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# taz.de -- 25 Jahre Le Monde diplomatique: Google sucht dich
> Vor mehr als 20 Jahren kam Googles Suchmaschine auf den Markt. Heute
> steht das Unternehmen für eine neue Form des Überwachungskapitalismus.
Bild: Pokémon-Go-SpielerInnen in Hongkong
Es war im Juli 2016. Für David ging ein zermürbender Arbeitstag zu Ende.
Stundenlang hatte er in einem verstaubten Gerichtssaal in New Jersey, in
dem die Klimaanlage ausgefallen war, Zeugenaussagen zu einem
Versicherungsfall aufgenommen. Zu Hause angelangt kam ihm die kühle Luft
wie ein Bad im Ozean vor. Zum ersten Mal an diesem Tag konnte er tief
durchatmen. Er machte sich einen Drink und ging duschen. Kaum spürte er das
warme Wasser auf seinem schmerzenden Rücken, klingelte es an der Tür.
Draußen standen ein paar Teenager, die ihm ihre Handys entgegenstreckten.
„Hey, Sie haben da ein Pokémon in ihrem Garten. Das gehört uns! Ist es
okay, wenn wir hinters Haus gehen, um es zu fangen?“ David staunte: „Ein
was?“ Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon sie redeten. Aber er sollte
es bald erfahren.
An diesem Abend klingelte es noch viermal. Alle wollten unbedingt in seinen
Garten und wurden sauer, wenn er sie wegschickte. Sie unterhielten sich
aufgeregt, während sie auf ihren Smartphones sein Haus und seinen Garten
nach ihren Kreaturen aus der augmented reality absuchten. In dem Ausschnitt
der Welt, den sie gerade wahrnahmen, sahen sie nur ihre Pokémon-Beute,
sonst nichts.
Das Spiel Pokémon Go hatte Davids Haus mitsamt seiner Umgebung quasi
usurpiert und in eine riesige Menge von GPS-Koordinaten umgewandelt. Es war
eine ganz neue Art kommerzieller Freibeuterei: die faktische Enteignung
einer privaten Sphäre zum Zweck der Gewinnmaximierung mittels Umwandlung
der realen Welt in lauter entgrenzte leere Flächen, an denen sich andere
Leute bereichern dürfen.
Wann hört das endlich auf, dachte David verzweifelt. Und an wen kann ich
mich wenden, damit das unterbunden wird? Weder ihm noch den Pokémon-Jägern
kam der Gedanke, dass das, was sie zusammenbrachte, ein neues und ziemlich
mieses Geschäftsmodell war: der Überwachungskapitalismus.
## Suchmaschinenwelt ohne verlässliche Einnahmen
Bis 1999 hatte Google trotz seiner neuen Suchmaschinenwelt, trotz der
ständigen Weiterentwicklung seiner IT-Kapazitäten und trotz der tollen
Namen seiner Risikokapitalgeber noch keine Methode gefunden, um das Geld
der Investoren in verlässliche Einnahmen zu verwandeln.
Die Google-Nutzer lieferten zwar Rohmaterial in Form von Daten über ihr
Verhalten und ihre Vorlieben, aber diese Daten wurden nur gesammelt, um die
Geschwindigkeit, Genauigkeit und Relevanz der Suchergebnisse zu verbessern
und die Entwicklung von neuen Produkten wie Übersetzungen zu unterstützen.
Bei diesem heiklen Kräftegleichgewicht wäre es finanziell riskant und
vermutlich sogar kontraproduktiv gewesen, die Nutzer für die Suchdienste
zur Kasse zu bitten.
Suchergebnisse zu verkaufen hätte wiederum einen Präzedenzfall geschaffen,
der Google selbst hätte gefährlich werden können, denn man hätte Geld
verlangt für indexierte Informationen, die die eigenen Webcrawler von
Dritten unbezahlt übernommen hatten. Anders als etwa Apple, das mit dem
iPod Geld verdiente, hatte Google keinen Mehrwertspinner, nichts, was sich
verkaufen und in Einnahmen umwandeln ließ.
