# taz.de -- Nebenwirkungen der Coronakrise: Wo ein Virus ist, ist auch ein Weg | |
> Mit Verweis auf Corona fordert die Umweltszene mehr Umwelt- und | |
> Klimaschutz. Die Industrie verlangt mit dem gleichen Argument das | |
> Gegenteil. | |
Bild: Leere Straßen durch Corona – ein guter Anlass, den Verkehrsraum neu au… | |
Die Forderung ist alt, die Begründung ist neu: Ein „temporäres Tempolimit | |
von 120 beziehungsweise 100 km/h auf Autobahnen“ fordert aktuell die | |
Deutsche Umwelthilfe (DUH). Das tut sie schon lange. Aber jetzt haben die | |
Umweltschützer ein neues Argument: Mit gebremstem Tempo werde „die | |
Unfallzahl verringert und eine unmittelbar wirksame Entlastung von Ärzten, | |
Pflegediensten, Rettungsstellen und Krankenhäusern angesichts der Zahl der | |
Covid-19-Patienten sichergestellt“, erklärte DUH-Geschäftsführer Jürgen | |
Resch. | |
In Corona-Zeiten macht sich kreatives Recycling der eigenen | |
Lieblingsforderungen breit. Viele Interessengruppen argumentieren plötzlich | |
auch mit dem Virus, um ihre Belange durchzusetzen. Einerseits versuchen | |
Umwelt- und Klimaschützer, die Veränderungen für mehr Nachhaltigkeit zu | |
nutzen. Andererseits entstaubt auch die Industrie manche Ladenhüter mit | |
Verweis auf die Pandemie. | |
Die Liste der Öko-Forderungen zu Corona ist lang. Die DUH will die Kommunen | |
dazu bringen, mehr Fahrradstraßen und Fußgängerwege auszuweisen und | |
flächendeckend Tempo 30 zu verhängen. Anfang April stellte sie in 39 | |
Städten diese Anträge und ruft Interessierte auf, unter | |
[1][www.duh.de/fahrradstraßen-jetzt] ihre Vorschläge anzumelden. Gemeinsam | |
mit dem Potsdamer Nachhaltigkeitsinstitut IASS begründet das die DUH so: | |
Rad fahren und laufen „unterstützt das Ziel, Covid-19 einzudämmen“. Das | |
sollte durch „zügige Anpassung der Infrastruktur ergänzt werden“: mehr | |
Radwege, breitere Gehwege, Tempolimits. Berlin-Kreuzberg hat bereits im | |
Schnellverfahren [2][etliche Kilometer neue Fahrradspuren] auf Straßen | |
ausgewiesen – erst einmal provisorisch. | |
Auch anderswo wird Corona zum Argument: Während die Seuche grassiert, | |
sollten die Beratungen für den Standort eines Endlagers für atomare | |
Brennstoffe ausgesetzt werden, fordert der BUND. Die grüne Atomexpertin | |
Sylvia Kotting-Uhl kritisiert den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke, „obwohl | |
der Katastrophenschutz während einer Pandemie eine besondere | |
Herausforderung darstellt“. Weil das Virus wohl von Wildtieren übertragen | |
wird, fordern Tierschützer ein Importverbot für exotische Tiere. Und weil | |
Erreger sich schneller ausbreiten, wo die Natur verschwindet, fordert | |
Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) ein „weltweites Stoppschild | |
gegen diesen Artenschwund“. | |
Wer schon immer gegen dreckige Luft kämpft, hat nun neue Argumente: Studien | |
aus China, den USA und Norditalien legen nahe, dass in Regionen mit hoher | |
Luftverschmutzung die Sterblichkeit bei Sars- und Corona-Infektionen | |
deutlich höher ist. | |
## Nicht neu, aber plötzlich aktuell | |
Die größte Hoffnung auf eine grünere Welt nach der Krise richtet sich auf | |
die Hilfsprogramme zur Rettung der Wirtschaft. Die EU-Kommission will an | |
ihrem [3][„Green Deal“] zur Klimaneutralität festhalten. Und der Thinktank | |
„Agora Energiewende“ hat einen Vorschlag gemacht, wie schnell mit einer | |
Investition von 100 Milliarden Euro in Deutschland Kaufkraft und | |
Zukunftsfähigkeit gesichert werden sollen: erneuerbare Energien ausbauen, | |
Verkehr klimaneutral ausrichten, die Industrie auf Effizienzkurs bringen. | |
Alles nicht neu, aber plötzlich aktuell. | |
In der Debatte unterscheidet Manfred Fischedick, Geschäftsführer des | |
Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energie, zwischen „Forderungen, die | |
