# taz.de -- Ski fahren in Zeiten des Klimawandels: Die letzte Abfahrt | |
> Unser Autor stand schon als Kind auf Skiern. Irgendwann empfand er statt | |
> Skispaß nur noch Skischam – wegen der Umwelt. Ein Abschied von der Piste. | |
Bild: Schlechte Aussichten: Die Zukunft des Skifahrens in Deutschland | |
Die Skier stehen in einem großen Schrank des Hobbyraums, links neben der | |
Modelleisenbahn. Noch hinter den Rollerblades, von denen ich nicht weiß, | |
wem die mal gehört haben sollen. Der Skianzug auf dem Bett meines | |
Kinderzimmers ist AfD-blau. Kein Mensch würde sich heute so einen Skianzug | |
kaufen. So ein Blau wäre viel zu obszön. Aber anziehen muss ich ihn heute | |
wohl oder übel, denn es ist mein Skianzug. Er ist ein Relikt aus meiner | |
Jugend, als ich an Wintermorgen wie diesem in den Keller ging, meine Skier | |
und Skischuhe holte, und in das Auto einer meiner Schulfreunde stieg – in | |
Richtung Skigebiet – in die blaue, naive Freiheit. Es waren schöne Zeiten. | |
Ohne AfD. Ja auch die große Koalition gab es noch nicht. Und wenn, dann | |
wäre das alles sowieso völlig egal gewesen. | |
Vor uns der Berg, die erste Gondel, die ersten Schwünge auf dem riesigen | |
knirschenden Teppich der Pistenraupe, angeschienen von der frühen kalten | |
Wintersonne. Ski fahren war eine Liebe, schüchtern zwar, mit komplexen | |
Anläufen, aber immer wieder sehr leidenschaftlich. | |
Ich ließ immer alle vorfahren, und dann kam ich. Ich stieß mich ab, warf | |
mich in die Kanten, ließ mich hinauskatapultieren. Zeichnete in das weite | |
Weiß meine Schwünge. Aus dem leuchtenden Gipfelmorgen in das Blau des Tals. | |
Mein Atem und das Pfeifen des Winds. Und im Wald dann nur noch Stille. Eine | |
Jugend in Oberbayern, eine Jugend im Schnee. | |
Zum Studium 2006 zog es mich in die Ferne, ins Flachland. Und die Welt | |
wurde eine andere. Bis auf ein-, zweimal mit Freunden habe ich meine Skier | |
nicht mehr benutzt – erst wegen des Geldes und dann aus Überzeugung. Heute | |
lade ich das Zeug in meinen Golf, kratze den dünnen Eisfilm von meiner | |
Windschutzscheibe und frage mich, ob die Überwindung je größer war als in | |
diesem Moment, einem großen Vergnügen entgegenzufahren. Was für ein | |
Blödsinn! | |
In das folgende Experiment willigte ich nur unter der Bedingung ein, dass | |
die taz die Fahrtkosten und den Skipass zahlt. Es ist mir ernst. Es sind | |
ein paar Dinge sehr ernst geworden. Und so etwas wie Ski fahren ist Teil | |
dessen, was ich als ernsthaftes Problem betrachte. Menschen, die für ihren | |
Freizeitspaß sehr viel Geld ausgeben, sehr viele Kilometer zurücklegen, um | |
dann auf Millionen Litern gefrorenen Wassers die fragilsten Naturräume | |
Mitteleuropas zu durchschneiden. | |
Massentourismus in den Alpen ist Gift für den Artenschutz, und er steckt in | |
einer Sackgasse. Denn in etwa dreißig Jahren wird wohl an den meisten Orten | |
Schluss damit sein. [1][Ski fahren ist Blödsinn in gleich mehreren | |
Dimensionen.] Und gerade deshalb fahre ich heute Ski. Ich will wissen, oder | |
