# taz.de -- 25 Jahre Le Monde diplomatique: Google sucht dich | |
> Vor mehr als 20 Jahren kam Googles Suchmaschine auf den Markt. Heute | |
> steht das Unternehmen für eine neue Form des Überwachungskapitalismus. | |
Bild: Pokémon-Go-SpielerInnen in Hongkong | |
Es war im Juli 2016. Für David ging ein zermürbender Arbeitstag zu Ende. | |
Stundenlang hatte er in einem verstaubten Gerichtssaal in New Jersey, in | |
dem die Klimaanlage ausgefallen war, Zeugenaussagen zu einem | |
Versicherungsfall aufgenommen. Zu Hause angelangt kam ihm die kühle Luft | |
wie ein Bad im Ozean vor. Zum ersten Mal an diesem Tag konnte er tief | |
durchatmen. Er machte sich einen Drink und ging duschen. Kaum spürte er das | |
warme Wasser auf seinem schmerzenden Rücken, klingelte es an der Tür. | |
Draußen standen ein paar Teenager, die ihm ihre Handys entgegenstreckten. | |
„Hey, Sie haben da ein Pokémon in ihrem Garten. Das gehört uns! Ist es | |
okay, wenn wir hinters Haus gehen, um es zu fangen?“ David staunte: „Ein | |
was?“ Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon sie redeten. Aber er sollte | |
es bald erfahren. | |
An diesem Abend klingelte es noch viermal. Alle wollten unbedingt in seinen | |
Garten und wurden sauer, wenn er sie wegschickte. Sie unterhielten sich | |
aufgeregt, während sie auf ihren Smartphones sein Haus und seinen Garten | |
nach ihren Kreaturen aus der augmented reality absuchten. In dem Ausschnitt | |
der Welt, den sie gerade wahrnahmen, sahen sie nur ihre Pokémon-Beute, | |
sonst nichts. | |
Das Spiel Pokémon Go hatte Davids Haus mitsamt seiner Umgebung quasi | |
usurpiert und in eine riesige Menge von GPS-Koordinaten umgewandelt. Es war | |
eine ganz neue Art kommerzieller Freibeuterei: die faktische Enteignung | |
einer privaten Sphäre zum Zweck der Gewinnmaximierung mittels Umwandlung | |
der realen Welt in lauter entgrenzte leere Flächen, an denen sich andere | |
Leute bereichern dürfen. | |
Wann hört das endlich auf, dachte David verzweifelt. Und an wen kann ich | |
mich wenden, damit das unterbunden wird? Weder ihm noch den Pokémon-Jägern | |
kam der Gedanke, dass das, was sie zusammenbrachte, ein neues und ziemlich | |
mieses Geschäftsmodell war: der Überwachungskapitalismus. | |
## Suchmaschinenwelt ohne verlässliche Einnahmen | |
Bis 1999 hatte Google trotz seiner neuen Suchmaschinenwelt, trotz der | |
ständigen Weiterentwicklung seiner IT-Kapazitäten und trotz der tollen | |
Namen seiner Risikokapitalgeber noch keine Methode gefunden, um das Geld | |
der Investoren in verlässliche Einnahmen zu verwandeln. | |
Die Google-Nutzer lieferten zwar Rohmaterial in Form von Daten über ihr | |
Verhalten und ihre Vorlieben, aber diese Daten wurden nur gesammelt, um die | |
Geschwindigkeit, Genauigkeit und Relevanz der Suchergebnisse zu verbessern | |
und die Entwicklung von neuen Produkten wie Übersetzungen zu unterstützen. | |
Bei diesem heiklen Kräftegleichgewicht wäre es finanziell riskant und | |
vermutlich sogar kontraproduktiv gewesen, die Nutzer für die Suchdienste | |
zur Kasse zu bitten. | |
Suchergebnisse zu verkaufen hätte wiederum einen Präzedenzfall geschaffen, | |
der Google selbst hätte gefährlich werden können, denn man hätte Geld | |
verlangt für indexierte Informationen, die die eigenen Webcrawler von | |
Dritten unbezahlt übernommen hatten. Anders als etwa Apple, das mit dem | |
iPod Geld verdiente, hatte Google keinen Mehrwertspinner, nichts, was sich | |
