# taz.de -- Rennen um SPD-Vorsitz: Denkt nach, Genossen! | |
> Wenn die SPD noch eine Chance haben will, muss sich die Basis dem | |
> Parteiestablishment widersetzen und für Walter-Borjans und Esken stimmen. | |
Bild: Könnten der SPD eine neue Richtung zeigen: Norbert Walter-Borjana und Sa… | |
Für das Parteiestablishment ist es offenkundig keine Frage, wem es in der | |
zweiten Runde [1][des großen SPD-Vorsitzendencastings] die Stimme geben | |
wird. Wer auch immer sich aus diesem Kreis in den vergangenen Tagen berufen | |
fühlte, ein Votum zugunsten eines der beiden zur Wahl stehenden Duos | |
abzugeben, stets fiel es zugunsten von Olaf Scholz und Klara Geywitz aus. | |
Besser lässt sich ein Realitätsverlust kaum dokumentieren. Wenn die SPD | |
noch eine Perspektive haben soll, wird die Parteibasis dem Werben ihrer | |
Oberen widerstehen müssen. Daran ändert auch der theaterreif inszenierte | |
und [2][perfekt getimte Grundrente-Kompromiss] nichts. | |
Die SPD-Mitglieder sollten selbstbewusst genug sein, sich nicht davon | |
beeindrucken lassen, dass die veröffentlichte Meinung mehrheitlich ganz | |
unverhohlen für den 61-jährigen Bundesfinanzminister aus Hamburg und die 43 | |
Jahre alte Ex-Landtagsabgeordnete aus Potsdam trommelt. Wobei Letztere | |
nicht ausschlaggebend für ihre Präferenz ist: Es geht um Scholz als | |
vermeintlichen Stabilitätsgaranten. Eine vergiftete Empfehlung: So wie | |
Medien, allen voran der Spiegel, Scholz gerade promoten, genauso schrieben | |
sie einst auch Steinmeier, Steinbrück und Schulz in die Kanzlerkandidatur – | |
um sie dann kurz vor der Wahl mit der gleichen Verve fallen zu lassen. | |
In was für einer Situation befindet sich die SPD? Bundesweit erreicht sie | |
in den aktuellen Umfragen Zustimmungswerte zwischen 13 und 16 Prozent. Vom | |
Wahlsieg Gerhard Schröders 1998 bis zur Schlappe von Martin Schulz 2017 hat | |
die Partei mehr als 10,6 Millionen Wähler verloren. Seitdem hat sie nur | |
noch eine einzige Landtagswahl ohne Einbruch in der Wählergunst | |
überstanden. Das war die Wahl in Niedersachsen, in jener kurzen | |
Zwischenperiode, in der die SPD-Führung großmäulig tönte, unter keinen | |
Umständen die Koalition mit der Union fortzusetzen. Seit auch das | |
Geschichte ist, ist es weiter bergab gegangen. In Bayern und Hessen im | |
vergangenen Jahr sowie bei der Europawahl im Mai musste die SPD sogar | |
zweistellige Verluste hinnehmen. | |
Das Ausmaß des Niedergangs ist dramatisch. Die Partei sitzt mittlerweile in | |
drei Bundesländern nur noch mit einem Wählerstimmenanteil von weniger als | |
10 Prozent im Parlament, in zwei weiteren liegt sie gerade mal knapp über | |
der 10-Prozent-Marke. | |
## Für die SPD gibt es noch Luft nach unten | |
Niemand sollte darauf wetten, dass die Talfahrt der SPD schon an ihr Ende | |
gekommen ist. In früheren Zeiten wurde sie noch mit einem – schwer | |
beweglichen – Tanker verglichen, heutzutage scheint der Vergleich mit der | |
„Titanic“ passender: Das Schiff ist am Sinken, aber das Bordorchester | |
spielt unverdrossen in der Erste-Klasse-Lounge weiter. Die Beispiele ihrer | |
Schwesterparteien in Frankreich, Griechenland oder den Niederlanden zeigen: | |
Für die SPD gibt es nicht nur Luft nach oben, sondern auch noch nach unten. | |
Die Krise der Sozialdemokratie ist wesentlich existenzieller als jene Ende | |