besser spüren, was einen dazu treibt, diesen Mist Winter für Winter zu | |
wiederholen. Und ob es einen Plan gibt – für die Zeit nach der großen | |
Sause. | |
„Ich sage Ihnen mal was.“ Peter Lorenz, ein gemütlicher Mann mit rundem | |
Gesicht und Nickelbrille, sitzt am bäuerlichen Holztisch in seinem Büro | |
unterhalb der Brauneck-Bahn. „Es gibt so viele Leute, die einen Plan für | |
den Klimawandel haben. Wir haben keinen.“ Lorenz ist Geschäftsführer von | |
zwei Skigebieten in den bayerischen Voralpen. [2][Das Brauneck ist der | |
Hausberg der Münchner*innen, 1.555 Meter hoch] – die erste Skigelegenheit | |
in den Voralpen. | |
## Uncoole Schlepplifte | |
„Wir wissen, dass Ski fahren in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren | |
möglich ist“, erläutert Lorenz die Fakten. Die sind für den Geschäftsmann | |
ziemlich einfach. Zehn bis fünfzehn Jahre dauert es, bis sich die neue | |
Sesselbahn auf dem Südhang finanziell lohnt. Zusammen mit der | |
Beschneiungsanlage hat sie 10 Millionen Euro gekostet. Offenbar noch | |
machbar. | |
Früher fuhren Wintersportfreunde mit dem Zug die gute Stunde aus München | |
nach Lenggries. Und stapften den Berg hoch. 1957 eröffnete dann die | |
Kabinenbahn, die bis heute die Wanderer*innen und Skifahrer*innen von | |
ganz unten auf den Gipfel bringt. Dazu kamen weitere kleine | |
„Aufstiegshilfen“, meistens Schlepplifte, die in meiner Kindheit in den | |
Neunzigern vorherrschten. Ziemlich uncool damals, gegenüber Österreich mit | |
seinen Express-Sesselbahnen. | |
Im Skikursbus karrte man uns Münchner Vorstadtkinder morgens in den | |
Isarwinkel. Und als meine Familie an den Alpenrand zog, waren wir | |
samstagmorgens in zwanzig Minuten an der Gondel – vor allen Münchner*innen, | |
die sich teils über eine Stunde in der Schlange stauten. An Wochenenden | |
kommen heute zwischen 5.000 und 8.000 Menschen zum Brauneck. Im Vergleich | |
zu Skigebieten in Tirol ist der Parkplatz riesig. Die meisten hier sind | |
Tagesgäste. | |
Peter Lorenz greift sich seinen Helm und seine Skier und schiebt mich aus | |
dem Büro, nach oben zur Gondel. Wir fahren hinauf. Die Wipfel der Fichten | |
tragen eine dünne Schneeschicht. Die Woche war durchwachsen. Vorgestern hat | |
es bis auf 2.000 Meter hinauf geregnet. Dazu Orkanböen. „Wir haben das | |
Skigebiet zwei Tage lang zugemacht und den Schnee nicht angerührt.“ Dann | |
schneite es einen halben Tag lang und sie halfen in zwei kalten Nächten mit | |
Schneekanonen nach. „Sie werden sehen, die Schneebedingungen sind optimal.“ | |
Kurz nach der Talstation überquert die Bahn den Garlandkessel. Stolz blickt | |
Peter Lorenz auf den ovalen Beschneiungsteich, den sie hier künstlich | |
angelegt haben. Ein Speicher für Wasser, der mehr als 100.000 Kubikmeter | |
fasst. Früher war dort ein Wäldchen, meine snowboardenden Handballkumpels | |
bauten dort Sprungschanzen in den Tiefschnee. [3][Heute gibt es hier | |
planierte Pisten um den Teich.] Er ist zu zwei Dritteln leer. Die | |
Schneekanonen haben ihn ausgetrunken. In einem Winter, den ich zu Hause in | |
