| # taz.de -- Radrennen im Homeoffice: Von der Rolle | |
| > Über 4.000 Radfahrer sind beim virtuellen Rennen Mailand–Sanremo dabei. | |
| > Zu Coronazeiten wird die simulierte Welt immer beliebter. | |
| Bild: Regensicher: Radprofi Pawel Poljanski strampelt die erste Giro d'Italia-E… | |
| So ganz ist der echte Frühjahrsklassiker Mailand–Sanremo dann doch nicht | |
| aus dem Terminkalender der Pedaleure gestrichen worden. Natürlich | |
| strampelte niemand am 21. März durch das europäische Epizentrum der | |
| Coronaepidmie, durch die Straßen Norditaliens. Die einheimischen | |
| Gesundheitsbehörden verkündeten bereits Anfang März das Aus für alle | |
| Draußen-Veranstaltungen. Doch virtuell fand Mailand–Sanremo statt. | |
| Am letzten Samstag, dem lange geplanten Austragungstermin des abgesagten | |
| Rennens, konnten zumindest die letzten 57 Kilometer mit den mythischen | |
| Anstiegen Cipressa und Poggio unter die Pedale genommen werden. Mehr als | |
| 4.000 Fahrer loggten sich über ihre Garmin-Radcomputer in den Kurs ein. | |
| Unter ihnen war mit Vincenzo Nibali auch ein früherer Gewinner des echten | |
| Rennens. „Es war eine schöne Initiative, die Strecke zu fahren, während ich | |
| zu Hause blieb“, teilte Nibali später mit. Es war eher eine Trainingsfahrt, | |
| zu Hause auf der Rolle. Zudem eine Möglichkeit, mit Kollegen und Fans zu | |
| chatten. | |
| Zahlreiche Rennställe nutzen derzeit die digitalen Möglichkeiten. Das | |
| australische Team Mitchelton-Scott entwickelte auf der Plattform Zwift eine | |
| ganze Serie von Trainingsfahrten und sogar Wettkämpfen. In vier | |
| unterschiedlichen Leistungsgruppen wurden etwa einzelne Gipfel erklommen. | |
| Amateurradler konnten sich unter die Profis mischen. Auch [1][Israel | |
| Start-Up Nation], Rennstall von André Greipel und Nils Politt, lud letzte | |
| Woche zu einem Trainingsausritt auf Zwift ein. | |
| Greipel, elffacher Etappensieger bei der Tour de France, ist schon ein | |
| alter Zwift-Hase. „Ich bin seit drei, vier Jahren dabei und einer der | |
| ersten Profis, die das nutzten“, erzählt er der taz. Er benutzt die App vor | |
| allem zum Training. „Es gibt dort viele schöne Trainingsprogramme. Man kann | |
| sie sich selbst erstellen, aber auch Zwift bietet Trainingspläne an, die | |
| man über mehrere Wochen befolgen kann“, erzählt er. | |
| ## Kurven fahren im Wohnzimmer | |
| Interessant für ihn und andere Profis sowie ambitionierte Amateure ist, | |
| dass die Programme exakt auf die funktionelle Leistungsschwelle, also die | |
| zu erreichenden Wattwerte, einstellbar sind. | |
| Möglich ist dies dadurch, dass die smarten Rollen, auf denen die Rennfahrer | |
| sitzen, die Leistung in Watt, aber auch Parameter wie Herzfrequenz messen | |
| und die Daten über Bluetooth an die App weitergeben. Wenn der Kurs eine | |
| Steigung hat, wird automatisch der Widerstand der Pedale größer. Man muss | |
| also mehr Kraft aufwenden. | |
| „Es ist ein vollkommen realistisches Szenario“, erzählt [2][Jason Osborne]. | |
| Er ist Ruderer im Hauptberuf, wurde 2018 Weltmeister im | |
| Leichtgewichtseiner. Sein Herz schlägt aber auch für den Radsport. Für den | |
| auf der Straße wie den virtuellen. Er wurde unter anderem Fünfter bei den | |
| Deutschen Meisterschaften im Zeitfahren. Auch für große Leistungen in den | |
| Bergen reichen seine Wattwerte. „Auf Strava bin ich unter den Top 10 in | |