verkaufen und in Einnahmen umwandeln ließ. | |
Bei Google war die Werbung damals aufs Unterdeck verbannt. Das sogenannte | |
AdWords-Team bestand aus gerade mal sieben Personen, die fast alle die | |
Abneigung der Gründer gegen Anzeigen teilten. Dies änderte sich abrupt im | |
April 2000, als die legendäre Dotcom-Economy in die Rezession abstürzte und | |
das Paradies Silicon Valley zum Epizentrum des Finanzbebens wurde. Die | |
Reaktion von Google auf das Finanzdesaster bewirkte die entscheidende | |
Mutation, die aus AdWords, Google, dem Internet und dem | |
Informationskapitalismus schlechthin ein erstaunlich profitables | |
Überwachungsprojekt machte. | |
Sinnbildlich für diesen Wandel wie für das Akkumulationsprinzip, das den | |
Erfolg von Google ausmacht, steht ein Patent mit dem Titel „Generierung von | |
Benutzerinformationen zur Verwendung in der zielgerichteten Werbung“. | |
Entwickelt wurde es von den drei besten Programmierern des Unternehmens, | |
die ihre Idee 2003 so bewarben: „Die vorliegende Erfindung könnte neue | |
Verfahren, Vorrichtungen, Nachrichtenformate und/oder Datenstrukturen | |
beinhalten, mit denen sich Informationen über Benutzerprofile ermitteln | |
lassen, die für das Schalten von Anzeigen genutzt werden können.“ | |
## An individuellen Interessen orientierte Werbung | |
Google würde Verhaltensdaten von nun an nicht mehr ausschließlich zur | |
Verbesserung des Angebots für die Nutzer auswerten, sondern um die Gedanken | |
der Nutzer zu lesen: mit dem Ziel, die Werbung an ihren Interessen zu | |
orientieren, die sich wiederum aus ihrem Onlineverhalten ableiten lassen. | |
Neue Datensätze, die sogenannten Benutzerprofilinformationen (user profile | |
information, UPI), würden die Genauigkeit dieser Vorhersagen enorm erhöhen. | |
Wie gewinnt man die UPIs? Den Erfindern zufolge schlicht „aus | |
Rückschlüssen“. Mithilfe der neu entwickelten Werkzeuge lassen sich die | |
Informationen durch die Integration der Daten und die Analyse der | |
Suchmuster des Nutzers ermitteln, seiner Aufrufe bestimmter Seiten und | |
zahlreiche andere Signale seines Onlineverhaltens. Damit sind Informationen | |
zu gewinnen, die der Nutzer gar nicht persönlich preisgegeben hat, räumen | |
die Google-Forscher ein: UPIs „können selbst dann ermittelt (oder | |
aktualisiert oder erweitert) werden, wenn dem System keine explizite | |
Information gegeben wurde“. | |
Die Informatiker haben damit klar gesagt, dass sie gewillt und mithilfe | |
ihrer Erfindung auch in der Lage sind, sich über die Entscheidungsrechte | |
der Nutzer hinwegzusetzen. Damit sind Verhaltensdaten, die zuvor zur | |
Verbesserung der Qualität der Suchergebnisse ausgewertet wurden, zur | |
entscheidenden – und allein von Google nutzbaren – Ressource geworden, die | |
man zum Aufbau eines dynamischen Onlinewerbemarkts braucht. So war endlich | |
die ersehnte Wertschöpfung zu erzielen, die Google jene „nachhaltigen und | |
exponentiell wachsenden Gewinne“ ermöglichte, die es zum Überleben | |
brauchte. | |
Die Erfindung eröffnete ganz neue Möglichkeiten, Gedanken, Gefühle und | |
Absichten von Einzelpersonen oder Gruppen zu erschließen. Sie basiert auf | |
einer automatisierten Datenauswertung, die man mit einem Einwegspiegel | |
vergleichen kann, denn der geheime Zugriff auf die Verhaltensdaten einer | |
Person erfolgt ohne deren Wissen. Diese totale Abschöpfung der | |
