# taz.de -- Queere Geflüchtete: Neues Leben Berlin | |
> In Berlin gibt es viele queere Schutzräume. Dennoch sehen sich | |
> Geflüchtete in ihrer neuen Heimat mit vielen Herausforderungen | |
> konfrontiert. | |
Bild: Gene Bogolepov | |
Gene Bogolepov ist 34 Jahre alt und bekommt, wann immer die Türklingel | |
unerwartet läutet, eine Panikattacke. Er hält sich an einem Bier fest, | |
während er durchs Fenster seines gerade frisch bezogenen Zimmers in | |
Berlin-Kreuzberg in den Nachthimmel schaut. In der Ecke sind Bücher sauber | |
in einer offenen Reisetasche gestapelt. Die ehrenamtliche Tätigkeit für | |
Queeramnesty und sein Sozialleben ließen kaum Zeit, die Sachen in der | |
neuen Wohnung auszupacken. Die Tasche erinnert ihn an den 9. Dezember 2017, | |
als er und sein damaliger Freund, jetzt Ehemann, mit all ihren | |
Habseligkeiten aus Sankt Petersburg in Berlin ankamen, um in Deutschland | |
ein neues Leben zu beginnen. | |
Bogolepov hatte eine glückliche Kindheit. Dass er schwul ist, wurde ihm | |
klar, als er „Jesus Christ Superstar“ sah und sich zu Jesus hingezogen | |
fühlte. Als Teenager, in den späten 90ern und frühen 2000ern, erlebte er | |
eine liberale Grundstimmung in Russland. Er konnte seine Sexualität frei | |
leben. Die Schwulenbars brummten vor Publikum. „Ab 2005 aber wurde alles | |
schlechter“, erinnert er sich. Russland setzte 2013 dann das „Gesetz gegen | |
homosexuelle Propaganda“ in Kraft, das die „Werbung“ für Homosexualität | |
gegenüber Jugendlichen verbot. Das brachte Stigmatisierung mit sich und die | |
Gefahr von Erpressung und Gewalt. „Ich kennen keinen Schwulen daheim, der | |
nicht angegriffen wurde“, sagt Bogolepov. | |
Im selben Jahr wurde die Situation für Bogolepov zusätzlich schlimmer, als | |
bei ihm HIV diagnostiziert wurde. Die in Russland erhältlichen Medikamente | |
verursachten verschiedene Nebenwirkungen, unter anderem schwere | |
Stimmungsschwankungen und Depressionen. „Ich versuchte auch, von meinem | |
Balkon zu springen, aber mein Mann hat mich festgehalten“, erinnert er | |
sich. Mit mangelhafter medizinischer Versorgung und der verstärkten | |
Stigmatisierung als HIV-Positiver wurde es sogar schwierig, auch nur | |
grundlegende Gesundheitsvorsorge wie zahnärztliche Behandlungen zu | |
erhalten. Dazu begegnete ihm wiederholt körperliche Gewalt, was ihn | |
schließlich an den Rand der Verzweiflung brachte. Vier Jahre später, 2017, | |
entschied er sich, über Finnland nach Berlin zu ziehen und Asyl zu suchen. | |
## Besonders verletzlich | |
„Queere Geflüchtete sind besonders, da sie aus ihrer Heimat nicht wegen | |
dortiger Konflikte, sondern wegen ihrer Identität fliehen“, sagt die | |
Psychologin und LGBTI-Aktivistin Aileen Kakavand. „Und sie werden weiter | |
kommen, im Gegensatz zu anderen Flüchtlingen.“ Berlin ist ein anziehendes | |
Ziel für queere Flüchtlinge, da es das einzige deutsche Bundesland ist, das | |
LGBTI-Geflüchtete zu den besonders „verletzlichen Gruppen“ zählt. In der | |
Hauptstadt befindet sich auch das größte, ausschließlich queeren | |
Geflüchteten vorbehaltene Asylbewerberheim, mit insgesamt 122 Plätzen. Dazu | |
kamen in den vergangenen Jahren mehrere NGOs und Selbsthilfegruppen, die | |
Rechtshilfe und Wohnungsvermittlungen für queere Geflüchtete in Berlin | |
anbieten. | |
Das ist auch der Grund, warum die 42-jährige Suryani Mahmood vor zwei | |
Jahren in die Stadt kam. Zuvor verbrachte sie vier Jahre in Kopenhagen, | |
erhielt in dieser Zeit wiederholt Ablehnungen. Aufgewachsen als eines von | |