München eher als regnerische Pause vom Sommer wahrnehme. | |
Alfred Ringler ist seit Jahrzehnten Kritiker der künstlichen Beschneiung. | |
Der Naturschützer lebt im Voralpenland und hat nichts gegen Skifahren an | |
sich: „doch sollten die Berge von oben bis unten verschneit sein“. Auf | |
natürliche Weise. Den Biologen stören vor allem die vielen Wasserleitungen, | |
die in die Hänge gegraben wurden, um Schneekanonen zu versorgen. Damit | |
zapfe man empfindlichen Feuchtgebieten das Wasser ab – in denen sogar | |
Bachforellen überwintern könnten. | |
[4][Die Bergbahnbetriebe verschleierten mit ihren Schneekanonen die | |
Realität]: „Wir unterhalten da künstlich Skizentren, obwohl die | |
Schneeverhältnisse vielleicht schon seit zwanzig Jahren gar nicht mehr | |
ausreichen.“ | |
Schneekanonen haben die Bäume ersetzt | |
Peter Lorenz, der Geschäftsführer der Bergbahn am Brauneck, sieht es | |
andersherum: „Wir haben viel bessere Winter als vor zwanzig, dreißig | |
Jahren.“ Er meint damit die Schneeverhältnisse, die sich heute künstlich | |
regulieren lassen. Das kann ich bestätigen. Früher fuhr ich hier oft auf | |
braunen Pisten, über die immer wieder Steine rieselten, die die Skier | |
zerkratzen. Heute fährt es sich auf allen Abfahrten solide. Der Schnee ist | |
griffig und idiotensicher. | |
Ich werfe mich in die zuckerguss-weiße Wonne. Und weiß doch, es ist ein | |
künstliches Paradies. An manchen Waldstücken, durch die ich früher so gern | |
fuhr, weil sie etwas Verwunschenes hatten, [5][haben Schneekanonen die | |
Bäume ersetzt.] Ich fühle Skischam. Oder ist das nur mein urbaner | |
Lebensstil, mit dem ich so was wie SUVs, Plastik und Ski fahren verachte? | |
Meine Skifahrerkarriere gehörte zu einer Kleinstadtjugend, in der man sich | |
den Freundeskreis nicht nach politischer Haltung aussuchte. Auf den Sport | |
konnten wir uns einigen. Gemeinsam waren uns vor allem die Eltern, die uns | |
den Skipass sponserten. Und: Auf Skiern war ich nicht annähernd so ungelenk | |
und kraftlos wie beim Schulsport. Ich wurde respektiert. | |
Heute arbeitet einer meiner besten Ski-Freunde bei einer Bank, ein anderer | |
kandidiert gerade auf der CSU-Liste für den Gemeinderat seines Heimatdorfs | |
am Fuß des Braunecks. Wir treffen uns noch auf Geburtstagen und mögen uns | |
irgendwie. Aber wir teilen fast nichts mehr. Habe ich mich von ihnen | |
entfremdet? Steckt in der Skischam in Wahrheit auch das | |
Überlegenheitsgefühl, es rausgeschafft zu haben aus meiner langweiligen | |
Kleinstadt, in der das Skifahren vor allem für unkritischen Konformismus | |
stand? | |
Meine Skischam bekommt auf der Piste nun Gesellschaft, auf der | |
Finstermünz-Abfahrt treffe ich Claudia Stamm. Sie war Landtagsabgeordnete | |
bei den bayerischen Grünen, bis ihr die Partei 2017 zu stark in die Mitte | |
rückte. Sie gründete die linksökologische Partei „Mut“ und scheiterte an | |
der Fünfprozenthürde. Keine Politikerin kämpfte so erbittert gegen das neue | |
bayerische Polizeiaufgabengesetz wie sie. An diesem Vormittag schwingt | |
Stamm über die Piste wie eine Schneekönigin. | |