Verhaltensdaten ermöglichte enorme Gewinne durch einen historisch | |
einmaligen Wettbewerbsvorteil auf den neuartigen Prognosemärkten, auf denen | |
risikoarme Voraussagen über das Verhalten der User eingepreist und | |
gehandelt werden. Der Einwegspiegel verkörpert die gesellschaftliche | |
Asymmetrie der Überwachung, die noch durch das Wissens- und Machtgefälle | |
verstärkt wird, das ein Resultat eben dieser Überwachungstechniken ist. | |
## Ausweitung der kommerziellen Überwachungssysteme | |
Der schnelle Erfolg von AdWords gab den Anstoß zu einer massiven Ausweitung | |
der kommerziellen Überwachungssysteme. Die Werbeauftraggeber forderten | |
immer mehr Klicks. Daraufhin wurde das System über die Google-Suchmaschine | |
hinaus erweitert und das gesamte Internet als Vehikel für die | |
zielgerichtete Werbung des Unternehmens genutzt. Damit wurden, wie | |
Google-Chefökonom Hal Varian erläutert hat, die verbesserten Fertigkeiten | |
bei der Datengewinnung und ‑analyse auf den Inhalt jeder Webseite und jede | |
Benutzeraktion angewendet, um aus diesen wesentliche Informationen zu | |
destillieren. Diese inhaltsorientierte, auf den patentierten Methoden | |
basierende Werbung bekam den Namen AdSense. Mit ihr erzielte Google 2004 | |
einen Jahresumsatz von mehr als 350 Millionen US-Dollar; 2010 lag er schon | |
jenseits von 10 Milliarden Dollar. | |
Diese Wertschöpfung aus Verhaltensinformationen wurde ermöglicht durch das | |
Zusammenwirken von innovativer Datenforschung, materieller Infrastruktur, | |
Computermacht, algorithmischen Systemen und automatisierten Plattformen. | |
Die Zahl der Klicks schoss in ungeahnte Höhen. Die Arbeit an AdWords und | |
AdSense wurde für Google genauso wichtig wie die Arbeit an der eigentlichen | |
Suchmaschine. Indem die Klickraten zum Maßstab für Relevanz wurden, | |
entwickelte sich die Wertschöpfung aus Verhaltensinformationen zu einer | |
neuen Geschäftssparte, die eine flächendeckende Onlineüberwachung | |
voraussetzte. | |
Als Google 2004 an die Börse ging, erfuhr die Welt erstmals, wie lukrativ | |
diese neue Marktform ist. Für die epidemieartige Ausbreitung des | |
Überwachungskapitalismus sorgte dann die Google-Managerin Sheryl Sandberg, | |
als sie 2007 zu Facebook wechselte und das Unternehmen von einem sozialen | |
Netzwerk in einen Werbegiganten verwandelte. Damit wurde der | |
Überwachungskapitalismus, mit Google als Vorreiter, zum Standardmodell des | |
Informationskapitalismus im Internet, auf das Mitbewerber aus allen | |
Wirtschaftsbranchen aufsprangen. | |
Die abgeschöpften Verhaltensinformationen, auf denen das Erfolgsmodell von | |
Google beruht, kann man als „Überwachungsgut“ bezeichnen. Es ist der | |
unentbehrliche Rohstoff zum Erwirtschaften von „Überwachungserlösen“ und | |
deren Umwandlung in „Überwachungskapital“. Die innere Logik, die dieser | |
Form von Kapitalakkumulation zugrunde liegt, kann man am genauesten mit dem | |
Begriff Überwachungskapitalismus beschreiben, der das Fundament einer ganz | |
neuen Wirtschaftsordnung bildet. | |
## Nutzer werden zu Objekten der Wertschöpfung | |
Diese „Überwachungsökonomie“ zeichnet sich dadurch aus, dass die frühere | |
Beziehung zwischen der Firma und ihren Nutzern, die auf Gegenseitigkeit | |
beruhte, einem abgeleiteten Geschäftsmodell untergeordnet wird: Es geht | |
jetzt vor allem um das Abgreifen von Informationsmehrwert zu anderen | |
