| # taz.de -- New Weird Bavaria: Klänge des Berstens | |
| > Münchens biederer Ruf feuert die alternative Musikszene an. Das beweisen | |
| > neue Werke von der Hochzeitskapelle und vom Trio Carl Gari. | |
| Bild: Carl Gari mit Abdullah Miniawy (dritter von links) | |
| Es ist nicht lange her, da wollte der Musiker und Label-Macher Sebastian | |
| Schnitzenbaumer die Stadt München wegen Rufschädigung verklagen. Dies | |
| führte wiederum zu Diskussionen, die auch außerhalb der bayerischen | |
| Landeshauptstadt für Aufsehen sorgten. Schnitzenbaumer fragte sich, ob das | |
| konservative Marketing, das seine Heimatstadt betreibt, auch negative | |
| Auswirkungen auf die Kulturschaffenden haben könnte. In diesem Falle | |
| lautete der Vorwurf: Für selbstständig organisierte (Sub-)Kultur sei das | |
| Image von München als Saubermann-Metropole und volkstümelnde | |
| Oktoberfest-Hölle ein Standortnachteil. | |
| Fakt ist, die alternative Musikszene Münchens hat es schwerer als jene in | |
| vergleichbaren Großstädten: Es gibt kaum bezahlbare Übungsräume, gute | |
| Auftrittsorte sind rar gesät. Freund:innen der elektronischen Tanzmusik | |
| freuen sich zwar einerseits über den neuen Vorzeigeclub „Blitz“, der | |
| internationale DJs in den Seitenflügel des Deutschen Museums holt; freie | |
| Veranstalter aus dem Underground klagen andererseits darüber, dass | |
| Booking-Agenturen München zu oft übergehen. | |
| Die Subkultur beweist gerade in ihrer Nische Durchhaltewillen. Beweise | |
| dafür gibt es in jüngster Zeit genug: der Output des Labels [1][Permanent | |
| Vaca]tion und das Schaffen von Künstler:innen wie Pollyester und der | |
| Post-Punk-Band [2][Candelilla] erfreuen Fans und Kritiker gleichermaßen. | |
| ## Vom Sousaphon bis zum Harmonium | |
| Innovationsfreudigkeit zeigt sich dieser Tage erneut – gleich zweifach: Bei | |
| den grundunterschiedlichen Projekten Hochzeitskapelle und Carl Gari. Die | |
| [3][Hochzeitskapelle] gründete sich schon 2012. Anlass war eine Heirat. | |
| Doch entwickelte sich daraus gleich eine relativ beständige Gruppe, die aus | |
| den beiden Notwistlern Micha & Markus Acher, Evi Keglmaier von der | |
| Zwirbeldirn, Mathias Götz von Le Millipede und dem Bassisten Alex Haas | |
| besteht. Anders als das Line-up suggeriert, steht nicht Indietronica im | |
| Vordergrund des Schaffens, sondern „handgemachte Musik“ mit | |
| traditionalistischen Stilmitteln. Vom Sousaphon bis zum Harmonium, vom | |
| Schlagzeug bis zum Banjo – benutzt die Kapelle das ganze Sammelsurium an | |
| Folk-Instrumenten, um damit eine erstaunliche Mixtur aus Pop- und | |
| Jazzeinflüssen im Sinne von Volksmusik zwischen Klezmer, Balkan und der | |
| bayerischen Blasmusiktradition zu verarbeiten. | |
| Die 14 Coverversionen, die sich auf dem neuen Album „If I Think of Love“ | |
| wiederfinden, wagen einen Spagat: Von US-Folk-Legende Elliott Smith bis | |
| zu Romy Schneider („Chanson d’Hélène“), von der japanischen Popband | |
| Tenniscoats bis zu peruanischer Cumbia reicht das Repertoire. Hinter der | |
| beschwingten Spielfreude tut sich eine Steilwand von Sehnsucht und Wehmut | |
| auf. Die Künstler:innen nennen es „musikalische Lebensbegleitung“. Ein | |
| weltumspannendes Musik-gewordenes Gedächtnis wird damit aufgerufen, das in | |
| seinen Neuinterpretationen permanent den Hauch von Global Pop atmet. | |
| Spannend also, dass man in München auf „Coolness“ und Distinktion von | |
| großen Underground-Märkten, Berlin und London etwa, pfeift und einfach nur | |
| versucht, interessante Musik zu machen. | |
| Ganz anders geht diese Aufgabe das Trio [4][Carl Gari] an. Jonas Yamer, | |
| Till Funke und Jonas Friedlich setzen weniger auf Rumpeljazz oder „echte | |
| Musik“. Sie produzieren hingegen zeitgemäßen technoiden Elektronica-Sound, | |
| den man gerne auch als experimentellen Jazz-Entwurf lesen darf. Damit | |
| erinnert der Sound von Carl Gari etwa an die Superzeitlupensoundtracks von | |
| Bohren & der Club of Gore. Musik, die zwischen den Noten entsteht, von | |
| vibrierenden Bässen und langsam dahinfließenden Beats. | |
| ## Auf dem Weg nach unten | |
| Für „The Act of Falling from the 8th Floor“ arbeitet das Trio – genauso … | |
| auf der Debüt-EP „Darraje“ (The Trilogy Tapes, 2016) – erneut mit dem | |
| ägyptischen Dichter und Sänger Abdullah Miniawy zusammen. Dieser flüchtete | |
| aus seiner Heimat nach Frankreich – als sich die Hoffnung der Revolution | |
| von 2011 zerschlug. Seine prekäre Lage thematisiert Miniawy in den | |
| arabischen Texten explizit. „B’aj“, das unausgesprochene Nabelstück dies… | |
| Werks, beschreibt den Suizid durch einen Sprung aus dem achten Stock. Auf | |
| dem Weg nach unten sieht der Vortragende eine gescheiterte Gesellschaft; | |
| die sich selbst in unheilvollen Tönen von Carl Gari manifestiert. | |
| Es sind Klänge des Berstens: Glas, Knochen, Freiheit und Demokratie. Ein | |
| kleines Meisterwerk, das bis jetzt noch kaum rezipiert wurde. Wer weiß, ob | |
| das mit dem schlechten Ruf Münchens zu tun hat oder ob das vielleicht | |
| hilfreich ist, erst recht den Arsch hochzubekommen. Beide Projekte eint | |
| jedenfalls der Versuch, abseits getrampelter Pfade neue Lösungen für | |
| internationalistische Musikentwürfe zu entwickeln. So etwas ist nur in der | |
| (gefühlten) subkulturellen Peripherie der Stadt München möglich. Es lohnt | |
| sich immer wieder, nach Bayern zu schauen – auch wenn man es manchmal nicht | |
| glauben möchte. | |
| 12 Dec 2019 | |
| ## LINKS | |
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| [2] /Neue-Postpunk-Alben/!5072790 | |
| [3] /Folkmusik-aus-Bayern/!5594762 | |
| [4] /Labelportraet-The-Trilogy-Tapes/!5019763 | |
| ## AUTOREN | |
| Lars Fleischmann | |
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