Bei Google war die Werbung damals aufs Unterdeck verbannt. Das sogenannte
AdWords-Team bestand aus gerade mal sieben Personen, die fast alle die
Abneigung der Gründer gegen Anzeigen teilten. Dies änderte sich abrupt im
April 2000, als die legendäre Dotcom-Economy in die Rezession abstürzte und
das Paradies Silicon Valley zum Epizentrum des Finanzbebens wurde. Die
Reaktion von Google auf das Finanzdesaster bewirkte die entscheidende
Mutation, die aus AdWords, Google, dem Internet und dem
Informationskapitalismus schlechthin ein erstaunlich profitables
Überwachungsprojekt machte.
Sinnbildlich für diesen Wandel wie für das Akkumulationsprinzip, das den
Erfolg von Google ausmacht, steht ein Patent mit dem Titel „Generierung von
Benutzerinformationen zur Verwendung in der zielgerichteten Werbung“.
Entwickelt wurde es von den drei besten Programmierern des Unternehmens,
die ihre Idee 2003 so bewarben: „Die vorliegende Erfindung könnte neue
Verfahren, Vorrichtungen, Nachrichtenformate und/oder Datenstrukturen
beinhalten, mit denen sich Informationen über Benutzerprofile ermitteln
lassen, die für das Schalten von Anzeigen genutzt werden können.“
## An individuellen Interessen orientierte Werbung
Google würde Verhaltensdaten von nun an nicht mehr ausschließlich zur
Verbesserung des Angebots für die Nutzer auswerten, sondern um die Gedanken
der Nutzer zu lesen: mit dem Ziel, die Werbung an ihren Interessen zu
orientieren, die sich wiederum aus ihrem Onlineverhalten ableiten lassen.
Neue Datensätze, die sogenannten Benutzerprofilinformationen (user profile
information, UPI), würden die Genauigkeit dieser Vorhersagen enorm erhöhen.
Wie gewinnt man die UPIs? Den Erfindern zufolge schlicht „aus
Rückschlüssen“. Mithilfe der neu entwickelten Werkzeuge lassen sich die
Informationen durch die Integration der Daten und die Analyse der
Suchmuster des Nutzers ermitteln, seiner Aufrufe bestimmter Seiten und
zahlreiche andere Signale seines Onlineverhaltens. Damit sind Informationen
zu gewinnen, die der Nutzer gar nicht persönlich preisgegeben hat, räumen
die Google-Forscher ein: UPIs „können selbst dann ermittelt (oder
aktualisiert oder erweitert) werden, wenn dem System keine explizite
Information gegeben wurde“.
Die Informatiker haben damit klar gesagt, dass sie gewillt und mithilfe
ihrer Erfindung auch in der Lage sind, sich über die Entscheidungsrechte
der Nutzer hinwegzusetzen. Damit sind Verhaltensdaten, die zuvor zur
Verbesserung der Qualität der Suchergebnisse ausgewertet wurden, zur
entscheidenden – und allein von Google nutzbaren – Ressource geworden, die
man zum Aufbau eines dynamischen Onlinewerbemarkts braucht. So war endlich
die ersehnte Wertschöpfung zu erzielen, die Google jene „nachhaltigen und
exponentiell wachsenden Gewinne“ ermöglichte, die es zum Überleben
brauchte.