Zwecken. Damit sind die Nutzer nicht mehr die Subjekte der Wertschöpfung, | |
sondern Objekte, aus denen das Unternehmen Google jenen Rohstoff gewinnt | |
und sich aneignet, den es in seinen maschinellen Lernfabriken zu Prognosen | |
verarbeitet. Dieses Endprodukt wird dann an die eigentlichen Kunden | |
verkauft: Unternehmen, die Geld ausgeben, um auf dem neuen Terminmarkt für | |
Verhaltensinformationen mitzumischen. | |
Douglas Edwards, Googles erster Markenmanager, erinnert sich, wie die | |
Firmengründer 2001 eine Antwort auf die Frage suchten: „Was ist Google?“ | |
Damals habe Google-Mitgründer Larry Page sinniert: „Wenn man das Produkt | |
kennzeichnen will, würde es wohl auf persönliche Informationen hinauslaufen | |
… Die Leute werden enorme Datenmengen erzeugen... Alles, was du je gehört, | |
gesehen oder erlebt hast, wird durchsuchbar. Dein ganzes Leben wird | |
durchsuchbar sein.“ | |
Diese Vision ist das exakte Abbild der Geschichte des Kapitalismus: | |
Jenseits der Marktsphäre entstandene Dinge werden zur Ware deklariert und | |
beginnen so ein neues Leben. In seinem 1944 veröffentlichten Buch „The | |
Great Transformation“ beschreibt der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi die | |
große Transformation zu einer selbstregulierenden Marktwirtschaft. An deren | |
Anfang sieht er drei entscheidende geistige Erfindungen, die er als | |
„Warenfiktionen“ bezeichnet. Erstens: Das menschliche Leben könne der | |
Marktdynamik untergeordnet und als Arbeit wiedergeboren werden, die zu | |
kaufen und zu verkaufen sei. Zweitens: Die Natur könne in ein Marktgut | |
umgewandelt und als Grundbesitz oder Immobilie wiedergeboren werden: | |
Drittens: Der Güteraustausch könne in Gestalt von Geld wiedergeboren | |
werden. | |
In diesem Sinne definieren die Besitzer von Überwachungskapital eine vierte | |
fiktive Ware: Sie ist aus den Erfahrungswelten von Menschen zu gewinnen, | |
deren Körper, Gedanken und Gefühle so jungfräulich sind, wie es die reich | |
vorhandenen Wiesen und Wälder waren, bevor sie der Dynamik des Markts | |
unterlagen. | |
## Fabrikation von Vorhersagen | |
Persönliche Erfahrungen werden den Marktmechanismen des | |
Überwachungskapitalismus einverleibt, um als Benutzerverhalten | |
wiedergeboren zu werden: umgewandelt in Daten für die Fabrikation von | |
Vorhersagen, die gekauft und verkauft werden. Die neue Marktform enthält | |
eine klare Botschaft: Reale Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen ist | |
weniger lukrativ, also weniger wichtig, als Prognosen über ihr Verhalten zu | |
verkaufen. | |
Die erste Welle der Prognoseprodukte beruhte auf dem Mehrwert von | |
massenhaft abgeschöpften Internetdaten, die für die Onlinewerbung | |
verwertbar sind. Bei der nächsten Welle ging es nicht nur um die Quantität, | |
sondern auch um die Qualität der Prognosen, also ihre Zuverlässigkeit. Bei | |
diesem qualitativen Wettbewerb zeigte sich, dass die besten Vorhersagen | |
praktisch auf Überwachung hinauslaufen. | |
Eine weitere qualitative Entwicklung war die Nutzung von Verbundeffekten, | |
die neue Anforderungen an die gewonnenen Verhaltensdaten stellt. Das heißt, | |
die Ausbeute muss nicht nur ständig anwachsen, sondern auch immer | |
diversifizierter werden, und das gleich in zwei Dimensionen. Zum einen muss | |
die Datengewinnung von der virtuellen auf die reale Welt übergreifen. Die | |