Ein paar Tage, bevor der Kommunalwahlkampf beginnt, entflieht sie kurz dem | |
Münchner Alltag – „weil es so schön ist“, sagt sie. Nach zwei Liftfahrt… | |
sind wir per Du. Auch für sie ist das Skifahren ein Konflikt. Sieben Jahre | |
lang pausierte sie. „Ich wollte dann nur noch dort Ski fahren, wo es keine | |
künstliche Beschneiung gibt. Doch das geht nicht mehr.“ Dass die bayerische | |
Staatsregierung den Ausbau von einigen Skigebieten auch weiterhin mit | |
Steuergeld unterstützt, Projekte die ökologisch keinen Sinn machten, sei | |
für sie „ein No-go“. | |
Beim gemeinsamen Einkehren auf der sonnenüberfluteten Panoramaterrasse | |
bestelle ich eine Gulaschsuppe. Wer Ski fährt, kann auch Fleisch essen. | |
Sonst mache ich das so gut wie nie. Hand aufs Herz: Was machen wir hier | |
eigentlich? Karneval? Claudia Stamm antwortet entschieden. Sie fühle sich | |
gerade nicht schlecht. „Ich war nie der Öko bei den Grünen“, sagt sie. Da | |
muss ich nicken. Ich bin kein Öko. Aber muss ich deshalb Ski fahren? | |
Aus Sicht des Bergbahngeschäftsführers veredelt das Skifahren die Bergnatur | |
erst so richtig. Dass der Kunstschnee den Berg aufweiche und zu mehr | |
Bergrutschen führe, sei „ein Schmarrn“, sagt Peter Lorenz. Am Brauneck habe | |
es schon immer kleine Bergrutsche gegeben. Daher ja auch der Name: | |
Brauneck. Lorenz ist überzeugt: Mit dem Kunstschnee schütze man die | |
Grasnarbe, weil die Skifahrer*innen sie jetzt nicht mehr durch die | |
Skikanten verletzen. | |
Vom sogenannten sanften Tourismus hält Peter Lorenz nicht viel. Dass | |
jenseits des massenhaften Fremdenverkehrs eine Zukunft liegt, glaubt er | |
nicht. Er weiß, dass es in einigen Jahrzehnten auf dem Brauneck vorbei ist | |
mit dem Skifahren. „Aber sicher ist auch, dass da weiter eine Bahn | |
hochgeht.“ Das Geschäft gehe weiter. Schon heute sei man ein beliebtes | |
Wanderziel. | |
Wie der Bergtourismus im Sommer aussieht, habe ich im vergangenen Jahr | |
erfahren. Vor ziemlich genau acht Monaten drückte die Luft gewittrig über | |
den Allgäuer Alpen, tintenblaue Wolken schoben sich vor die Sonne, und ich | |
irrte mit Lucia Böck über Almwiesen, auf der Suche nach einem Weg zum | |
Gipfel des Grünten. Lucia Böck ist das Gesicht von Fridays for Future in | |
Kempten. Auf dem Grünten hat sie Ski fahren gelernt – wie viele im | |
schwäbischen Teil von Bayern. | |
Die 19 Jahre alte Studentin hatte ihre Fridays-for-Future-Demopappe auf den | |
Rucksack geschnallt, sie wollte „einen weiteren Schlag ins Gesicht des | |
Klimaschutzes verhindern“. Immer wieder passierten wir auf unserem Weg die | |
Relikte von Schleppliften, verbarrikadierte Lifthäuschen, rostige | |
Stützpfeiler, um die herum sich Schmetterlinge jagten. | |
2017 hat das Skigebiet hier Pleite gemacht. Eine Familie, die im Ort am Fuß | |
des Grünten wohnt, wollte den Berg wieder flottmachen: die Schlepplifte | |
abreißen, stattdessen eine moderne Sesselbahn. | |
[6][Gerade weil der Klimawandel ansteht], wollte die Familie die Sesselbahn | |
auch im Sommer betreiben. Und um den Action-Faktor für die | |