| L’Alpe-d’Huez“, meint er stolz. Auf die App Strava können Radsportler die | |
| Zeiten hochladen, die sie für die Bewältigung von Anstiegen gebraucht | |
| haben. Osborne bestritt auch noch die Alpe du Zwift. Das ist virtuelles | |
| Klettern im digitalen Nachbau von L’Alpe-d’Huez. Osborne gewann den | |
| Wettbewerb sogar. | |
| „Vom Leidensdruck her ist es auf jeden Fall gleich“, vergleicht er die | |
| virtuelle und die realweltliche Piste. Jede Verschärfung des Anstiegs | |
| schlägt sich im erhöhten Widerstand der Pedale nieder. Auch optisch ist die | |
| Szenerie gut eingefangen. „Wir fahren die Strecke mit 360-Grad-Kameras ab | |
| und nehmen die gesamte Umgebung auf. Diese Aufnahmen verknüpfen unsere | |
| Spiele-Designer mit Geodaten im gpx-Format und Bildern von Google Street | |
| View, um eine exakte digitale Kopie des Kurses zu erstellen“, erklärt Chris | |
| Snook, Sprecher von Zwift. Zahlreiche ‚echte‘ Kurse hat Zwift bereits | |
| kreiert. Die WM-Kurse von Richmond, Yorshire und Innsbruck gehören dazu, | |
| auch der Olympiakurs von London. Und auch die erste Etappe des Giro 2019, | |
| den Zeitfahrkurs von Bologna, kann man auf Zwift befahren. | |
| ## Gerüchte um den virtuellen Giro | |
| Für virtuelle Kopien der ausgefallenen Rennen dieser Saison reichte aber | |
| die Zeit nicht. „Wir brauchen Monate, um einen solchen Kurs zu kreieren“, | |
| bittet Snook um Verständnis. Gerüchten in der Szene zufolge bastelt die | |
| Firma aber gegenwärtig an dem Auftaktzeitfahren des Giro d’Italia 2020 in | |
| Budapest. Das war für den 9. Mai terminiert, ist jetzt aber auf ein | |
| unbestimmtes Datum verschoben. Die virtuelle Version könnte also noch vor | |
| der realen Austragung präsentiert werden – oder als deren Ersatz, falls der | |
| Giro komplett ausfällt. | |
| Denn wie es draußen weitergeht, weiß derzeit niemand. „Mein nächstes Rennen | |
| in dieser Saison? Gute Frage“, meint Radprofi Greipel nur. Er nutzt die | |
| Trainingseinheiten auf Zwift, um sein aktuelles Niveau zu halten – und dann | |
| an Intensitäten zuzulegen, wenn sich wieder ein Rennkalender abzeichnet. | |
| Laut Angaben von Zwift-Sprecher Snook nutzen derzeit mehr als 200 Profis | |
| aus WorldTour-Rennställen die Plattform. Bekannte Namen sind darunter wie | |
| Toursieger Geraint Thomas und Universaltalent Mathieu van der Poel. „Einer | |
| der ausdauerndsten Nutzer ist mit fast 19.000 gefahrenen Kilometern Edvald | |
| Boasson Hagen“, teilt Snook mit. Mehr noch, etwa 20.000 Kilometer soll der | |
| Triathlon-Olympiasieger und dreifache Ironman-Gewinner [3][Jan Frodeno] | |
| absolviert haben. „Jan hat gerade eine neue Rennserie gestartet – | |
| Frodissimo Friday. Da waren zuletzt 2.000 Teilnehmer dabei“, sagt Snook. | |
| Auf den virtuellen Renn- und Trainungsstrecken treten viele prominente | |
| Athleten unter ihren echten Namen auf. Sie sind für die Mitfahrer | |
| ansprechbar, wie Greipel versichert. „Es sind derzeit viele Leute unterwegs | |
| auf Zwift. Natürlich kann man bei mir mitfahren am Hinterrad. Da wird auch | |
| der Windschatten eingerechnet. Und unterwegs kann man miteinander chatten“, | |
| sagt Greipel. | |
| ## Schummeln um Spitzenplätze | |
| Diese sozialen Qualitäten schätzen viele Profis. „Bevor es Zwift gab, war | |
| Rollentraining eine einsame Sache. Du warst zu Hause, für dich allein. | |