Die Erfindung eröffnete ganz neue Möglichkeiten, Gedanken, Gefühle und
Absichten von Einzelpersonen oder Gruppen zu erschließen. Sie basiert auf
einer automatisierten Datenauswertung, die man mit einem Einwegspiegel
vergleichen kann, denn der geheime Zugriff auf die Verhaltensdaten einer
Person erfolgt ohne deren Wissen. Diese totale Abschöpfung der
Verhaltensdaten ermöglichte enorme Gewinne durch einen historisch
einmaligen Wettbewerbsvorteil auf den neuartigen Prognosemärkten, auf denen
risikoarme Voraussagen über das Verhalten der User eingepreist und
gehandelt werden. Der Einwegspiegel verkörpert die gesellschaftliche
Asymmetrie der Überwachung, die noch durch das Wissens- und Machtgefälle
verstärkt wird, das ein Resultat eben dieser Überwachungstechniken ist.
## Ausweitung der kommerziellen Überwachungssysteme
Der schnelle Erfolg von AdWords gab den Anstoß zu einer massiven Ausweitung
der kommerziellen Überwachungssysteme. Die Werbeauftraggeber forderten
immer mehr Klicks. Daraufhin wurde das System über die Google-Suchmaschine
hinaus erweitert und das gesamte Internet als Vehikel für die
zielgerichtete Werbung des Unternehmens genutzt. Damit wurden, wie
Google-Chefökonom Hal Varian erläutert hat, die verbesserten Fertigkeiten
bei der Datengewinnung und ‑analyse auf den Inhalt jeder Webseite und jede
Benutzeraktion angewendet, um aus diesen wesentliche Informationen zu
destillieren. Diese inhaltsorientierte, auf den patentierten Methoden
basierende Werbung bekam den Namen AdSense. Mit ihr erzielte Google 2004
einen Jahresumsatz von mehr als 350 Millionen US-Dollar; 2010 lag er schon
jenseits von 10 Milliarden Dollar.
Diese Wertschöpfung aus Verhaltensinformationen wurde ermöglicht durch das
Zusammenwirken von innovativer Datenforschung, materieller Infrastruktur,
Computermacht, algorithmischen Systemen und automatisierten Plattformen.
Die Zahl der Klicks schoss in ungeahnte Höhen. Die Arbeit an AdWords und
AdSense wurde für Google genauso wichtig wie die Arbeit an der eigentlichen
Suchmaschine. Indem die Klickraten zum Maßstab für Relevanz wurden,
entwickelte sich die Wertschöpfung aus Verhaltensinformationen zu einer
neuen Geschäftssparte, die eine flächendeckende Onlineüberwachung
voraussetzte.
Als Google 2004 an die Börse ging, erfuhr die Welt erstmals, wie lukrativ
diese neue Marktform ist. Für die epidemieartige Ausbreitung des
Überwachungskapitalismus sorgte dann die Google-Managerin Sheryl Sandberg,
als sie 2007 zu Facebook wechselte und das Unternehmen von einem sozialen
Netzwerk in einen Werbegiganten verwandelte. Damit wurde der
Überwachungskapitalismus, mit Google als Vorreiter, zum Standardmodell des
Informationskapitalismus im Internet, auf das Mitbewerber aus allen
Wirtschaftsbranchen aufsprangen.
Die abgeschöpften Verhaltensinformationen, auf denen das Erfolgsmodell von
Google beruht, kann man als „Überwachungsgut“ bezeichnen. Es ist der
unentbehrliche Rohstoff zum Erwirtschaften von „Überwachungserlösen“ und
deren Umwandlung in „Überwachungskapital“. Die innere Logik, die dieser
Form von Kapitalakkumulation zugrunde liegt, kann man am genauesten mit dem
Begriff Überwachungskapitalismus beschreiben, der das Fundament einer ganz
neuen Wirtschaftsordnung bildet.
