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# taz.de -- Coronakrise und Klimaschutz: Radikal wie Roosevelt
> In Notlagen wie diesen ist der Staat durchaus zu drastischen Schritten
> fähig. Im Kampf fürs Klima muss es genauso sein.
Bild: Alexandria Ocasio-Cortez schlägt einen „Green New Deal“ vor
Corona eröffnet eine riesige Chance: Die Pandemie kann zum Startpunkt eines
[1][sozialökologischen Umbaus] werden. In den kommenden Monaten werden
Regierungen unvorstellbare Mengen an Geld ausgeben, um die Wirtschaft
wieder in Schwung zu bringen. Schon stehen in Deutschland Autoindustrie,
Fluggesellschaften und Hotellobbyisten Schlange, um Förderung abzugreifen.
Doch die Milliarden dürfen nicht verplempert werden, um das Alte zu
stützen. Jetzt besteht die einmalige – und wahrscheinlich letzte –
Möglichkeit für fundamentale Änderungen. Zwar hockt die
Fridays-for-Future-Bewegung zwangsweise zu Hause, doch ihr wuchtiger
Schwung aus dem vergangenen Jahr ließe sich jetzt in Politik umsetzen.
Zugleich könnten klug ausgestaltete Konjunkturprogramme die drohende
Massenarbeitslosigkeit verhindern und der Spaltung der Gesellschaft
entgegenwirken.
Die Grundidee dazu liefert die in der Bronx geborene Alexandria
Ocasio-Cortez. Sie sitzt als jüngste Abgeordnete im US-Repräsentantenhaus
und schlägt einen [2][„Green New Deal“] vor: Alle Arbeitslosen, die das
wollen, sollen anständig bezahlt energieeffiziente Infrastrukturen
aufbauen.
„New Deal“ bedeutet im Spiel, dass die Karten neu verteilt werden. So hieß
auch das gigantische Investitionsprogramm, das US-Präsident Franklin
Roosevelt 1933 nach der Weltwirtschaftskrise aufgelegt hatte. Durch
Spekulation waren Tausende von Banken zusammengebrochen und hatten die
Realwirtschaft mit in den Abgrund gerissen; die Arbeitslosigkeit lag bei 25
Prozent, viele Menschen lebten in bitterer Not. Zwar dauerte es acht Jahre,
bis Vollbeschäftigung erreicht wurde. Doch Millionen Menschen fanden
Arbeit, indem sie ländliche Regionen elektrifizierten, Schulen bauten und
Milliarden Bäume pflanzten gegen die Erosion in den zentralen
Bundesstaaten. Dort fegten verheerende Staubstürme die Ackerböden weg, weil
Bauern das Präriegras entfernt hatten.
Das Radikale an Roosevelts Politik aber war nicht allein das
Aufbauprogramm, sondern vor allem seine Geldpolitik, ist die in London
lehrende Ökonomin Ann Pettifor überzeugt. Der neugewählte US-Präsident
kündigte in seiner Antrittsrede eine strenge Überwachung aller
Bankgeschäfte und das Ende von Spekulationsgeschäften an – und setzte das
auch durch. Er unterstellte das aus dem Ruder gelaufene Finanzsystem dem
demokratischen Staat und machte der Austeritätspolitik seines Vorgängers
ein Ende.
Genau das unterblieb nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009. Und
so suchen gigantische Mengen an Privatkapital ständig weiter nach
Anlagemöglichkeiten, um aus Geld noch mehr Geld zu machen. Aberwitzige
Finanzprodukte werden geschaffen und Computer so programmiert, dass sie
winzige Kursunterschiede ausnutzen. Gemüsebauern können sich Ackerflächen
nicht mehr leisten, weil Investoren die Preise für das Land in die Höhe
treiben. Lebensbereiche wie Gesundheit, Bildung und Kultur sind immer
stärker der wirtschaftlichen Effizienzlogik unterstellt, als ob es sich um
Waren handelte. Ständig müssen neue Produkte auf den Markt geworfen werden
– mit katastrophalen Folgen für Arbeitsbedingungen und Umwelt. Trotz aller
Zusagen im Pariser Klimaabkommen wurden 2019 mehr Treibhausgase emittiert
als je zuvor.
Auch wenn die Pandemie gegenwärtig alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist
sie nüchtern betrachtet das kleinere Problem. Die Erderhitzung und vor
allem der rasante Verlust an Biodiversität bedrohen die Zukunft der ganzen
Menschheit. Es geht um nicht weniger als die Frage, ob in den kommenden
Jahrzehnten verheerende Hungersnöte und daraus resultierende Kriege
Milliarden Menschen das Leben kosten. Die neue EU-Kommissionspräsidentin
Ursula von der Leyen hat einen „Green Deal“ für Europa angekündigt – ein
„New Deal“ ist dabei nicht zu erkennen. Aus den vagen Ankündigungen lässt
sich schließen, dass sie an Hilfen für Kohleregionen und Investitionen in
Technik denkt. Doch der Umstieg auf Elektroautos ist angesichts der realen
Bedrohungen so hilfreich wie eine Schmerztablette gegen Suizidgedanken.
Corona hat gezeigt: Der Staat ist fähig zu radikalen Schritten – und der
Markt regelt in Notsituationen gar nichts. Außerdem ist deutlich geworden,
was wirklich systemrelevant ist: ein funktionierendes Gesundheits-,
Bildungs- und Wissenschaftssystem, menschliche Fürsorge,
Lebensmittelversorgung, staatliche Infrastrukturen und digitale
Kommunikation. Wie die Wirtschaft nun wieder angeschoben wird, ist
existenziell. Geht es anschließend weiter in den Abgrund oder in eine fürs
Überleben aussichtsreichere Richtung? Für den zweiten Weg muss die Politik
endlich den Willen aufbringen und die Finanzindustrie entmachten – und die
bisher als systemrelevant geltende Autoindustrie gleich mit. Sie hat die
staatlichen Hilfen vor zehn Jahren nicht zum Umbau genutzt, sondern in die
Entwicklung von Dickschlitten investiert. Im vergangenen Jahr wurden so
viele SUVs verkauft wie nie.
Mit den staatlichen Geldern sollte dann ein „Green New Deal“ aufgelegt
werden, der gleichermaßen dem Gemeinwohl und der Umwelt dient. Im Zentrum
steht die Finanzierung von sinnvoller Arbeit. Zu tun gibt es genug.
Wohnungen müssen gedämmt, [3][emissionsfreie Mobilität] organisiert werden.
Es gilt, für neue Aufgaben auszubilden und das Gesundheits- und
Pflegesystem menschenfreundlich zu gestalten. Benötigt werden viel mehr
Arbeitskräfte, die gute, regionale Lebensmittel produzieren und die
Landschaft pflegen. Außerdem brauchen wir dringend Softwareprogramme, die
Wissensaustausch, demokratische Entscheidungsfindungen und eine
ressourcenschonende Mobilität ermöglichen und nicht auf Datenklau basieren.
Für diesen Weg braucht es mutige Regierungen – und eine Bevölkerung, für
die Demokratie mehr bedeutet, als alle vier Jahre ein Kreuz zu machen.
5 May 2020
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## AUTOREN
Annette Jensen
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