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# taz.de -- Kampf um den SPD-Vorsitz: Der Mann aus der Mitte
> Norbert Walter-Borjans will die SPD nach links führen. Sanft, nicht
> abrupt. Die scharfe Attacke ist ihm eher fremd. Ein Porträt.
Bild: Happy: das Kandidatenpaar Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken
Norbert Walter-Borjans trägt ein weißes, offenes Hemd und einen grauen
Anzug. Lässig, aber nicht zu sehr. Er sitzt in einem Café in
Berlin-Kreuzberg und muss jetzt erst mal frühstücken. Schwarzer Kaffee.
Kein Latte macchiato mit Sojamilch oder so. Klassisch.
Eine Tochter wohnt in Berlin, Architektin, sie verdient 1.700 Euro netto
und zahlt 700 Euro Miete. „40 Prozent für die Miete sind zu viel“, sagt er.
Die Berliner SPD will Wohnungskonzerne nicht enteignen. Findet er das zu
ängstlich? Nein, die Ablehnung von Enteignung sei „derzeit richtig“. Die
allzu radikale Forderung ist nicht seins.
Walter-Borjans ist ein Bildungsaufsteiger. Er war der Erste in seiner
Straße, der Abitur machte. Der Vater war Schreiner in der Fabrik, die
Mutter Schneiderin. Man redete zu Hause nicht über Politik. Einmal hat er
den Vater gefragt, was der wählt. SPD, hat der gesagt, er war ja Arbeiter.
Die Mutter war verwundert: „Du bist doch katholisch.“ Katholisch war im
Rheinland in den 60er Jahren das Gleiche wie CDU.
Das sind Geschichten aus einer untergegangenen Welt, als die SPD noch für
Arbeiterschweiß und Aufstieg ins Kleinbürgertum stand und die CDU für
Kirche und Tradition. Die Volksparteien waren noch fest in Milieus und
Weltanschauungen vertäut. Dahin führt kein Weg zurück. Nowabo, so sein
Spitzname, ist auch kein 70er-Jahre-Nostalgiker wie Oskar Lafontaine.
Mit dem telefoniert er manchmal und ist sich meist einig, dass man sich
nicht einig ist. Er beeilt sich hinzuzufügen, dass er auch Kontakt mit
Franz Müntefering, Rudolf Scharping und Sigmar Gabriel pflegt – anderen
früheren SPD-Chefs. Ein allzu guter Draht zu Lafontaine kommt nicht gut,
wenn man die SPD führen will. Die Partei hat ein Elefantengedächtnis.
Er hatte nie ein bedeutendes Amt in der Partei, [1][die er jetzt leiten
will]. Er war nie Parlamentarier. Die Karriere von Walter-Borjans, der die
SPD wieder nach links führen will, ähnelt eher dem eines SPD-Konservativen.
Er hat Volkswirtschaft studiert, beim Henkel-Konzern im Marketing
gearbeitet und war lange Pressesprecher von Johannes Rau, dem damaligen
Ministerpräsidenten in NRW.
Er war zwei Mal Staatssekretär und bis 2017 Finanzminister in Düsseldorf.
Dort erntete er Lob und Ruhm, weil er clever, mutig und geduldig
Steuerkriminelle jagte. Das ist sein großer Bonus. Viele linke
Sozialdemokraten reden bloß von Umverteilung, meist in einem Ton, der
zwischen Vorwurf und Depression schwankt und das Scheitern schon
vorwegnimmt. Walter-Borjans hat sie praktiziert.
Aber: Er ist ein Mann der Exekutive. Ein Finanzpolitiker. „Applaus für
zugespitzte Aussagen“ interessiere ihn nicht so. Das Populistische, die
Bierzeltrede, die scharfe Attacke sind ihm fremd. Im Stil hat er mehr mit
Scholz als mit Lafontaine gemein.
Gustav Horn, ein linker Wirtschaftswissenschaftler und SPD-Mann, hat 1973
in Bonn mit ihm studiert. Horn erinnert sich an einen „klugen
Kommilitonen“. Das VWL-Studium war abstrakt, mit viel Mathematik.
Walter-Borjans dachte, so Horn, „immer praktisch“. Beide waren Anhänger von
John Maynard Keynes, dessen Stern in den 1970er Jahren sank. Die
Neoliberalen eroberten nicht nur an den Universitäten die Hegemonie.
Die Karrieren von fast allen Spitzen-SozialdemokatInnen, von Gerhard
Schröder über Andrea Nahles, Sigmar Gabriel bis zu Olaf Scholz, folgen
einer ähnlichen Erzählung von Wandel und Reifung. Am Anfang waren sie teils
sehr links, doch im Laufe der Jahre wurden sie pragmatisch, realistisch und
passten sich an, bis zur Unkenntlichkeit.
Das Leben von Norbert Walter-Borjans ähnelt einem ruhigen Fluss ohne jähe
Stromschnellen. Er war schon 1973, was er heute noch immer ist: ein
gemäßigter Linker. „Die Systemfrage habe ich nie gestellt“, sagt er.