acht Geschwistern, identifizierte sie sich früh als Transfrau. „Ich wurde | |
sogar von meinen Eltern als Mädchen großgezogen“, erinnert sie sich, als | |
wir uns in Deutschlands größtem und Berlins einzigem Asylbewerberheim für | |
queere Geflüchtete treffen. Hier, im Bezirk Treptow-Köpenick lebt sie seit | |
inzwischen zwei Jahren. Ihre leuchtend gelbe Kurta (weites asiatisches | |
Kleidungsstück, Anm. der Red.) unterstreicht das breite Lächeln, mit dem | |
sie auf dem kühlen Balkon von der Unterstützung durch Eltern und Familie | |
erzählt. | |
Wäre es nach Mahmood gegangen, hätte sie niemals das Land ihrer Kindheit | |
verlassen. Als muslimische Transfrau jedoch war das nicht ihre | |
Entscheidung. „Malaysia ist ein islamisches Land und akzeptiert LGBTIs | |
nicht“, sagt sie. „Und als Transfrau konnte ich schlecht den Mann spielen | |
und mich verstecken.“ Nach mehreren Übergriffen durch die Polizei wurde sie | |
nach der Scharia angezeigt, obwohl sie selber keine praktizierende Muslimin | |
ist. „Ich sehe aus wie eine indische Hindu, da meine Großmutter | |
mütterlicherseits Hindu war, die zum Islam konvertierte. Mein Vater aber | |
ist ein Malaysier und so wurde ich als Muslimin geboren.“ Sie wurde | |
zeitweise festgehalten und erhielt schließlich einen Gerichtstermin. 2013 | |
jedoch, vor der Verhandlung, kaufte sie einen Flug nach Dänemark, um dort | |
Schutz zu suchen. | |
## Zügige Asylverfahren | |
„Als ich in Europa angekommen war, sagte meine Mutter, dass ich nicht | |
zurückkehren soll, weil es in Malaysia nicht sicher für mich ist.“ Mahmood | |
gehorchte und blieb für vier Jahre in Dänemark in der Hoffnung, dort auf | |
Dauer ein Zuhause zu finden. Aber das wollte einfach nicht klappen. „Also | |
fuhren Freunde mich 2017 von Kopenhagen nach Hamburg und von da nahm ich | |
einen Zug nach Berlin“, erinnert sie sich. Dort kam sie in dem Heim in | |
Treptow-Köpenick unter und erhielt ihren Flüchtlingsstatus innerhalb zweier | |
Wochen nach Antragstellung. | |
Ähnlich glatt verlief das Asylverfahren in Berlin für den 23-jährigen | |
Haidar Darwish, der im September 2016 herkam, um zu studieren. Aufgewachsen | |
ist er unter einer liberalen und generell aufgeschlossenen Regierung in der | |
syrischen Hafenstadt Latakia. „Mein Vater war Florist, meine Mutter | |
Friseurin. Beide waren nicht religiös, ich bin nie in einer Moschee | |
gewesen, aber sie hatten ein soziales Gewissen“, erklärt Darwish, während | |
er in einem Dachcafé am Kurfürstendamm aus einer Schüssel Schakschuka isst. | |
Er trägt einen Jeans-Jumpsuit, quer über sein weißes T-Shirt steht | |
„fabulous“ geschrieben. Mit 16 wurde ihm klar, dass er schwul ist. In | |
Syrien war er in zwei Beziehungen, eine ging über ein Jahr. „Mein zweiter | |
Freund wurde zur Armee einberufen, weshalb er fliehen musste. Aber er | |
wollte nicht weg, wegen mir. Und so haben wir entschieden, dass erst er | |
geht und ich nachkommen würde“, erinnert er sich. | |
Es gab zwei Hauptgründe für Darwish, Syrien zu verlassen: Einer war, dass | |
er jederzeit einberufen werden konnte, der andere, dass es keine Arbeit für | |
einen wie ihn, mit Abschluss in Englischer Literatur, gab. „Ich wusste, | |
dass meine Eltern nicht dafür zahlen würden, dass ich die Todesroute nehmen | |
würde“, sagt er. Also sparte er Geld für den Pass und bewarb sich bei | |
Hochschulen in Berlin. Als er die Bewerbung abgegeben hatte, überzeugte er | |
seine Eltern und verließ mit 20 Jahren am 15. September 2016 Syrien in | |
