phänomen ist nicht neu. | |
Erstmals aufgetreten ist es um die Zeit der neolithischen Revolution, als | |
der Mensch begann, Lebensräume in der Wildnis zu zerstören, um Ackerland zu | |
gewinnen und Tiere zu domestizieren. Im Gegenzug haben die Tiere uns einige | |
vergiftete Geschenke gemacht: Die Masern und die Tuberkulose verdanken wir | |
den Kühen, den Keuchhusten den Schweinen und die Grippe den Enten. | |
Dieser Prozess ging während der kolonialen Expansion Europas weiter: Im | |
Kongo ließen die belgischen Kolonisatoren Eisenbahnen und Städte bauen. | |
Dadurch ermöglichten sie es den Lentiviren, mit denen die einheimischen | |
Makaken infiziert waren, sich immer besser an den menschlichen Körper | |
anzupassen. | |
In Bangladesh drangen die Briten in die riesigen Mangrovenwälder der | |
Sundarbans vor, um Reisfarmen zu errichten. Dadurch gerieten die dort | |
lebenden Menschen mit den Bakterien in Kontakt, die sich im Brackwasser | |
aufhielten. Die Pandemien, die durch das Vordringen in der Kolonialzeit | |
ausgelöst wurden, verfolgen uns bis heute. Aus dem Lentivirus der Makaken | |
wurde HIV. Das Wasserbakterium der Sundarbans wurde unter dem Namen Cholera | |
bekannt und hat bis heute sieben Pandemien verursacht. | |
Zum Glück sind wir nicht nur passive Opfer dieser Vorgänge. Wir können auch | |
viel tun, um das Risiko krankmachender Mikroben zu mindern – etwa die | |
Lebensräume der Wildtiere schützen, damit sie ihre Mikroben nicht auf uns | |
übertragen. Die Initiative One Health der Weltgesundheitsorganisation etwa | |
hat sich genau dies zum Ziel gesetzt.[8] | |
Wir können für eine engmaschige Überwachung der Milieus sorgen, in denen | |
Tiermikroben besonders leicht zu Krankheitserregern für Menschen mutieren. | |
Dabei müssen wir versuchen, solche Mikroben zu eliminieren, die Zeichen der | |
Anpassung an den menschlichen Organismus zeigen, bevor sie Epidemien | |
auslösen. Genau darum kümmert sich seit zehn Jahren das Programm Predict, | |
das von der US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit (USAID) finanziert | |
wird. | |
Die Wissenschaftler von Predict haben bereits mehr als 900 neuartige Viren | |
identifiziert, deren Entstehung damit zusammenhängt, dass immer mehr | |
Regionen auf der Erde den Stempel menschlicher Eingriffe tragen. Zu diesen | |
Viren zählen auch bislang unbekannte Stämme des Coronavirus, die ebenfalls | |
dem Sars-Virus ähneln.[9] | |
Heute droht uns eine neue Pandemie, und das nicht nur wegen Sars-CoV-2. Die | |
Bestrebungen der Trump-Regierung, die Industrie von allen Umweltauflagen | |
und sonstigen Einschränkungen zu befreien, wird in den USA unweigerlich | |
dazu führen, dass immer mehr Lebensräume zerstört werden, und das | |
begünstigt wiederum die Übertragung tierischer Mikroben auf den Menschen. | |
Gleichzeitig schmälert die US-Regierung die Chancen, gefährliche Erreger | |
aufzuspüren, bevor sie sich verbreiten können: Im Oktober 2019 hat sie | |
beschlossen, das Programm Predict zu beenden. Und Anfang Februar 2020 hat | |
sie angekündigt, die Beiträge für das Budget der | |
Weltgesundheitsorganisation um 53 Prozent zu kürzen. | |
Der Epidemiologe Larry Brilliant hat einmal gesagt: „Virusausbrüche sind | |
unvermeidlich, Pandemien hingegen lassen sich vermeiden.“ Doch wir werden | |
Pandemien nur vermeiden können, wenn wir bei der Veränderung der Politik | |
ebenso entschlossen vorgehen, wie wir es bei den Eingriffen in die Natur | |
und das Leben der Tiere getan haben. | |
1↑ Siehe Kai Kupferschmidt, „This bat species may be the source of the | |
Ebola epidemic that killed more than 11,000 people in West Africa“, Science | |
Magazine, Washington, D. C./Cambridge, 24. Januar 2019. | |
2↑ Siehe Jonathan Watts, „Habitat loss threatens all our futures, world | |
leaders warned“, The Guardian, London, 17. November 2018. | |
3↑ Siehe Katarina Zimmer, „Deforestation tied to changes in disease | |
dynamics“, The Scientist, New York, 29. Januar 2019. | |
4↑ Siehe BirdLife International, „Diversity of birds buffer against West | |
Nile virus“, ScienceDaily, 6. März 2009, www.sciencedaily.com. | |
5↑ Siehe „Lyme and other tickborne diseases increasing“, Centers for | |
Disease Control and Prevention, 22. April 2019, www.cdc.gov. | |
6↑ „What you get when you mix chickens, China and climate change“, The New | |
York Times, 5. Februar 2016. In Deutschland wurde bereits im Frühjahr 2006 | |
massenhaft Geflügel in Zuchtbetrieben gekeult. | |
7↑ Cristina Venegas-Vargas u. a., „Factors associated with Shiga | |
toxin-producing Escherichia coli shedding by dairy and beef cattle“, | |
„Applied and Environmental Microbiology“, Bd. 82, Nr. 16, Washington, D. | |
C., August 2016. | |
8↑ Predict Consortium, One Health in Action case study booklet, EcoHealth | |
Alliance, New York, Oktober 2016. | |
9↑ „What we’ve found“, One Health Institute, ohi.sf.cdavis.edu. | |
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer | |
Sonia Shah ist Wissenschaftsjournalistin und Autorin unter anderem von | |
„Pandemic: Tracking Contagions, from Cholera to Ebola and Beyond“, New York | |
(Sarah Crichton Books) 2016. Dieser Text erschien zuerst in The Nation. | |
12 Mar 2020 | |
## AUTOREN | |
Sonia Shah | |
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