## Nutzer werden zu Objekten der Wertschöpfung
Diese „Überwachungsökonomie“ zeichnet sich dadurch aus, dass die frühere
Beziehung zwischen der Firma und ihren Nutzern, die auf Gegenseitigkeit
beruhte, einem abgeleiteten Geschäftsmodell untergeordnet wird: Es geht
jetzt vor allem um das Abgreifen von Informationsmehrwert zu anderen
Zwecken. Damit sind die Nutzer nicht mehr die Subjekte der Wertschöpfung,
sondern Objekte, aus denen das Unternehmen Google jenen Rohstoff gewinnt
und sich aneignet, den es in seinen maschinellen Lernfabriken zu Prognosen
verarbeitet. Dieses Endprodukt wird dann an die eigentlichen Kunden
verkauft: Unternehmen, die Geld ausgeben, um auf dem neuen Terminmarkt für
Verhaltensinformationen mitzumischen.
Douglas Edwards, Googles erster Markenmanager, erinnert sich, wie die
Firmengründer 2001 eine Antwort auf die Frage suchten: „Was ist Google?“
Damals habe Google-Mitgründer Larry Page sinniert: „Wenn man das Produkt
kennzeichnen will, würde es wohl auf persönliche Informationen hinauslaufen
… Die Leute werden enorme Datenmengen erzeugen... Alles, was du je gehört,
gesehen oder erlebt hast, wird durchsuchbar. Dein ganzes Leben wird
durchsuchbar sein.“
Diese Vision ist das exakte Abbild der Geschichte des Kapitalismus:
Jenseits der Marktsphäre entstandene Dinge werden zur Ware deklariert und
beginnen so ein neues Leben. In seinem 1944 veröffentlichten Buch „The
Great Transformation“ beschreibt der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi die
große Transformation zu einer selbstregulierenden Marktwirtschaft. An deren
Anfang sieht er drei entscheidende geistige Erfindungen, die er als
„Warenfiktionen“ bezeichnet. Erstens: Das menschliche Leben könne der
Marktdynamik untergeordnet und als Arbeit wiedergeboren werden, die zu
kaufen und zu verkaufen sei. Zweitens: Die Natur könne in ein Marktgut
umgewandelt und als Grundbesitz oder Immobilie wiedergeboren werden:
Drittens: Der Güteraustausch könne in Gestalt von Geld wiedergeboren
werden.
In diesem Sinne definieren die Besitzer von Überwachungskapital eine vierte
fiktive Ware: Sie ist aus den Erfahrungswelten von Menschen zu gewinnen,
deren Körper, Gedanken und Gefühle so jungfräulich sind, wie es die reich
vorhandenen Wiesen und Wälder waren, bevor sie der Dynamik des Markts
unterlagen.
## Fabrikation von Vorhersagen
Persönliche Erfahrungen werden den Marktmechanismen des
Überwachungskapitalismus einverleibt, um als Benutzerverhalten
wiedergeboren zu werden: umgewandelt in Daten für die Fabrikation von
Vorhersagen, die gekauft und verkauft werden. Die neue Marktform enthält
eine klare Botschaft: Reale Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen ist
weniger lukrativ, also weniger wichtig, als Prognosen über ihr Verhalten zu
verkaufen.
Die erste Welle der Prognoseprodukte beruhte auf dem Mehrwert von
massenhaft abgeschöpften Internetdaten, die für die Onlinewerbung
verwertbar sind. Bei der nächsten Welle ging es nicht nur um die Quantität,
sondern auch um die Qualität der Prognosen, also ihre Zuverlässigkeit. Bei
diesem qualitativen Wettbewerb zeigte sich, dass die besten Vorhersagen
praktisch auf Überwachung hinauslaufen.
Eine weitere qualitative Entwicklung war die Nutzung von Verbundeffekten,
die neue Anforderungen an die gewonnenen Verhaltensdaten stellt. Das heißt,
die Ausbeute muss nicht nur ständig anwachsen, sondern auch immer
diversifizierter werden, und das gleich in zwei Dimensionen. Zum einen muss
die Datengewinnung von der virtuellen auf die reale Welt übergreifen. Die
Überwachungskapitalisten haben begriffen, dass ihre künftigen Einnahmen von
zusätzlichen Datenmengen abhängen. Zum Beispiel über unseren Blutkreislauf
und den Inhalt unserer Kühlschränke oder unsere Gewohnheiten im Schlaf- und
im Wohnzimmer, unseren Weg zur Arbeit oder unsere Parkplätze.