Überwachungskapitalisten haben begriffen, dass ihre künftigen Einnahmen von | |
zusätzlichen Datenmengen abhängen. Zum Beispiel über unseren Blutkreislauf | |
und den Inhalt unserer Kühlschränke oder unsere Gewohnheiten im Schlaf- und | |
im Wohnzimmer, unseren Weg zur Arbeit oder unsere Parkplätze. | |
Zum anderen zielen die Verbundeffekte in die Tiefe, erschließen immer | |
privatere Dimensionen. Man geht davon aus, dass prognostisch noch | |
aussagekräftigere und damit lukrativere Verhaltensdaten aus den intimsten | |
Bereichen des Ichs zu gewinnen sind. Man will mehr über die | |
Persönlichkeitsstruktur herausfinden, über Stimmungen und Gefühle, Lügen | |
und Schwächen. Jeder Aspekt der Privatsphäre muss erfasst und in | |
Datenpartikel zerlegt werden, die auf dem Fließband der Produktion von | |
Gewissheiten weiterverarbeitet werden. Diese aggressive Datengewinnung aus | |
den Tiefen des privaten Alltags läuft großenteils unter dem falschen | |
Etikett der „Personalisierung“. | |
## Intelligenten Wodkaflaschen und Rektalthermometer | |
Ständig kommen neue Produkte auf den Markt, die Verhaltensdaten erheben, | |
verfolgen, aufzeichnen und übertragen sollen – von intelligenten | |
Wodkaflaschen bis zu mit dem Internet verbundenen Rektalthermometern. Der | |
Bettenhersteller Sleep Number bietet eine „intelligente Bettentechnologie | |
mit Schlafmustererfassung“. Das Unternehmen sammelt „biometrische und | |
schlafbezogene Daten“ von allen Benutzern des Betts, etwa über deren | |
„Bewegungen, Positionen, Atmung und Herzfrequenz“. | |
Der Überwachungskapitalismus hat es vor allem auf unsere Wohnungen | |
abgesehen. 2017 verkauften die Firmen Smart-Home-Geräte im Gesamtwert von | |
14,7 Milliarden Dollar, 2016 waren es noch 6,8 Milliarden. 2021 soll der | |
Umsatz die 100-Milliarde-Grenze übersteigen. Zu den Absurditäten der ersten | |
Generation gehören angeblich intelligente Zahnbürsten, Glühbirnen, | |
Kaffeetassen, Öfen oder Entsafter. Andere sind bedenklicher: eine | |
Überwachungskamera mit Gesichtserkennung für den Hausgebrauch, ein | |
Alarmsystem, das ungewöhnliche Vibrationen vor einem Einbruch aufzeichnet, | |
GPS-Ortungsgeräte für Innenräume, überall anzubringende Sensoren, die | |
Temperatur, Bewegungen und etliches mehr analysieren, oder | |
Cyborg-Kakerlaken, die Geräusche erkennen. Selbst das Kinderzimmer wird zur | |
Quelle für weitere Verhaltensdaten. | |
Angesichts der verschärften Konkurrenz haben die Überwachungskapitalisten | |
kapiert, dass es mit den Verbundeffekten nicht getan ist: Am sichersten | |
lassen sich Verhaltensweisen voraussagen, wenn man „an der Quelle“ | |
eingreift und sie aktiv gestaltet. | |
Um solche „Eingriffsvorteile“ zu erzielen, wurden die maschinellen Abläufe | |
entsprechend konfiguriert. Heutzutage sind also die digitalen Verbindungs- | |
und Kommunikationsstrukturen für diesen Zweck in Beschlag genommen. Die | |
damit geschaffenen Eingriffsmöglichkeiten sollen Verhaltensprognosen | |
sicherer machen, indem sie die Nutzer im gewünschten Sinne beeinflussen, | |
sei es mit sanften Methoden wie „nudging“ und „tuning“, durch Aktivieru… | |
des Herdentriebs oder durch nackte Manipulation. | |
## Aufleuchtende Kaufen-Buttons | |
Dabei kann es sich um subtile Techniken handeln, zum Beispiel das Einfügen | |
einer bestimmten Formulierung in einen Facebook-Newsfeed oder das | |
„rechtzeitige“ Aufleuchten eines Kaufen-Buttons auf einem Handy. Es gibt | |
