| # taz.de -- Aberkennung der VVN-Gemeinnützigkeit: „Wohin steuert die Republi… | |
| > Der VVN soll die Gemeinnützigkeit aberkannt werden – nun schrieb die | |
| > Ehrenvorsitzende Esther Bejarano einen Brief an Olaf Scholz. Es geht um | |
| > Demokratie. | |
| Bild: Die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano, Ehrenvorsitzende des VVN/BdA | |
| Ich dachte, ich lese nicht richtig: Esther Bejarano, diese würdevolle Frau | |
| und Schoah-Überlebende, schreibt [1][einen offenen Brief] an | |
| Bundesfinanzminister Scholz, in dem sie ihm erklären muss, was | |
| Antifaschismus in Deutschland bedeutet. „Wohin steuert die | |
| Bundesrepublik?“, fragt sie ihn. Zu Recht. | |
| [2][Esther Bejarano ist Überlebende], die uns das Geschenk, das ihr gemacht | |
| wurde, zurückgeschenkt hat: Sie hat überlebt und durfte dieses Leben noch | |
| einmal füllen, wirklich füllen, will heißen: In Fülle Leben, mit Freude | |
| trotz Schmerz, mit Leichtigkeit trotz dieses historischen Gewichts in ihrem | |
| Leben. Sie ist unglaubliche 94 Jahre alt, und alle Demokrat*innen sollten | |
| ihr Möglichstes dafür tun, dass Esther Bejarano nie wieder einen solchen | |
| Brief schreiben muss. Der Verein, dessen Ehrenvorsitzende sie ist, wird | |
| sperrig abgekürzt mit VVN-BdA. | |
| Schreiben wir den Vereinsnamen also aus: „Vereinigung der Verfolgten des | |
| Nazi-Regimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten.“ Diesem | |
| Verein soll nun die [3][Gemeinnützigkeit durch das Finanzamt Berlin | |
| aberkannt] werden. | |
| Hat [4][Finanzminister Scholz] es wirklich nötig, in seinen grundsätzlichen | |
| Überlegungen zur Förderung von Vereinen eine Überlebende dazu zu zwingen, | |
| ihm persönlich Geschichtsunterricht zu erteilen? Für Herrn Scholz muss | |
| Esther Bejarano persönlich noch einmal schreiben: Unser Verein wurde | |
| gegründet 1947, von Überlebenden der Konzentrationslager und | |
| Nazi-Verfolgten. Ich weiß nicht, ob das Wort Scham hier noch reicht. | |
| Vielleicht, wenn der Boden grundlos wäre. | |
| Ich möchte nicht tatenlos dabei zusehen, wie Überlebende, denen ein langes | |
| Leben gegönnt wurde, als gäbe es eine ausgleichende Kraft auf dieser Erde, | |
| zunehmend im hohen Alter dazu gezwungen sind, für unsere Demokratie | |
| einzustehen. Weshalb müssen sie ihre Narben aufreißen, damit Politiker wie | |
| Olaf Scholz sich daran erinnern, was Demokratie ist? Oder all jene, die | |
| gebildet genug wären, die deutsche Geschichte zu kennen und die | |
| demokratische Lebensleistung der Engagierten zu respektieren. | |
| ## Vereine müssen sich professionalisieren | |
| Es geht hier jedoch nicht nur um diesen Verein. Es scheint hier | |
| strukturelle Aktivitäten zu geben, die Zivilgesellschaft zu einem | |
| Haustierchen zu zähmen, mit dem man sich zwar schmückt, mit der man sich | |
| aber nicht auseinandersetzen möchte. Fördergelder werden inzwischen | |
| vergeben, als seien Vereine die Bittsteller der Demokratie und nicht ihr | |
| Knochenmark. Ministerien haben einen politischen Auftrag, Vereine in ihrer | |
| Arbeit zu unterstützen. Doch die Auflagen werden immer absurder, die | |
| Projekte immer bürokratischer. Die Abwicklung der meisten Projekte ist | |
| ehrenamtlich nicht mehr zu stemmen. Vereine müssen sich zunehmend | |
| professionalisieren. | |
| Das hört sich auf den ersten Blick nicht schlecht an. Heißt aber auch: Man | |
| macht sich die Vereinsmitarbeiter abhängig. Wer Angst hat, in der nächsten | |