der siebziger bis Mitte der achtziger Jahre, die damals den liberalen | |
Vordenker Ralf Dahrendorf dazu verleitete, etwas voreilig das Ende des | |
sozialdemokratischen Zeitalters auszurufen. Jetzt könnte es wirklich so | |
weit sein. | |
Auch wenn er es gerne ausblendet: Am desaströsen Zustand der SPD trägt Olaf | |
Scholz, der seit 2001 in verschiedenen Funktionen im Parteivorstand sitzt, | |
eine gehörige Mitverantwortung – angefangen von seiner Zeit als | |
SPD-Generalsekretär zwischen 2002 und 2004, in der er erbarmungslos die | |
unsoziale Agenda 2010 verteidigte. Es gäbe „in Deutschland eine gewaltige | |
Umverteilung von oben nach unten“, behauptete er damals – obwohl das | |
Gegenteil wahr war. | |
Auf [3][etlichen der Regionalkonferenzen,] die die SPD quer durch die | |
Republik zur Präsentation ihrer Vorsitzkandidat:innen organisiert hatte, | |
wurde Scholz mit Fragen nach Hartz IV konfrontiert – und wich ihnen ebenso | |
konsequent aus wie denen nach der „schwarzen Null“, an der er geradezu | |
dogmatisch festhält. Scholz ist Ausdruck der tiefen Krise der SPD, nicht | |
ihr Ausweg. Ihm fehlt eine Idee für eine moderne, ausstrahlungskräftige | |
sozialdemokratische Partei. Wie wenig er begriffen hat, zeigt das | |
jämmerliche, aber von ihm als großer Erfolg verkaufte Klimapaket der | |
Bundesregierung. | |
Damit kein Missverständnis entsteht: Auch wenn es überall zu lesen ist, | |
geht es nicht um die banale Frage: GroKo – ja oder nein? Das ist viel zu | |
kurz gegriffen. Es geht um Grundsätzlicheres. Der Scholz-Konkurrent Norbert | |
Walter-Borjans hat auf den SPD-Regionalkonferenzen eine treffende | |
Beschreibung des Problems geliefert: Der 67-jährige frühere Finanzminister | |
Nordrhein-Westfalens skizzierte die SPD als einen großen Bus, bei dem als | |
Fahrtziel vorne „soziale Gerechtigkeit und Zukunft“ drauf steht. Der Bus | |
habe aber kaum noch Fahrgäste, „weil sie uns nicht glauben, dass wir da | |
noch hinfahren“. Dabei sei die SPD nicht erst mit der derzeitigen | |
Regierungskoalition „vom Weg abgekommen“. Sie sei auch schon zuvor auf | |
Berater:innen und Lobbyist:innen hereingefallen, „die uns in die | |
neoliberale Pampa gewiesen haben“. | |
Weder Walter-Borjans noch die 58-jährige baden-württembergische | |
Bundestagsabgeordnete Saskia Esken sind linke Abenteurer:innen. In besseren | |
Zeiten wären sie als „Zentristen“ charakterisiert worden, wie einst | |
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Johannes Rau, dessen enger | |
Mitarbeiter Walter-Borjans war. Aber die beiden wissen, dass es so nicht | |
weitergehen kann. Ob es ihnen gelingen könnte, die SPD wieder auf Kurs zu | |
bringen, ist offen. Aber wenn die Partei überhaupt eine Chance haben will, | |
dann werden sich ihre Mitglieder für sie und also gegen Scholz und Geywitz | |
entscheiden müssen. Denn Walter-Borjans und Esken haben wenigstens eine | |
Ahnung davon, worin die Krise ihrer Partei begründet liegt: „Uns ist die | |
Glaubwürdigkeit abhanden gekommen, dass die SPD es mit der Sozialdemokratie | |
ernst meint“, schreiben sie in ihrer Bewerbung. | |
Ja, das trifft es gut. | |
12 Nov 2019 | |
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## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
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