Besucher*innen zu erhöhen, wollte sie den Grünten-Glider bauen, eine Art | |
Hänge-Sommerrodelbahn, die an Bäumen befestigt gewesen wäre. Weil Fridays | |
for Future protestierte und mit anderen Umweltschutzverbänden eine | |
Menschenkette um den Berg herum organisierte, sprach die Investorenfamilie | |
bald nicht mehr vom Grünten-Glider, sondern nur noch von einer | |
„Walderlebnisbahn“. Mit einer Höchstgeschwindigkeit von 50 Kilometern pro | |
Stunde. „Der Grünten ist kein Rummelplatz“, sagte Lucia Böck damals. | |
Die Bergachterbahn wurde im Dezember 2019 abgeblasen, weil sich vor allem | |
an diesem Teil des Projekts die Geister schieden. Für die einen, wie Lucia | |
Böck, wäre die Hängeachterbahn durch den Bergwald der maximale Affront | |
gegen die Tierwelt gewesen. Für die anderen eine Weltneuheit – und damit | |
ein Leuchtturm für die Urlaubsregion. Von weit her wären die Leute gekommen | |
wegen eines Nervenkitzels, den es in vergleichbarer Stärke nur auf Skiern | |
und Snowboards zu erleben gibt. Der Grünten-Glider wäre eine | |
Adrenalinreserve für die Zukunft des Allgäuer Bergtourismus gewesen: | |
klimawandelsicher. | |
Der Wirt auf der winzigen Gipfelalm berichtete von guten Verkäufen im | |
Winter. Es kämen jetzt statt der Alpinskifahrer*innen | |
Skitourengeher*innen auf den Grünten. Nette Gäste. Alle sind aus | |
eigener Kraft hochgekommen, haben sich angestrengt, alle sind zufrieden. | |
Mit dem sanften Tourismus ohne Lifte komme er gut klar. | |
[7][Ski fahren oder nicht?] Bei dieser Frage geht es nicht nur um Skifans | |
wie mich, Pistenbetreiber wie Peter Lorenz und einzelne Wirte hoch oben auf | |
dem Berg – meistens hängen ganze Regionen am Skitourismus. | |
## Die Skischulleiterin schaut neidisch über die Grenze | |
Michi Gerg leitet eine Skischule mit 60 Skilehrer*innen am Fuß des | |
Brauneck. „Die Wetterextreme sind heute viel stärker, und die Schneegrenze | |
hat sich nach oben entwickelt“, sagt sie. Ist hier in zwanzig Jahren | |
Schluss? „Das könnte realistisch sein.“ Michi Gerg trägt ihre blonden Haa… | |
offen und blickt beim Gespräch immer ein bisschen nach oben, bergwärts, | |
erhaben, strahlend, wie alle Skiprofis beim Interview in der „Sportschau“. | |
1989 holte sie Bronze bei der Weltmeisterschaft beim Super-G in Vail. Ihr | |
Großvater baute den ersten Schlepplift im Isarwinkel. „Er war ein Künstler, | |
ein Visionär“, sagt sie. Manche glaubten damals, er sei übergeschnappt. Bis | |
sie erkannten, dass er mit dem Schlepplift eine Geldquelle aufgetan hatte. | |
Auch Gerg würde „hier gern was ganz Großes hinbauen“. Klimawandel hin oder | |
her. Lohnen würde es sich noch. Doch die Baugenehmigungen für den Zielhang | |
sind in Bayern schwer zu bekommen. Sie schätze das ja, dass man hier nicht | |
alles „zubaut wie in Tirol“. Aber irgendwie schaut sie auch neidisch über | |
die Grenze. „Wenn man dort beim Tourismus A sagt, sagt man auch B.“ | |
Was kommt nach dem Skifahren? Da könne man Wander- oder Mountainbiketouren | |
anbieten, ist sich Michi Gerg sicher. „Man muss halt umdenken. Das Leben | |