| Förderrunde auszuscheiden, weil er so auch seinen Lebensunterhalt verlieren | |
| würde, der wird nicht auffallen durch Kritik. Doch ohne Raum für Kritik | |
| wird die Zivilgesellschaft zur Karikatur ihrer selbst. | |
| Der gefügige Fördermittelempfänger, der jede bürokratische Neuerung, die | |
| Ministerien aushecken, tapfer mitmacht: Das scheint derzeit das Bild zu | |
| sein, das sich Regierende von der Zivilgesellschaft erträumen. Mit solchen | |
| wollen die Regierenden dann auch regelmäßig Feste feiern und Reden halten | |
| dürfen, da sie fest damit rechnen können, nur beklatscht zu werden. Ja, | |
| sind wir denn auf Zeitreise in den Klatschfeudalismus? Auf wie vielen | |
| Veranstaltungen müssen Verantwortungsträger noch mit heftiger Kritik | |
| rechnen? | |
| Indem sie die Auflagen für Vereinsarbeit so dermaßen bürokratisieren, | |
| sorgen sie zudem für eine inhaltliche Lahmlegung der Akteure. Sogleich soll | |
| eine neue Einrichtung geschaffen werden, die deutschen Ehrenamtlichen mit | |
| der Bürokratie helfen soll, die ihnen auferlegt wurde. Ich hätte da eine | |
| schlichte Lösung: weniger Bürokratie. | |
| Die Spitze des Eisbergs, unter dem dieser Traum vom folgsamen und | |
| abhängigen Bürgerlein liegt, war die Aberkennung der Gemeinnützigkeit für | |
| Attac. Ein Verein habe parteipolitisch neutral zu bleiben. Vereine, die | |
| sich politisch äußern, sollen eingeschüchtert werden. Die Einschüchterung | |
| sickert durch mehrere Ebenen. Zunächst hatte man bundesweite Vereine im | |
| Visier, jetzt trifft es bereits kleinere Initiativen wie zuletzt in | |
| Ludwigsburg. | |
| ## Demokratie der Finanzbeamten | |
| Vereine sind jedoch Zusammenschlüsse zur Verfolgung eines bestimmten | |
| Zwecks. Wenn dieser Zweck nun den Zielen einer Partei widerspricht, ist er | |
| umgehend nicht mehr gemeinnützig? Welche Haltung hat hier die SPD, der Olaf | |
| Scholz vorstehen möchte, insbesondere im Falle von Esther Bejarano? Mutiert | |
| Deutschland nun zur Demokratie der Finanzbeamten, die entscheiden, wann ein | |
| Verein „zu politisch“ ist? | |
| Inmitten dieser merkwürdigen Vorgänge rund um die Gemeinnützigkeit von | |
| Vereinen müssen Demokratieförderprojekte um ihr Überleben kämpfen. Das, | |
| obwohl man weiß, dass sich rechtsextreme Strukturen organisiert haben, dass | |
| sie aus nicht mehr übersichtlichen, auch internationalen Quellen finanziert | |
| werden. Esther Bejarano hat recht, wenn sie fragt: „Wohin steuert diese | |
| Republik?“ | |
| Ihr Brief an Olaf Scholz ist schonungslos, voller Klarheit und mit dem | |
| Selbstbewusstsein eines Menschen geschrieben, der von niemandem abhängig | |
| ist. Esther Bejarano hat diese innere Freiheit. Demokratie lebt von diesem | |
| Stolz seiner Bürger*innen. Bürger*innen, das sind die Schutzherr*innen der | |
| Demokratie. Bürger leitet sich vom althochdeutschen „burga“ ab und meinte | |
| natürlich die Bürger, die ihre befestigten Ortschaften verteidigen mussten. | |
| Es ist Zeit für ein Versprechen zwischen den Generationen. „Nie wieder!“ | |
| muss, solange die Überlebenden gegen das Vergessen kämpfen, immer auch | |
| heißen: Nie wieder allein! | |
| 27 Nov 2019 | |
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| [1] http://www.hagalil.com/2019/11/vvn-bda/ | |
| [2] /Lesung-und-Konzert-von-Esther-Bejarano/!5480870 | |
| [3] /VVN-BdA-verliert-Gemeinnuetzigkeit/!5640345 | |
| [4] /Kampf-um-den-SPD-Vorsitz/!5638590 | |
| ## AUTOREN | |
| Jagoda Marinić | |
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