Richtung Berlin. „Auf meiner Abschiedsparty waren 90 Gäste, alles Freunde | |
und Bekannte, aber ich habe heute mit niemandem mehr Kontakt“, erzählt er. | |
Als Darwish in Berlin ankam, war das die Stadt der unbegrenzten | |
Möglichkeiten. Für ein Jahr arbeitete er als Verkaufsassistent bei einer | |
Onlineagentur und tauchte schließlich in das queere Leben der Stadt ein. | |
Eines Nachts im Schwuz, dem größten queeren Club der Stadt in Neukölln, | |
traf er auf der Tanzfläche auf die Drag-Künstlerin LaDivina. „Sie war so: | |
‚Wer ist das?‘“, lacht Darwish. Sie lud ihn ein, mit ihr gemeinsam | |
aufzutreten. Seitdem arbeiten sie zusammen am „Monday Hafladay“, einer | |
Performance-Serie in der Silver Future Bar. | |
## Akt der Befreiung | |
Darwish, der autodidaktische Bauchtänzer, gibt sich entnervt über seine | |
Vielzahl an Terminen, als er seinen Kalender zeigt. Gerade erst hat er die | |
Organisation der 10. „Queens Against Borders“-Performance hinter sich, | |
einem Spendenevent mit Dragshow zugunsten Transgender-Flüchtlingen, das | |
ein paar Tage vor unserem Treffen stattfand. Und für die nächsten Wochen | |
ist er wieder ausgebucht. Bei „Queens Against Borders“ rief das Publikum | |
seinen Namen, als er in einem regenbogenfarbenem Badeanzug auf die Bühne | |
kam. Seine Popularität war geradezu mit Händen zu greifen, als er unter dem | |
Jubel der Menge für ein weiteres Stück zurückkam. | |
In Berlin aufzutreten, kommt für Darwish einem Akt der Befreiung gleich. | |
Aber er zahlt auch einen Preis dafür. „Ein Iraker hat mich auf Instagram | |
bedroht und ich bin auch zur Polizei gegangen“, erinnert er sich. Nach | |
einem Artikel über ihn in arabischer Sprache gingen bei ihm einige | |
homophobe Kommentare aus Syrien ein. „Meine Mutter berichtete mir, dass | |
meine Onkel über mich bescheid wüssten“, sagt er. „Man würde mich ermord… | |
wenn ich zurückginge.“ | |
Nach Ablauf des zweijährigen Studentenvisums und mit der Angst, in ein | |
homophobes Umfeld zurückkehren zu müssen, beantragte Darwish Ende 2018 Asyl | |
in Berlin. Während seines Interviews beim Amt für Migration und Flüchtlinge | |
(BAMF), bei dem über seinen Status entschieden werden sollte, begleitete | |
ihn ein Arabisch-Dolmetscher. Darwish wurde nach der Natur der Bedrohung | |
gefragt, der er sich bei einer Rückkehr nach Syrien ausgesetzt sehe. Für | |
ihn war es nun von Vorteil, Deutsch und Englisch verstehen und sprechen zu | |
können. „In dem Gespräch können deine Sprachkenntnisse über dein Schicksal | |
entscheiden“, erklärt er. So weigerte sich der Dolmetscher trotz Darwishs | |
Drängen, das Wort „homosexuell“ auszusprechen. „Er sagte ‚andere | |
Orientierung‘, was aber nicht das war, was ich gesagt hatte“, meint er mit | |
einem Seufzen. „In vielen Sprachen ist es schwer zu erklären, was ‚schwul�… | |
bedeutet. Das macht es für viele Asylbewerber schwer, ihren Fall zu | |
begründen.“ | |
Der Interview-Prozess beim BAMF ist durchaus umstritten mit seinen | |
zudringlichen Fragen über sexuelle Erfahrungen, um die tatsächliche Gefahr | |
für das Leben im Herkunftsland abzuschätzen. Aktivisten problematisieren | |
das: „Das BAMF hat sich Leute aus anderen Behörden geholt, als die Zahl der | |
Fälle um 2015 und 2016 zunahm. Die hatten aber keine Ahnung, wie | |
Entscheidungen getroffen werden sollen oder so ein Interview überhaupt | |
geführt wird. Das hat die Chancen vieler Leute stark eingeschränkt“, | |
erinnert sich Mahmoud Hassino, der Berater in der Schwulenberatung ist und | |