Zum anderen zielen die Verbundeffekte in die Tiefe, erschließen immer
privatere Dimensionen. Man geht davon aus, dass prognostisch noch
aussagekräftigere und damit lukrativere Verhaltensdaten aus den intimsten
Bereichen des Ichs zu gewinnen sind. Man will mehr über die
Persönlichkeitsstruktur herausfinden, über Stimmungen und Gefühle, Lügen
und Schwächen. Jeder Aspekt der Privatsphäre muss erfasst und in
Datenpartikel zerlegt werden, die auf dem Fließband der Produktion von
Gewissheiten weiterverarbeitet werden. Diese aggressive Datengewinnung aus
den Tiefen des privaten Alltags läuft großenteils unter dem falschen
Etikett der „Personalisierung“.
## Intelligenten Wodkaflaschen und Rektalthermometer
Ständig kommen neue Produkte auf den Markt, die Verhaltensdaten erheben,
verfolgen, aufzeichnen und übertragen sollen – von intelligenten
Wodkaflaschen bis zu mit dem Internet verbundenen Rektalthermometern. Der
Bettenhersteller Sleep Number bietet eine „intelligente Bettentechnologie
mit Schlafmustererfassung“. Das Unternehmen sammelt „biometrische und
schlafbezogene Daten“ von allen Benutzern des Betts, etwa über deren
„Bewegungen, Positionen, Atmung und Herzfrequenz“.
Der Überwachungskapitalismus hat es vor allem auf unsere Wohnungen
abgesehen. 2017 verkauften die Firmen Smart-Home-Geräte im Gesamtwert von
14,7 Milliarden Dollar, 2016 waren es noch 6,8 Milliarden. 2021 soll der
Umsatz die 100-Milliarde-Grenze übersteigen. Zu den Absurditäten der ersten
Generation gehören angeblich intelligente Zahnbürsten, Glühbirnen,
Kaffeetassen, Öfen oder Entsafter. Andere sind bedenklicher: eine
Überwachungskamera mit Gesichtserkennung für den Hausgebrauch, ein
Alarmsystem, das ungewöhnliche Vibrationen vor einem Einbruch aufzeichnet,
GPS-Ortungsgeräte für Innenräume, überall anzubringende Sensoren, die
Temperatur, Bewegungen und etliches mehr analysieren, oder
Cyborg-Kakerlaken, die Geräusche erkennen. Selbst das Kinderzimmer wird zur
Quelle für weitere Verhaltensdaten.
Angesichts der verschärften Konkurrenz haben die Überwachungskapitalisten
kapiert, dass es mit den Verbundeffekten nicht getan ist: Am sichersten
lassen sich Verhaltensweisen voraussagen, wenn man „an der Quelle“
eingreift und sie aktiv gestaltet.
Um solche „Eingriffsvorteile“ zu erzielen, wurden die maschinellen Abläufe
entsprechend konfiguriert. Heutzutage sind also die digitalen Verbindungs-
und Kommunikationsstrukturen für diesen Zweck in Beschlag genommen. Die
damit geschaffenen Eingriffsmöglichkeiten sollen Verhaltensprognosen
sicherer machen, indem sie die Nutzer im gewünschten Sinne beeinflussen,
sei es mit sanften Methoden wie „nudging“ und „tuning“, durch Aktivieru…
des Herdentriebs oder durch nackte Manipulation.
## Aufleuchtende Kaufen-Buttons
Dabei kann es sich um subtile Techniken handeln, zum Beispiel das Einfügen
einer bestimmten Formulierung in einen Facebook-Newsfeed oder das
„rechtzeitige“ Aufleuchten eines Kaufen-Buttons auf einem Handy. Es gibt
aber auch brutalere Methoden, etwa wenn das Auto nicht mehr anspringt, weil
die Versicherung nicht pünktlich gezahlt wurde.