grundsätzlich sinnvoll sind, die gerade in der Coronakrise richtig sind, | |
und denen, die unliebsame Maßnahmen verhindern oder verzögern sollen.“ Ein | |
Tempolimit und Stahlerzeugung mit „grünem Wasserstoff“ seien auch in der | |
Krise berechtigt, sagt Fischedick – eine Abschaffung des | |
Erneuerbare-Energien-Gesetzes oder eine Verzögerung der CO2-Grenzwerte für | |
Autos allerdings nicht. | |
Das nämlich hatte Ende März die Lobby der EU-Autoindustrie gefordert. In | |
der Krise müsse der Zeitrahmen für die europäischen CO2-Grenzwerte für | |
Autos überdacht werden, weil neue Modelle langsamer auf den Markt kämen. | |
Und der Verband der deutschen Autobauer VDA warnte die Bundesregierung vor | |
Plänen der EU, bei ihren Überlegungen zum „Green Deal“ die ohnehin schon | |
ehrgeizigen Flottengrenzwerte noch einmal zu verschärfen. Es sei in der | |
derzeitigen Krise den Autobauern nicht zuzumuten, da „noch etwas | |
draufzupacken“, heißt es vom VDA. | |
## Wirtschaft will Klimaziele strecken | |
Auch der Wirtschaftsrat der CDU will in der Krise „alle Sonderbelastungen | |
der deutschen Wirtschaft auf den Prüfstand stellen“, sagte Generalsekretär | |
Wolfgang Steiger der Süddeutschen Zeitung. Die „klimapolitischen | |
Zielvorgaben“ der EU sollten „zeitlich gestreckt“ werden. | |
Der Industrie-Dachverband BDI wiederum wolle in der Krise bei Fristen und | |
Anträgen mehr Spielraum, heißt es aus der Groko, ein „liberaler Vollzug“ | |
sei zugesichert worden. Aus allen Richtungen prasselten die Forderungen: | |
Die Ticketabgabe für Flugreisen stoppen, das Chemikalienrecht für Textilien | |
entschärfen oder den EU-Emissionshandel aussetzen. Daraus ist erst einmal | |
nichts geworden – aber der Emissionshandel hat ja auch flexibel auf die | |
Krise reagiert, die Preise für CO2-Zertifikate sind etwa um ein Drittel | |
gefallen. | |
Teilweise erfolgreich dagegen war die Bauernlobby, die den Vollzug der | |
schärferen Düngeverordnung aufs nächste Jahr geschoben bekam. Und auch beim | |
Verbraucherschutz hilft Corona offenbar gegen zu viel Ambition: Die | |
Überwachung von Betrieben der Lebensmittelbranche soll wegen des | |
Infektionsrisikos erst einmal reduziert werden, kritisiert die | |
Organisation Foodwatch. | |
## „Trittbrettfahrer in der Krise“ | |
„Sicher gibt es Trittbrettfahrer in der Krise“, hat Umwelt-Staatssekretär | |
Jochen Flasbarth (SPD) beobachtet. Allerdings gingen die Vorstöße aus der | |
Industrie „kaum an die Substanz, etwa indem Grenzwerte oder der | |
Emissionshandel ganz angezweifelt werden“, sagte er der taz. Für ihn zeige | |
das, dass auch die Schlüsselindustrien wie Autobau, Stahl oder Chemie „den | |
Schalter inzwischen umgelegt haben, sich auf Treibhausgas-Neutralität | |
auszurichten“. | |
Das gilt allerdings nicht für die größte Volkswirtschaft der Welt. In den | |
Vereinigten Staaten nutzt die Trump-Regierung die Coronakrise, um weiter | |
radikal Umweltgesetze abzuwickeln. Die Umweltbehörde EPA hat in den letzten | |
Wochen den Schutz von Luft und Wasser weiter durchlöchert, dreckige | |
Industrien von Öko-Auflagen entbunden und die Effizienzstandards für Autos | |
gelockert. Und die Ölindustrie setzt alles daran, die umstrittene Pipeline | |
Keystone XL mitten in der Pandemie durchzusetzen. Während das Land in den | |
Lockdown geht, werden nach Medienberichten Arbeiter für die Pipeline | |
herangeflogen – und viele betroffene Staaten haben Proteste gegen das | |
Projekt mit neuen Bestimmungen unter schwere Strafen gestellt. | |
14 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] http://www.duh.de/fahrradstra%C3%9Fen-jetzt | |
[2] /Temporaere-Radinfrastruktur/!5674769 | |
[3] /Die-EU-Kommission-und-der-Green-Deal/!5670444 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
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