auch Hauptfigur in der Dokumentation „Mr. Gay Syria“ war. Rund 60 Besuche | |
von queeren Geflüchteten hat die Schwulenberatung pro Woche. | |
„Was uns ganz allgemein in Europa fehlt, sind klare Richtlinien, für die | |
Interviews mit LGBTI-Asylbewerbern. Für die Behörden musst du als queere | |
Person glaubhaft sein. Also ist es ihnen gestattet, Fragen zu stellen, um | |
das festzustellen“, erläutert Hassino. Die Interviewer dürfen nicht nach | |
Beweisen für die Sexualität fragen, wie Fotos mit einem Partner, aber der | |
Asylbewerber kann diese nach eigenem Ermessen vorlegen. „Sie üben Druck auf | |
dich aus und sagen dann so was wie: ‚Wenn du das machst, kann das deinem | |
Anliegen helfen.‘ Oder sie stellen Fragen nach deinem Coming-out oder | |
deinem ersten sexuellen Kontakt. Aber es fehlt die Vorstellungskraft, dass | |
ein Coming-out in Uganda oder im Iran vielleicht etwas anders aussehen | |
könnte als in Deutschland. Wenn du zum Beispiel eine lesbische Frau bist, | |
die noch nie Sex mit einer Frau hatte, wird es schwer, die zu überzeugen, | |
dass du lesbisch bist“, erklärt Aileen Kakavand. Sie erklärt, dass sich das | |
BAMF seit 2016 durchaus entwickelt habe, aber es sei noch ein weiter Weg zu | |
gehen. „Zum Beispiel darf das BAMF nicht mehr sagen, dass du ja in dein | |
Land zurückgehen und deine Sexualität verstecken kannst“, sagt Kakavand. | |
Bogolepovs Interview beim BAMF dauerte neun Stunden. „Der Ablauf war nicht | |
ganz so einfach, weil ich mit einem finnischen Visum nach Deutschland | |
gekommen war“, erläutert er. Der Antrag wurde nach den Dublin-Regularien | |
behandelt. | |
Die regeln die Zuständigkeiten für Asylbewerber zwischen EU-Ländern. „Mein | |
Asylverfahren hätte also in Finnland stattfinden müssen“, sagt er. „Da me… | |
Mann ein deutsches Einreisevisum hatte, entschieden sie, uns zu trennen.“ | |
Bogolepov sollte bald abgeschoben werden. Da die beiden aber in Berlin | |
geheiratet hatten, konnten sie etwas Zeit gewinnen. „Und dann erfuhren wir, | |
dass mein Mann einen negativen Bescheid hatte“, sagt er. Um ihren Fall | |
durchzukämpfen, brachten die beiden innerhalb von 24 Stunden 2.000 Euro | |
über eine Crowdfunding-Kampagne zusammen. Im April dieses Jahres | |
schließlich hatte Bogolepov endlich sein Interview beim BAMF, nachdem er | |
den ursprünglichen Antrag im vergangenen September gestellt hatte. Am 15. | |
Juli 2019 erhielt er einen positiven Bescheid und ist nun als Flüchtling | |
anerkannt. | |
Obwohl Mahmood über Dänemark nach Deutschland gekommen war, ihr Fall also | |
auch unter die Dublin-Regeln gefallen wäre, wurde ihr Antrag in Berlin | |
bearbeitet. „Wenn sie dir helfen wollen, dann machen sie das auch | |
irgendwie“, erklärt sie. Der willkürliche Charakter der Asylentscheidungen | |
frustriert und erschöpft Aktivisten, wie Anwälte. „Meistens wird queeren | |
Syrern das Asyl verweigert, weil sie eben Syrer sind. Stattdessen bekommen | |
sie subsidiären Schutz“, seufzt Mahmoud. „Die Person, die die Entscheidung | |
trifft, denkt also, die werden sowieso nicht abgeschoben, also geben wir | |
denen auch keinen Status, was schrecklich ist.“ Das Problem mit dem | |
subsidiären Schutz ist, dass die Betroffenen abgeschoben werden können, | |
sobald ihr Herkunftsland als sicher deklariert wird. | |
## Doppelte Diskriminierung | |
Auch Flüchtlinge aus Ländern, wo sie nicht juristisch belangt werden, aber | |
sozial bedroht sind, haben Schwierigkeiten, ihren Fall überzeugend | |
darzulegen. „Es gibt so viele LGBTI-Geflüchtete, die aus anderen Ländern | |