aber auch brutalere Methoden, etwa wenn das Auto nicht mehr anspringt, weil | |
die Versicherung nicht pünktlich gezahlt wurde. | |
Ein Softwareentwickler erklärt das Ganze so: „Wir lernen, wie man die Musik | |
schreibt, und dann sorgen wir dafür, dass die Leute zu der Musik tanzen. | |
Wir können den Kontext eines bestimmten Verhaltens arrangieren und auf | |
diese Weise Veränderungen erzwingen.“ Dafür nannte er zwei Beispiele: „Wir | |
können dem Kühlschrank sagen: ‚Verriegle die Tür, er soll jetzt nichts | |
essen‘; oder wir befehlen dem Fernseher, sich auszuschalten, damit Sie | |
ausreichend Schlaf bekommen.“ | |
Da das Prognosegeschäft die Gewinnung von Verhaltensinformationen auf die | |
reale Welt ausweitet, sind auch Waren- und Dienstleistungsanbieter auf die | |
potenziellen Überwachungserlöse mittels Telematik scharf. Auf diese | |
Kombination von Telekommunikation und Informatik setzen etwa die | |
Kfz-Versicherer. Sie wissen seit Langem, dass das Risiko stark von | |
Verhalten und Persönlichkeit des Fahrers abhängt, aber sie konnten darauf | |
nicht reagieren. Der Unternehmensberater Deloitte empfiehlt ihnen deshalb | |
Risikominimierung – sprich garantierte Erträge – durch Überwachung und | |
Korrektur des Verhaltens ihrer Versicherungsnehmer in Echtzeit. | |
Das bedeutet, dass die Versicherer „das Verhalten der Versicherungsnehmer | |
direkt überwachen können, indem sie die Zeiten, die Orte und die | |
Straßenverhältnisse beim Fahren erfassen“. Oder auch verfolgen, „ob die | |
Fahrer stark beschleunigen oder mit hoher oder sogar überhöhter | |
Geschwindigkeiten fahren, wie stark sie bremsen, wie schnell sie abbiegen | |
und ob sie den Blinker setzen“. | |
## Verhaltensabhängige Versicherungstarife | |
Damit können die Versicherungsprämien, die früher die Unwägbarkeiten des | |
Alltags widerspiegelten, nunmehr „verhaltensabhängig“ innerhalb von | |
Millisekunden steigen und fallen – zum Beispiel auf der Basis exakter | |
Informationen darüber, wie schnell jemand nach einem hektischen Morgen, an | |
dem ein krankes Kind zu versorgen war, zur Arbeit gefahren ist. | |
Telematik soll also nicht nur wissen, sondern auch handeln, Druck ausüben, | |
etwas erzwingen. Verhaltensabhängige Versicherungstarife ermöglichen eine | |
Risikominimierung durch Prozesse, die das Verhalten auf maximale | |
Rentabilität trimmen sollen. Die Analyse des Nutzerverhaltens löst | |
Strafmaßnahmen aus: eine Tariferhöhung in Echtzeit, eine Vertragsstrafe, | |
eine Lenkradsperre oder eine Motorblockade; aber auch Belohnungen wie eine | |
Tarifermäßigung, Gutscheine oder Bonuspunkte. Das Beratungsunternehmen AT | |
Kearney geht davon aus, dass das Internet der Dinge „Beziehungen ausbauen“ | |
kann, um eine „ganzheitlichere Verbindung“ mit den Kunden herzustellen und | |
„ihr Verhalten zu beeinflussen“. | |
Das Unternehmen Spireon ist auf die Ortung und Überwachung von Fahrzeugen | |
und Fahrern im Auftrag von Kreditinstituten, Versicherern und | |
Fuhrparkbesitzern spezialisiert. Sein Sicherheitsmanagementsystem Loan-Plus | |
sendet Ermahnungen an die Fahrer, wenn sie mit den Zahlungen in Verzug | |
sind, deaktiviert das Fahrzeug nach Überschreitung einer vereinbarten | |
Zahlungsfrist und lokalisiert es für den Gerichtsvollzieher. | |
Telematik verspricht eine neue Qualität von Verhaltenskontrollen. | |
Versicherungen können damit Auflagen für das Fahrverhalten vorgeben: | |