Ein Softwareentwickler erklärt das Ganze so: „Wir lernen, wie man die Musik
schreibt, und dann sorgen wir dafür, dass die Leute zu der Musik tanzen.
Wir können den Kontext eines bestimmten Verhaltens arrangieren und auf
diese Weise Veränderungen erzwingen.“ Dafür nannte er zwei Beispiele: „Wir
können dem Kühlschrank sagen: ‚Verriegle die Tür, er soll jetzt nichts
essen‘; oder wir befehlen dem Fernseher, sich auszuschalten, damit Sie
ausreichend Schlaf bekommen.“
Da das Prognosegeschäft die Gewinnung von Verhaltensinformationen auf die
reale Welt ausweitet, sind auch Waren- und Dienstleistungsanbieter auf die
potenziellen Überwachungserlöse mittels Telematik scharf. Auf diese
Kombination von Telekommunikation und Informatik setzen etwa die
Kfz-Versicherer. Sie wissen seit Langem, dass das Risiko stark von
Verhalten und Persönlichkeit des Fahrers abhängt, aber sie konnten darauf
nicht reagieren. Der Unternehmensberater Deloitte empfiehlt ihnen deshalb
Risikominimierung – sprich garantierte Erträge – durch Überwachung und
Korrektur des Verhaltens ihrer Versicherungsnehmer in Echtzeit.
Das bedeutet, dass die Versicherer „das Verhalten der Versicherungsnehmer
direkt überwachen können, indem sie die Zeiten, die Orte und die
Straßenverhältnisse beim Fahren erfassen“. Oder auch verfolgen, „ob die
Fahrer stark beschleunigen oder mit hoher oder sogar überhöhter
Geschwindigkeiten fahren, wie stark sie bremsen, wie schnell sie abbiegen
und ob sie den Blinker setzen“.
## Verhaltensabhängige Versicherungstarife
Damit können die Versicherungsprämien, die früher die Unwägbarkeiten des
Alltags widerspiegelten, nunmehr „verhaltensabhängig“ innerhalb von
Millisekunden steigen und fallen – zum Beispiel auf der Basis exakter
Informationen darüber, wie schnell jemand nach einem hektischen Morgen, an
dem ein krankes Kind zu versorgen war, zur Arbeit gefahren ist.
Telematik soll also nicht nur wissen, sondern auch handeln, Druck ausüben,
etwas erzwingen. Verhaltensabhängige Versicherungstarife ermöglichen eine
Risikominimierung durch Prozesse, die das Verhalten auf maximale
Rentabilität trimmen sollen. Die Analyse des Nutzerverhaltens löst
Strafmaßnahmen aus: eine Tariferhöhung in Echtzeit, eine Vertragsstrafe,
eine Lenkradsperre oder eine Motorblockade; aber auch Belohnungen wie eine
Tarifermäßigung, Gutscheine oder Bonuspunkte. Das Beratungsunternehmen AT
Kearney geht davon aus, dass das Internet der Dinge „Beziehungen ausbauen“
kann, um eine „ganzheitlichere Verbindung“ mit den Kunden herzustellen und
„ihr Verhalten zu beeinflussen“.
Das Unternehmen Spireon ist auf die Ortung und Überwachung von Fahrzeugen
und Fahrern im Auftrag von Kreditinstituten, Versicherern und
Fuhrparkbesitzern spezialisiert. Sein Sicherheitsmanagementsystem Loan-Plus
sendet Ermahnungen an die Fahrer, wenn sie mit den Zahlungen in Verzug
sind, deaktiviert das Fahrzeug nach Überschreitung einer vereinbarten
Zahlungsfrist und lokalisiert es für den Gerichtsvollzieher.