als Syrien, dem Irak oder dem Iran kommen. Länder wie Marokko, Tunesien, | |
Uganda oder Nigeria, und die haben große Schwierigkeiten zu beweisen, dass | |
sie in Gefahr sind, und dann ist es ihnen nicht möglich, Asyl zu bekommen“, | |
erklärt Kakavand. Eine ihrer Klientinnen, Diana, eine lesbische Frau aus | |
Uganda, hatte ein ähnliches Problem. „Ihr Leben ist in Uganda viel stärker | |
bedroht als das vieler Klientinnen, die beispielsweise aus dem Iran kommen, | |
dennoch hat sie große Probleme damit, dass ihr nicht geglaubt wird“, sagt | |
Kakavand. | |
Lesbische Frauen sehen sich doppelter Diskriminierung ausgesetzt, als Frau | |
in einer patriarchalen Gesellschaft und mit queerer Identität. „Es ist für | |
sie schwer, aus den Ländern zu entkommen, oft werden sie in Ehen | |
gezwungen“, sagt Kakavand und erklärt, dass die Mehrzahl der lesbischen | |
Geflüchteten einen privilegierten Hintergrund haben, der ihnen überhaupt | |
den Zugang zur Ausreise ermöglichte. „Die Zahl der lesbischen Geflüchteten | |
ist eher gering, verglichen mit schwulen und trans“, ergänzt sie. | |
Als Transfrau war es für Mahmood schwer, ein normales Leben in Malaysia zu | |
führen, ihre Geschlechtsidentität machte es aber leichter, in Berlin Asyl | |
zu erhalten. Im Heim in Treptow-Köpenick lebt sie seit zwei Jahren. Sie | |
hätte gerne eine eigene Wohnung, aber die ständig steigenden Mieten in | |
Berlin machen das fast unmöglich. Queere Flüchtlinge, die ihre | |
Herkunftsländer auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen, sehen | |
sich mit Problemen bei der Wohnungssuche, Rassismus in der queeren | |
Community und der Herausforderung kultureller Integration konfrontiert. | |
Es gibt mehrere Initiativen und Vereine in Berlin, die sich des | |
Wohnungsproblems und des Kulturschocks annehmen. Die Unterkunft in | |
Treptow-Köpenick, gegründet 2016 von der Schwulenberatung und mit derzeit | |
80 Bewohnern, ist eine davon. „In anderen Asylbewerberheimen gab es eigene | |
Etagen oder andere extra Bereiche für queere Menschen. Damit waren die | |
geoutet, was ihr Leben gefährden konnte“, sagt Antje Sanogo, Leiterin der | |
Einrichtung der Schwulenberatung. Anders als andere Unterkünfte für | |
Geflüchtete in Berlin, die umgewandelte Räume wie Sporthallen, Container | |
oder selbst Flughafenhallen waren, ist das Heim in Treptow-Köpenick immer | |
ein gewöhnliches Wohnhaus gewesen. Einige der Bewohner sind zwar Gewalt und | |
Diskriminierung entkommen, werden aber immer noch aus den Herkunftsländern | |
oder von Landsleuten in Berlin bedroht. Deshalb ist der Zugang zu dem | |
unscheinbaren Haus für Unbefugte auch nicht ohne Weiteres möglich. Beim | |
Betreten wird man vom Sicherheitsteam begrüßt, einige sprechen sogar | |
Arabisch. „Wir mussten sie auch erst einmal schulen und sensibilisieren“, | |
erklärt Sanogo. Seit der Eröffnung vor rund drei Jahren werden Journalisten | |
in den Räumen nur selten zugelassen, um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu | |
wecken. | |
In jedem Zimmer leben bis zu vier Menschen, zugewiesen werden sie von | |
Sozialarbeitern. In ihrem zugigen Büro auf der Gemeinschaftsetage der | |
Unterkunft erzählt Sanogo, dass es oft Konflikte zwischen den Bewohnern | |
gibt. Sie alle bringen unterschiedliche Temperamente und Traumata mit, die | |
bearbeitet werden wollen. „Damit umzugehen kann manchmal sehr schwierig | |
sein“, sagt sie angestrengt. Am Anfang kamen in die Unterkunft vor allem | |
Geflüchtete aus dem Nahen Osten, aus Ländern wie dem Irak, dem Iran, | |