Anlegen der Sicherheitsgurte, Höchstgeschwindigkeit, Rastpausen, bis hin | |
zur Vermeidung aggressiver Beschleunigung, harten Bremsens oder überlanger | |
Fahrzeiten. Diese Parameter werden in Algorithmen übersetzt, die den Fahrer | |
kontinuierlich überwachen, bewerten und einstufen. Die Berechnungen lösen | |
umgehend Tarifkorrekturen aus. Der Datenpool wird außerdem für Prognosen | |
verwendet, die an Werbetreibende verkauft werden, da das System auch | |
Verhaltensmerkmale berechnet, die gezielte Werbung über die Handys der | |
Fahrer ermöglichen. | |
## Algorithmen entscheiden über Boni und Strafen | |
Der Chefstratege von Spireon hält das Patent für ein Verfahren, mit dem | |
Versicherer jedwede Unsicherheit weitgehend ausschalten können, indem sie | |
das Verhalten ihrer Kunden aktiv beeinflussen. Erstrebt wird damit eine | |
kontinuierliche Optimierung des Versicherungstarifs mittels Kontrolle der | |
vom Versicherer definierten Verhaltensparameter. Das System übersetzt sein | |
Wissen über das Verhalten der Kunden in Macht, die sich je nachdem in Boni | |
oder in Strafen äußert. Ein zweites Patent bezieht sich auf verschiedene | |
Algorithmen, die bei der Verletzung von Vorgaben automatisch negative oder | |
positive Sanktionen auslösen, wobei das Spektrum von einem | |
„Verstöße-Algorithmus“ bis zu einem „Bonus-Algorithmus“ reicht. | |
Als David an jenem Abend seine Haustür öffnete, ahnte er nicht, dass er und | |
die Pokémon-Jäger an einem Experiment über direkte Eingriffe ins | |
Nutzerverhalten teilnahmen. Sie waren sozusagen nur die Meerschweinchen für | |
den Großversuch eines Mannes, der sich die Welt zu eigen machen wollte, | |
indem er sie kartierte. John Hanke hatte 2001 die von der CIA finanzierte | |
Firma Keyhole gegründet, ein Satellitenkartierungsunternehmen, das später | |
von Google übernommen und in Google Earth umbenannt wurde. Hanke wurde | |
Produktmanager von Google Maps und Chef von Street View, ehe er 2010 | |
innerhalb von Google ein eigenes Start-up namens Niantic Labs gründete. | |
Dabei ging es ihm um die Entwicklung von Spielen in einer „erweiterten | |
Realität“, bei denen Menschen erfasst und durch Gegenden getrieben werden, | |
die Street View bereits für seine Karten vereinnahmt hatte. Pokémon Go war | |
ein Produkt von Niantic Labs. | |
Pokémon Go funktioniert wie eine Art Schatzsuche auf Basis einer | |
Augmented-Reality-Technologie. Wenn man die Niantic-App heruntergeladen | |
hat, können die Spieler mithilfe von GPS und Handykamera virtuellen | |
Kreaturen nachjagen. Die Figuren erscheinen auf dem Bildschirm inmitten | |
einer realen Umgebung: im Garten eines ahnungslosen Mannes, auf einer | |
Straße, im Park, in einem Laden. Damit sollen die Spieler zu | |
„Abenteuerwanderungen“ in ihren Städten oder Vierteln animiert werden. | |
Pokémon Go kam am 6. Juli 2016 in den USA, Australien und Neuseeland auf | |
den Markt. In den USA wurde es binnen einer Woche zur umsatzstärksten App, | |
die genauso viele aktive Android-Nutzer erreichte wie Twitter. Keine sechs | |
Tage später forderte BuzzFeed-Reporter Joseph Bernstein die | |
Pokémon-Anwender auf, zu checken, welche Daten die App von ihren | |
Smartphones abgreift. | |
## In-App-Käufe von Spielzubehör | |
Am 13. Juli begann eine kritische Diskussion über die Datenerfassung. Hanke | |
räumte gegenüber der Financial Times ein, dass das Geschäftsmodell von | |