| Jetzt aber kannst du nicht nur in die Umgebungen eintauchen. Du kannst dich | |
| auch mit deinen Kumpels treffen und mit ihnen reden, egal, wo sie sich | |
| aufhalten“, meinte Adam Yates nach der Mountain Chop Challenge seines Teams | |
| Mitchelton Scott auf Zwift. Auch für Greipel ist dank der virtuellen | |
| Umgebung der Reiz am Rolle-Fahren gestiegen – von etwa minus unendlich auf | |
| ein freudvolles Maß. „Ich habe Rolle fahren gehasst. Aber seit es Zwift | |
| gibt, schaffe ich auch, drei, vier Stunden auf der Rolle zu fahren“, sagt | |
| er. | |
| Mit Wettkämpfen auf Zwift mag sich der Kölner aber noch nicht so | |
| anfreunden. „Rennen fahre ich ungern, es ist ja schon sonst genug Quälen | |
| dabei. Ich muss mich nicht noch auf der Rolle mit jemandem messen“, meint | |
| er. Sprintduelle auf Zwift trägt er also eher nicht aus. Ein wenig | |
| schrecken ihn auch die Schummelmöglichkeiten im virtuellen Raum ab. Wer nur | |
| ein reduziertes Gewicht angibt, fliegt dann manchmal die Berge hoch oder | |
| entwickelt eine enorme Endgeschwindigkeit. „Bei manchen fragt man sich da | |
| schon, warum sie nicht bei der Tour de France antreten“, meint Greipel | |
| trocken. | |
| Gegen die derbsten Schummeleien geht Zwift aber vor. „Bei den großen | |
| Wettkämpfen ist es so, dass man sein Gewicht über Online-Waagen messen | |
| muss. Und wenn es ganz krasse Watt pro Kilogrammwerte gibt, werden diese | |
| Leute auch aus der Wertung genommen“, berichtet Osborne. Zwift steht hier | |
| vor vergleichbaren Problemen wie anfangs die App Strava. Da versuchten | |
| einzelne Rekordjäger auch, Gipfelbestzeiten mit dem Auto zu erreichen, | |
| dabei den Radcomputer brav auf dem Schoß haltend. Damals halfen | |
| Algorithmen, die Schummeleien aufzuspüren. | |
| Etwa 1.000 Trainingsprogramme und gut 300 Events täglich werden angeboten, | |
| erzählt Snook. Sogar Pflastersteinsektionen gibt es, noch nicht aber | |
| Nachbildungen vom [4][Klassiker Paris–Roubaix]. „Wenn man diese Strecken | |
| mit den Smart-Trainern von Tacx Neo oder Flux fährt, überträgt sich durch | |
| die Vibrationen sogar das Rüttelgefühl, als würde man über das Pflaster | |
| fahren. Das ist ziemlich cool“, schwärmt Snook. | |
| Man fragt sich fast, warum es denn überhaupt noch Radfahren draußen gibt, | |
| wenn doch die Simulation so toll ist. | |
| Einen etwas bedenklichen Effekt des Fahrens in den eigenen vier Wänden hat | |
| Ruderer und Radsportler Osborne bereits an sich beobachtet. „Bevor es Zwift | |
| gab, bin ich mehr draußen gefahren, auch wenn das das Wetter nicht so toll | |
| war. Jetzt aber gehe ich, kaum wird es etwas schlechter, gleich auf die | |
| Rolle“, sagt er. | |
| Zwift kann so manchen harten Kerl und manche windbeständige Frau also auch | |
| ein wenig verweichlichen. Aber vielleicht sind die nächsten Editionen für | |
| noch höheren Erlebniswert dann mit Sprinkleranlagen und Windmaschinen | |
| verbunden, um Regen und Wind zu simulieren. Über die Schnittstellen des | |
| Smart Home könnte man ja schon jetzt die Temperaturen verändern. | |
| 27 Mar 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Neues-Radteam-aus-Israel/!5646147 | |
| [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Jason_Osborne | |
| [3] /Ironman-auf-Hawaii/!5452537 | |
| [4] /Radsportklassiker-Paris--Roubaix/!5494696 | |
| ## AUTOREN | |
| Tom Mustroph | |
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