Manchmal bekommt er per Twitter vorab schon Glückwünsche, dass er als
SPD-Chef die Seeheimer, den konservativen Parteiflügel, rauswerfen wird. Er
hält das für ein Missverständnis. Er will integrieren, mitnehmen,
ausgleichen. „Ich wollte immer Brücken bauen, von links nach rechts.“
Manchmal klingt er etwas onkelhaft.
Jeremy Corbyn oder Bernie Sanders? Sanders, sagt er ohne Zögern. Klare
Sache. Corbyns Lavieren beim Brexit stört ihn sehr. Walter-Borjans wägt die
Worte, redet manchmal drum herum, um die Angriffsfläche zu verkleinern und
Fallen zu vermeiden. Beim Videogespräch mit Spiegel Online hat er gesagt,
dass die SPD sich bei den derzeitigen Umfragewerten einen Kanzlerkandidat
sparen kann.
Das war der Versuch, Olaf Scholz zu treffen, der im Sommer 2019 ernsthaft
behauptet hatte, die Chance der SPD, stärkste Partei zu werden, sei so gut
wie seit Langem nicht. Die SPD lag in Umfragen bei 13 Prozent. Gustav Horn
lobt daher Walter-Borjans’ Realismus. Er setze eben „keine Hirngespinste in
die Welt“. Doch der Angriff war mindestens ungeschickt, das Medienecho
trübe. Gerade wenn man die SPD aufwecken will, muss man ja Zuversicht und
Optimismus ausstrahlen, bloß keine Verzagtheit.
In der SPD-Anhängerschaft habe „das wohl Irritationen ausgelöst“, sagt er.
Und natürlich werde die SPD einen Kanzlerkandidaten aufstellen, wenn es
Aussicht auf Erfolg gebe. Aber er hat sich verkalkuliert. Erstaunlich bei
einem Taktiker wie ihm.
## Grundrente als Dämpfer
Der zweite Dämpfer für seine Chefambition ist die Grundrente. Der
Grundrente-Kompromiss nutzt Scholz und jenen, die unbedingt in der Groko
bleiben wollen. Die Grundrente sei „ein Meilenstein“, sagt auch Nowabo. Er
weiß, dass zu viel Kritik ein Bumerang wäre. Rente ist für die SPD
(Durchschnittsalter 61) so etwas wie Atomkraft für die Grünen.
Sein listiges Argument lautet: Ohne den Kampf um den SPD-Vorsitz wäre „die
Union bei der Rente nicht so kompromiss-, die SPD-Spitze nicht so
kampfesbereit gewesen“. Will sagen: Er hat Anteil daran. Auch dass Scholz
neuerdings für Vermögensteuer ist und in der EU-Steuerpolitik das
Bremserhäuschen verlassen hat, sei wohl kein Zufall. Aber ob Olaf Scholz
als Parteichef ohne die nervige Drohung von links, das auch umsetze, sei
fraglich, so Walter-Borjans.
Am Dienstagabend kam es im Willy-Brandt-Haus zum [2][Duell der beiden
Teams], die noch im Rennen sind um den SPD-Vorsitz. Es war ein offener
Schlagabtausch. Saskia Esken provozierte, Olaf Scholz schlug zurück.
Interessant war die Rollenverteilung. Esken gab die Abteilung Attacke,
Nowabo sucht mit etwas umständlichen Sätzen Verbindendes. Im anderen Team
war es umgekehrt: Klara Geywitz war die Moderate, Scholz Abteilung Attacke.
Dienstag wurde erstmals klar, dass es um eine Richtungsentscheidung geht:
weiter kleine Schritte in der Regierung – oder die SPD als linke Kraft.
„Ich fand die Schärfe nötig“, sagt Nowabo zu dem Duell. „Wir haben ja
verschiedene Ansichten. Sonst könnten wir das auch lassen.“ Er klingt eher
tastend als auftrumpfend, als bewege er sich auf ungesichertem Terrain.
Falls er gewinnt, fängt der Kampf erst an. Im Willy-Brandt-Haus, der schwer
steuerbaren Parteizentrale, werden keine Sektkorken knallen, wenn er mit
Esken die Partei führt. Die SPD-Fraktion will die Regierung fortsetzen. Die
MinisterInnen-Riege trommelt für Scholz. Die Parteispitze ist gegen ihn.
Das beeindruckt ihn nicht. „Wenn die Entscheidung gefallen ist, wird die
Haltung der Parteispitze pragmatisch sein“, sagt er. Pragmatismus kann die
SPD ja.
Er muss schnell weg zu einem Termin. Sein Handy hat kaum noch Strom, schon
seit Tagen. Irgendwas kaputt. Ein Ladekabel hat er gerade nicht zur Hand.
Für jemanden, der vielleicht in drei Wochen SPD-Parteichef wird, ist da
logistisch noch Luft nach oben. Er braucht ein Taxi und tippt eine App an.
„Das ist hoffentlich nicht so was wie Uber“, sagt er. Uber und
Plattformkapitalismus, das passt so gar nicht zu der Sozialdemokratie, die
er retten will.
Der Wagen kommt, kein Uber. Er steigt ein und fährt los.
17 Nov 2019
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## AUTOREN
Stefan Reinecke
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