bietet viele Chancen.“ Sagt sie und lächelt wie nach einer Siegerehrung. | |
Was würde dieser Ort verlieren mit dem Skigebiet? Michi Gerg zögert nicht: | |
„Viele Kinder würden nicht mehr Ski fahren lernen, wenn ihre Eltern dafür | |
bis nach Österreich fahren müssten.“ | |
Doch was, wenn diese Kinder gar nicht wüssten, was für ein Glück ihnen | |
entgeht? Ich habe noch keine. Nachfrage bei Jonas, meinem Bruder, | |
Umweltingenieur und Vater von zwei Kindern. Er sagt: Sollte der Nachwuchs | |
beim Besuch von Oma und Opa am Alpenrand mal den Wunsch äußern, Ski zu | |
fahren, „dann werden wir das nicht verhindern“. Aber ihn aktiv in den | |
Skikurs zu stecken – „das macht keinen Sinn.“ | |
Wie unterscheidet sich das doch von meinen Eltern, die uns frühmorgens zum | |
Skikurs karrten, ob wir wollten oder nicht. Die ersten Skitage sind kalt | |
und hart und ziemlich steil. Ich musste mich überwinden. Freiwillig hätte | |
ich es nie angefangen. Aber Ski fahren, das gehörte dazu wie | |
Schwimmenkönnen oder den Führerschein machen. Überall mitmachen zu können, | |
das war das bürgerliche Projekt meiner Eltern. Und unser bürgerliches | |
Projekt ist es, unseren Kindern die Autonomie zu vermitteln, nicht alles | |
mitmachen zu müssen. | |
Meine Familie tut sich schwer bei der Frage: [8][Klima versus Urlaubsspaß.] | |
„Na, wie war’s am Arlberg?“ Diese Frage an meinen Vater hat sich | |
ritualisiert. Mein Vater schwärmt in unseren Telefonaten meistens von dem | |
griffigen Schnee und der Sonne da oben. Ich bade dann selbst für die | |
Sekunden seiner Antwort in einer imaginären Höhensonne – umgeben von weiß | |
gezackten Zweieinhalbtausendern. Vielleicht reicht mir das, denke ich: die | |
Erinnerung an etwas sehr Schönes. | |
Doch ausgerechnet in diesem Jahr hängt mein Vater noch etwas an. Er und | |
meine Mutter haben sich beim Treffen mit meinen drei Brüdern darauf | |
verständigt, im kommenden Jahr zusammen in den Skiurlaub zu fahren. So | |
richtig mit ordentlichen Abfahrten, Sauna, schönem Abendessen und Bier in | |
der urigen Dorfbar. | |
Ich schaffe es, das Gespräch zu beenden und dabei weder meinen Vater in | |
seinem Enthusiasmus zu vergrätzen noch „toll“ zu sagen. | |
Meine Brüder, denke ich, was ist denn mit denen los? Vor allem mit Jonas. | |
Er berät in Leipzig Betriebe, wie sie die Energiebilanz verbessern können, | |
und wohnt zusammen mit seinen Kindern und seiner Frau, die ihre | |
Doktorarbeit zur juristischen Durchsetzung von Windrädern geschrieben hat, | |
in einer Mehrfamilien-WG. Zusammen mit Menschen, die in NGOs daran | |
arbeiten, das Postwachstum gesellschaftsfähig zu machen. | |
Die Windeln sind aus Stoff, der Kohlrabi aus der Kooperative. Seinen | |
Arbeitsplatz hat sich Jonas auch nach der Erreichbarkeit mit dem Rad | |
ausgesucht. Einer wie Jonas muss gute Gründe haben, warum er aktiv für | |
einen Skiurlaub eintritt. Zeit für ein ernsthaftes Telefonat. | |
Er wird nachdenklich, als ich das Thema anspreche. „Skifahren braucht man | |
tatsächlich nicht“, sagt Jonas, er, der Ingenieur, sieht die Dinge gern | |