Niantic neben „In-App-Käufen“ von Spielzubehör noch „eine zweite | |
Komponente“ enthält, nämlich „das Konzept der gesponserten Standorte“. … | |
Unternehmen hatte es von vornherein auf Einnahmen von Unternehmen | |
abgesehen, die auf dem virtuellen Tableau als Standort auftauchen wollen, | |
weil das Spiel ja Passanten anzieht. Diese Sponsoren zahlten einen Betrag | |
für jeden Besucher, ganz ähnlich wie für jeden Klick auf einer | |
Google-Suchmaschinenwerbung. | |
„Gesponserte Standorte“ ist eine beschönigende Umschreibung für | |
Verhaltenstermingeschäfte, bei denen die Einnahmen von Niantic umso stärker | |
steigen, je mehr Personen zu bestimmten Orten gelotst werden. Das | |
funktioniert wie bei Google, das seine abgeschöpften Verhaltensdaten nutzt, | |
um Onlinewerbung auf bestimmte Personen loszulassen. Die Elemente und die | |
Dynamik des Spiels, zu denen bei Niantic eine neue | |
Augmented-Reality-Technologie kommt, lenken Menschen zu realen Orten, wo | |
sie ihr real verdientes Geld in den realen Geschäften ausgeben, die auf | |
diesen Verhaltensterminkontraktmärkten präsent sind. | |
Auf dem Höhepunkt von Pokémon Go im Sommer 2016 war der Traum eines jeden | |
Überwachungskapitalisten wahr geworden: ein riesiges Labor für | |
Verhaltensbeeinflussung, in dem das Zusammenwirken von Größenvorteilen, | |
Diversifikationsvorteilen und aktivem Einfluss auf das Nutzerverhalten | |
getestet wurde. Wobei die geniale Grundidee darin bestand, das eigentliche | |
Spiel in ein übergeordnetes Spiel des Überwachungskapitalismus zu | |
transformieren, in ein Spiel mit einem Spiel. | |
## Pokémon-Go als Cashcow für den Einzelhandel | |
Die Teilnehmer, denen die Stadt wie ihr Spielfeld vorkam, waren | |
unwissentlich selbst zum Spielfeld für dieses zweite, viel wichtigere Spiel | |
geworden. Und hier waren die Spieler nicht die aufgeregten Pokémon-Kids vor | |
Davids Haustür, sondern die eigentlichen Kunden, die Niantic mit dem | |
Versprechen garantierter Ergebnisse geködert hatte. Also Unternehmen, die | |
in der realen Welt mitspielen wollen und dafür einen Preis bezahlen; die | |
auf das Geld aus sind, das die Mitglieder der Jägerhorde in der Tasche | |
haben. Die Financial Times berichtete von hochfliegenden Spekulationen über | |
das künftige Potenzial des Spiels als Cashcow für den Einzelhandel und | |
andere Geschäftszweige mit Laufkundschaft. | |
Es gibt keine Garantie auf ein bestimmtes Resultat ohne die Macht, es zu | |
erzwingen. Hier schlägt das „Herz der Finsternis“ des | |
Überwachungskapitalismus. Er schafft sich ein neues Menschenbild, | |
wahrgenommen durch die Linse seiner eigenen spezifischen Macht, die mittels | |
globaler digitaler Strukturen zu einem gigantischen und komplexen | |
Instrument der Verhaltensmodifikation umfunktioniert wurde. | |
Der Überwachungskapitalismus kündigt damit die Regression in ein Zeitalter | |
des selbstbestimmten Kapitals und der fremdbestimmten Individuen an – also | |
genau das Gegenteil dessen, was für eine blühende Demokratie und die | |
Erfüllung der Menschheitsträume nötig wäre. Er verkörpert eine neue Macht, | |
die um ihrer gewinnbringenden Prognosen willen die Natur des Menschen neu | |
erschaffen will. | |
Aus dem Englischen von Nicola Liebert | |
Dieser Text erschien im Januar 2019 in LMd. | |
2 May 2020 | |
## AUTOREN | |
Shoshana Zuboff | |
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