Saudi-Arabien und Jemen. In den letzten zwei Jahren aber gab es einen | |
Anstieg queerer Geflüchteter aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion, wie | |
Georgien, Moldau, Tadschikistan, Aserbaidschan und Turkmenistan. „Ein Grund | |
ist, dass es nicht ganz so schwer ist, von dort hier einzureisen. Aber in | |
allen diesen Ländern gibt es Gesetze, die gegen queere Menschen gerichtet | |
sind, und deshalb werden viele von ihnen hier als Flüchtlinge anerkannt. | |
Das ist besonders, da Nicht-LGBTI-Personen aus diesen Ländern diesen Status | |
nicht bekommen“, erläutert Antje. | |
Als 2015 eine große Zahl an Flüchtlingen den Weg nach Deutschland fanden, | |
stieg auch der Anteil queerer Geflüchteter, die nach Berlin kamen. Und so | |
entschied das Schwuz, eine „Refugees welcome“-Party zu schmeißen. „Wir | |
wollten auch der Behauptung entgegenwirken, dass Geflüchtete die | |
LGBTI-Community angreifen würden“, sagt LCavaliero Mann, künstlerischer | |
Leiter des Clubs. Dass die Tür für queere Geflüchtete aufgemacht wurde, | |
stieß dabei auf Kritik von überwiegend weißen, deutschen Schwulen. | |
„Rassismus und die Fetischisierung von Männern aus dem Nahen Osten sind ein | |
großes Problem in der Community“, sagt Mahmoud. Das Schwuz hat mehrere | |
Anläufe genommen, eine klare Haltung zu kommunizieren und ein inklusiver | |
Partyraum zu sein. Dazu gehört die Anstellung von Dolmetschern an der Tür, | |
die Integrierung von Musik aus den Herkunftsländern und die Verteilung | |
mehrsprachiger Broschüren über den Club schon am Eingang. „Außerdem machen | |
wir Workshops, um mit internalisiertem Rassismus umzugehen“, erklärt | |
LCavaliero. Auch andere queere Clubs und Bars, wie das About Blank, das | |
SO36 und das Silver Future haben Initiativen entwickelt wie extra | |
Gästelisten, Drag Performances, Spendenaktionen und besondere Playlisten, | |
um queeren Geflüchteten das Ankommen zu erleichtern. | |
Darwish, inzwischen ein populäres Gesicht in queeren Kreisen, hatte Erfolg | |
mit seinem Asylantrag. Das gestattet ihm, für die nächsten drei Jahre zu | |
bleiben, dann muss die Erneuerung beantragt werden. Für diverse queere | |
Flüchtlinge, die mit der großen Zahl neuer Geflüchteter kamen, laufen genau | |
diese ersten drei Jahre gerade ab. „Das ist jedoch nicht zu schwer, solange | |
du nachweisen kannst, dass du Fortschritte bei der Integration machst, was | |
das Erlernen der Sprache einschließt“, erläutert Kakavand. Weshalb Darwish | |
auch plant, weiterzulernen. „Ich kann nicht für immer tanzen. Künstlerisch | |
habe ich genug erreicht und will mich mehr auf das Akademische | |
konzentrieren“, sagt er. Mahmood, die einen Friseurkurs in Dänemark | |
besuchte, hofft, als Stylistin in Berlin arbeiten und eines Tages einen | |
eigenen Salon eröffnen zu können. Bogolepov, der sich einen Namen als | |
queerer Aktivist gemacht hat, versucht sich neben seinem Tagesjob als DJ, | |
als Musiker und in Performance-Künsten. „Damals, 2017, da habe ich meine | |
Tage gezählt“, sagt er, auf Berlin unter seinem Fenster schauend. „Aber | |
jetzt bin ich glücklich. Eine der wichtigsten Sachen für ein glückliches | |
Leben ist doch, sich sicher zu fühlen. Und hier fühle ich mich sicher.“ | |
Übersetzung aus dem Englischen Daniél Kretschmar | |
13 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Kennith Rosario | |
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Flüchtlingshilfe | |
Schwerpunkt LGBTQIA-Community | |
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