Telematik verspricht eine neue Qualität von Verhaltenskontrollen.
Versicherungen können damit Auflagen für das Fahrverhalten vorgeben:
Anlegen der Sicherheitsgurte, Höchstgeschwindigkeit, Rastpausen, bis hin
zur Vermeidung aggressiver Beschleunigung, harten Bremsens oder überlanger
Fahrzeiten. Diese Parameter werden in Algorithmen übersetzt, die den Fahrer
kontinuierlich überwachen, bewerten und einstufen. Die Berechnungen lösen
umgehend Tarifkorrekturen aus. Der Datenpool wird außerdem für Prognosen
verwendet, die an Werbetreibende verkauft werden, da das System auch
Verhaltensmerkmale berechnet, die gezielte Werbung über die Handys der
Fahrer ermöglichen.
## Algorithmen entscheiden über Boni und Strafen
Der Chefstratege von Spireon hält das Patent für ein Verfahren, mit dem
Versicherer jedwede Unsicherheit weitgehend ausschalten können, indem sie
das Verhalten ihrer Kunden aktiv beeinflussen. Erstrebt wird damit eine
kontinuierliche Optimierung des Versicherungstarifs mittels Kontrolle der
vom Versicherer definierten Verhaltensparameter. Das System übersetzt sein
Wissen über das Verhalten der Kunden in Macht, die sich je nachdem in Boni
oder in Strafen äußert. Ein zweites Patent bezieht sich auf verschiedene
Algorithmen, die bei der Verletzung von Vorgaben automatisch negative oder
positive Sanktionen auslösen, wobei das Spektrum von einem
„Verstöße-Algorithmus“ bis zu einem „Bonus-Algorithmus“ reicht.
Als David an jenem Abend seine Haustür öffnete, ahnte er nicht, dass er und
die Pokémon-Jäger an einem Experiment über direkte Eingriffe ins
Nutzerverhalten teilnahmen. Sie waren sozusagen nur die Meerschweinchen für
den Großversuch eines Mannes, der sich die Welt zu eigen machen wollte,
indem er sie kartierte. John Hanke hatte 2001 die von der CIA finanzierte
Firma Keyhole gegründet, ein Satellitenkartierungsunternehmen, das später
von Google übernommen und in Google Earth umbenannt wurde. Hanke wurde
Produktmanager von Google Maps und Chef von Street View, ehe er 2010
innerhalb von Google ein eigenes Start-up namens Niantic Labs gründete.
Dabei ging es ihm um die Entwicklung von Spielen in einer „erweiterten
Realität“, bei denen Menschen erfasst und durch Gegenden getrieben werden,
die Street View bereits für seine Karten vereinnahmt hatte. Pokémon Go war
ein Produkt von Niantic Labs.
Pokémon Go funktioniert wie eine Art Schatzsuche auf Basis einer
Augmented-Reality-Technologie. Wenn man die Niantic-App heruntergeladen
hat, können die Spieler mithilfe von GPS und Handykamera virtuellen
Kreaturen nachjagen. Die Figuren erscheinen auf dem Bildschirm inmitten
einer realen Umgebung: im Garten eines ahnungslosen Mannes, auf einer
Straße, im Park, in einem Laden. Damit sollen die Spieler zu
„Abenteuerwanderungen“ in ihren Städten oder Vierteln animiert werden.
Pokémon Go kam am 6. Juli 2016 in den USA, Australien und Neuseeland auf
den Markt. In den USA wurde es binnen einer Woche zur umsatzstärksten App,
die genauso viele aktive Android-Nutzer erreichte wie Twitter. Keine sechs
Tage später forderte BuzzFeed-Reporter Joseph Bernstein die
Pokémon-Anwender auf, zu checken, welche Daten die App von ihren
Smartphones abgreift.