analytisch. Skifahren sei ein „Tick Hedonismus Plus“. Wir schweigen. „Wie | |
seid ihr auf die Idee gekommen?“, will ich wissen. In Jonas’ Antwort bricht | |
nun immer wieder ein schalkhaftes Lachen durch. Es sei beim letzten Treffen | |
mit unseren beiden Brüdern passiert, bei dem ich nicht dabei war. Man hätte | |
getrunken, gelacht, Kindheitserinnerungen ausgetauscht – und dann: „Wir | |
hatten einfach mal wieder richtig Bock auf Skifahren“, sagt mein Bruder. | |
Wünsche gegen Moral. Herz über Kopf. Es ist der Gegensatz unserer Zeit. | |
Jeder muss damit umgehen – denn völlige Enthaltsamkeit ist schwierig. | |
Interessant ist, welche Strategien Menschen finden, um mit den | |
Widersprüchen umzugehen. Manche kaufen sich einen SUV und treten | |
gleichzeitig bei den Grünen ein. Manche fliegen nicht mehr, um weiterhin | |
Rindfleisch zu genießen. Kompromisse eben. | |
Gerade Skifahren sei doch eine ideale gemeinsame Aktivität. „Man ist | |
draußen, kann im Lift miteinander reden – auf der Piste kann wieder jeder | |
sein Ding machen“, sagt Jonas. Natürlich könne man im Skiurlaub ja auch mit | |
Mama langlaufen. Oder einfach nur spazieren gehen. „Aha“, sage ich. Das | |
klingt nach Kompromiss. | |
Meine vier Stunden am Brauneck sind um. Ich bin am Parkplatz, die Sonne | |
steht tief. Vereinzelt treffen noch Leute ein, die zur Bergbahn stiefeln | |
und die Frau am Schalter um eine Nachmittagskarte bitten: „Einmal Happy | |
hour.“ | |
Ich schaue zurück, die Hänge des Bergs hoch, die immer noch so | |
herzzerreißend wenig befahren sind. Ich greife zu meinem Autoschlüssel. Da | |
fällt es mir wieder ein. Nach dem Interview im Büro der Bergbahn, hat mir | |
der Geschäftsführer Peter Lorenz da nicht etwas zugesteckt? Ich suche in | |
den Taschen, da spüre ich eine zweite Karte: ein Tagespass. Mein Herz | |
schlägt schneller. Ich kehre um, stapfe zur Bergbahn, poltere durch das | |
Drehkreuz und sitze wieder in der Gondel. | |
Mir gegenüber sitzt ein Snowboarder mit Rauschebart. Er kommt aus einem | |
Nachbarort und hat eine Saisonkarte. Ich weihe ihn in meinen | |
Gewissenskonflikt ein. Seine Antwort kommt schnell: Gott will es so. Gott | |
will, dass wir uns an der Natur erfreuen. Und wollte er es nicht, dann | |
hätten die Menschen auch nicht das Skifahren erfunden. Eine bequeme | |
Antwort. | |
Wollte Gott, dass Wasser Hunderte Meter hoch aus Tiefbrunnen gepumpt und | |
nächtelang aus Druckdüsen herausdampft wird, um die kargen Hänge seiner | |
unwirtlichen Natur mit künstlichem Schnee zu überziehen? Der Snowboarder | |
schaut mich verständnisvoll an und empfiehlt die Onlinevideos eines | |
bekehrten Astrophysikers, der das mit dem Klimawandel mal etwas anders | |
darstellen würde als die Medien. Sorgen um die Zukunft des Skifahrens müsse | |
man sich keine machen. | |
Dann sind wir oben und wünschen einander einen schönen Skitag. Ich steige | |
in die Bindung, stoße mich ab und werfe mich in den Hang – zu der | |
wahrscheinlich letzten göttlichen Talabfahrt meines Lebens. | |
19 Feb 2020 | |
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