# taz.de -- Migration und Klimawandel: Zählung der Unbekannten | |
> Behörden und Entwicklungsorganisationen reden viel von Klimamigration. | |
> Was genau ist das? Es gibt verschiedene Definitionen und Schätzungen. | |
Bild: Schmelzende Eisfiguren aus einer Kunstaktion des WWF stehen symbolisch f�… | |
BERLIN taz | Es gibt sie, aber niemand weiß wirklich, wer sie sind und wie | |
viele von ihnen unterwegs sind: Menschen, die wegen der Klimakrise ihre | |
Heimat verlassen müssen. Während Hilfsorganisationen und die Weltbank mit | |
unsicheren Zahlen über „Klimaflüchtlinge“ hantieren, sind Definition und | |
Größe dieser Menschengruppe völlig unklar. Eine Lösung für das Problem der | |
erzwungenen Migration wegen Klimaschäden ist auf UN-Ebene auch deshalb in | |
weiter Ferne. | |
Wie unterschiedlich gerechnet wird, zeigen verschiedene Studien: Die | |
„[1][Klimakrise zwingt jährlich 20 Millionen Menschen zur Flucht]“, warnte | |
die Hilfsorganisation Oxfam anlässlich ihrer Studie zum Thema „Forced from | |
Home“, die sie auf der UN-Klimakonferenz in Madrid vorstellte. Die | |
[2][Weltbank schätzt in einer Studie von 2018], dass im Jahr 2050 im | |
schlimmsten Fall bis zu 140 Millionen Menschen jährlich wegen | |
Klimaveränderungen ihre Heimat verlassen müssen. Sie suchen demnach als | |
„Binnenmigrant*innen“ Schutz im eigenen Land. | |
Das Flüchtlingshilfswerk der UN (UNHCR) verwendet wieder andere | |
Schätzungen: Demnach würden bereits heute etwa 25 Millionen Menschen pro | |
Jahr durch Klimawandel und Naturkatastrophen vertrieben. Genauere Daten | |
sind auch deshalb schwer zu erheben, weil Klimawandel keine offizielle | |
UNHCR-Kategorie für Fluchtbewegungen ist. Die Behörde bleibt vage, wer | |
Klimaflüchtling ist. „Menschen, die aufgrund von Klimawandel oder | |
Naturkatastrophen vertrieben werden, könnten Flüchtlinge sein“, sagt | |
Sprecher Chris Melzer. | |
Oxfam beruft sich in seiner Studie auf die Daten des Internal Displacement | |
Monitoring Centers (IDMC) in Genf. Das IDMC, eine renommierte | |
Nichtregierungsorganisation, die vom norwegischen Flüchtlingsrat NRC | |
finanziert wird, sammelt weltweit Daten von Behörden, UN-Organisationen, | |
NGOs und Medien über Binnenvertreibungen. Aus den IDMC-Statistiken ergeben | |
sich über zehn Jahre gemittelt etwa 20 Millionen Vertriebene, die wegen | |
Wetterextremen wie Überflutungen und Stürmen fliehen. | |
## Mit Zahlen Aufmerksamkeit schaffen | |
Diese Zahlen hält Christiane Fröhlich vom Leibniz-Institut für Globale und | |
Regionale Studien (GIGA) für zuverlässig. Allerdings seien sie nur so gut | |
wie die Infrastruktur im jeweiligen Land, räumt Sylvain Ponterre vom IDMC | |
ein. In Eritrea etwa registrierte das IDMC wohl wegen Datenproblemen nur | |
100 Vertriebene in den vergangenen zehn Jahren. Fröhlich erklärt auch, dass | |
„die Organisationen mit diesen Zahlen Druck auf Entscheidungsträger | |
aufbauen“. So erschien diese Studie rechtzeitig zum Klimagipfel von Madrid, | |
bei dem um Entschädigung für Klimaschäden gerungen wurde. | |
„Klimawandel ist auf jeden Fall ein Treiber für Migration“, sagt Benjamin | |
Schraven vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik. „Aber der | |
Zusammenhang ist viel subtiler und komplexer, als dass er in einer Zahl | |
dargestellt werden könnte.“ | |
Viele Fragen sind unbeantwortet: Hat eine Katastrophe wie eine | |
Überschwemmung oder eine langjährige Dürre die Migration ausgelöst? Wurden | |
Menschen zum Umzug gezwungen oder suchen sie ohnehin eine neue Heimat? Wer | |
gilt hier als [3][Klimamigrant]? „Eine Migrationsentscheidung ist nie | |
trennscharf. Politische, wirtschaftliche, persönliche Gründe – alles spielt | |
hinein“, sagt Schraven. | |
## Erzwungene Immobilität vernachlässigt | |
GIGA-Expertin Christiane Fröhlich warnt außerdem vor der Wirkung solcher | |
Zahlenspiele: „Die Zahlen können Alarmismus bedienen.“ Sie stellt daher die | |
Frage, ob solche alarmierenden Zahlen von MigrantInnen in den | |
Industrieländern [4][eher zu mehr Angst oder zu mehr Klimaschutz führen]. | |
„In den letzten vier Jahren sind solche Zahlen auch dazu verwendet worden, | |
für mehr Abschottung in Europa zu werben“, meint Fröhlich. | |
Beide ExpertInnen erinnern daran, dass in der Diskussion um erzwungene | |
Mobilität ein Aspekt völlig fehle: die erzwungene Immobilität. „Die | |
Menschen mit den wenigsten Ressourcen können überhaupt nicht mehr umziehen. | |
Denn das kostet Geld“, gibt Fröhlich zu bedenken. „Noch stärker vom | |
Klimawandel getroffen werden also diejenigen, die nicht mehr mobil sein | |
können und so vor seinen Folgen nicht mehr fliehen können.“ | |
19 Dec 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Oxfam-Studie-zum-Klimawandel/!5641411 | |
[2] https://www.worldbank.org/en/news/press-release/2018/03/19/climate-change-c… | |
[3] /Klimafluechtling-ueber-Flut-und-Duerre/!5336336 | |
[4] /Der-Klimawandel-als-Kriegstreiber/!5281181 | |
## AUTOREN | |
Isabel Röder | |
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