## In-App-Käufe von Spielzubehör
Am 13. Juli begann eine kritische Diskussion über die Datenerfassung. Hanke
räumte gegenüber der Financial Times ein, dass das Geschäftsmodell von
Niantic neben „In-App-Käufen“ von Spielzubehör noch „eine zweite
Komponente“ enthält, nämlich „das Konzept der gesponserten Standorte“. …
Unternehmen hatte es von vornherein auf Einnahmen von Unternehmen
abgesehen, die auf dem virtuellen Tableau als Standort auftauchen wollen,
weil das Spiel ja Passanten anzieht. Diese Sponsoren zahlten einen Betrag
für jeden Besucher, ganz ähnlich wie für jeden Klick auf einer
Google-Suchmaschinenwerbung.
„Gesponserte Standorte“ ist eine beschönigende Umschreibung für
Verhaltenstermingeschäfte, bei denen die Einnahmen von Niantic umso stärker
steigen, je mehr Personen zu bestimmten Orten gelotst werden. Das
funktioniert wie bei Google, das seine abgeschöpften Verhaltensdaten nutzt,
um Onlinewerbung auf bestimmte Personen loszulassen. Die Elemente und die
Dynamik des Spiels, zu denen bei Niantic eine neue
Augmented-Reality-Technologie kommt, lenken Menschen zu realen Orten, wo
sie ihr real verdientes Geld in den realen Geschäften ausgeben, die auf
diesen Verhaltensterminkontraktmärkten präsent sind.
Auf dem Höhepunkt von Pokémon Go im Sommer 2016 war der Traum eines jeden
Überwachungskapitalisten wahr geworden: ein riesiges Labor für
Verhaltensbeeinflussung, in dem das Zusammenwirken von Größenvorteilen,
Diversifikationsvorteilen und aktivem Einfluss auf das Nutzerverhalten
getestet wurde. Wobei die geniale Grundidee darin bestand, das eigentliche
Spiel in ein übergeordnetes Spiel des Überwachungskapitalismus zu
transformieren, in ein Spiel mit einem Spiel.
## Pokémon-Go als Cashcow für den Einzelhandel
Die Teilnehmer, denen die Stadt wie ihr Spielfeld vorkam, waren
unwissentlich selbst zum Spielfeld für dieses zweite, viel wichtigere Spiel
geworden. Und hier waren die Spieler nicht die aufgeregten Pokémon-Kids vor
Davids Haustür, sondern die eigentlichen Kunden, die Niantic mit dem
Versprechen garantierter Ergebnisse geködert hatte. Also Unternehmen, die
in der realen Welt mitspielen wollen und dafür einen Preis bezahlen; die
auf das Geld aus sind, das die Mitglieder der Jägerhorde in der Tasche
haben. Die Financial Times berichtete von hochfliegenden Spekulationen über
das künftige Potenzial des Spiels als Cashcow für den Einzelhandel und
andere Geschäftszweige mit Laufkundschaft.
Es gibt keine Garantie auf ein bestimmtes Resultat ohne die Macht, es zu
erzwingen. Hier schlägt das „Herz der Finsternis“ des
Überwachungskapitalismus. Er schafft sich ein neues Menschenbild,
wahrgenommen durch die Linse seiner eigenen spezifischen Macht, die mittels
globaler digitaler Strukturen zu einem gigantischen und komplexen
Instrument der Verhaltensmodifikation umfunktioniert wurde.
Der Überwachungskapitalismus kündigt damit die Regression in ein Zeitalter
des selbstbestimmten Kapitals und der fremdbestimmten Individuen an – also
genau das Gegenteil dessen, was für eine blühende Demokratie und die
Erfüllung der Menschheitsträume nötig wäre. Er verkörpert eine neue Macht,
die um ihrer gewinnbringenden Prognosen willen die Natur des Menschen neu
erschaffen will.
Aus dem Englischen von Nicola Liebert
Dieser Text erschien im Januar 2019 in LMd.
2 May 2020
## AUTOREN
Shoshana Zuboff
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