Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- LGBTQ-Denunziation in Marokko: Der Verrat kommt aus der Community
> In Marokko gibt es eine beispiellose Denunziationsbewegung gegen LGBTQ.
> Ausgerechnet eine queere Influencerin steckt dahinter.
Bild: Chefchaouen, Marokko: In dem Land gilt eine strikte Ausgangssperre
Berlin taz | Die Jagd auf die Schwulen in Marokko, sie beginnt an einem
Abend Mitte April mit einem Video auf Instagram. Die in dem
nordafrikanischen Land berühmte Influencerin Sofia Taloni setzt sich in
ihrer Wohnung wie üblich vor ihre Webcam und streamt live an ihre Fans.
Ihre Botschaft wird für etliche Menschen in Marokko verheerend sein.
Taloni bezeichnet sich selbst als nichtbinär und ist für viele
Marokkaner*innen eine Ikone. Sie dreht Videos mit marokkanischen Stars,
postet Beauty-Tipps, macht Werbung für Produkte. So trägt sie zur
Sichtbarkeit von LGBTQs in Marokko bei.
Taloni, die derzeit in der Türkei lebt, spricht von dort aus zu ihren mehr
als 600.000 Follower*innen auf Instagram. An diesem Abend Mitte April geht
es allerdings nicht wie üblich um den heißesten Promi-Gossip, um
Mode-Fettnäpfchen oder Schönheitsoperationen: Taloni setzt zu einer
Hasstirade gegen Schwule in Marokko an.
Sie spricht direkt in die Kamera: „Mädels! Ladet folgende Dating-Apps
herunter: [1][Grindr, Romeo oder Hornet]. Eröffnet ein Profil mit einem
Fake-Namen, irgendeinem Foto aus dem Internet und ihr werdet alle
Schwuchteln in eurer Umgebung sehen. Das wird lustig, versprochen! Manchmal
sitzen sie fünf Meter von euch im Wohnzimmer entfernt. Es sind eure Brüder,
eure Väter oder es ist euer Verlobter!“ Taloni ruft ihre Follower*innen
dazu auf, ihr die Namen und Bilder von den Nutzer*innen schwuler
Dating-Apps zuzuschicken.
Und Talonis Fans, das zeigt sich in den folgenden Tagen, hören auf sie. Der
taz liegt eine Dokumentation der Jagd auf die Schwulen Marokkos vor und hat
sie eingesehen. Marokkanische Aktivist*innen haben gesammelt, was der
Aufruf der Influencerin in den sozialen Medien im Land angerichtet hat.
Allein auf Facebook werden derzeit in mindestens zwei Dutzend Gruppen die
Klarnamen und Bilder von queeren Marokkaner*innen geteilt. In mehr als 100
Fällen, die die taz nachprüfen konnte, wurden diese offenbar erschlichen,
indem die betreffende Person auf einer der Dating-Apps angeschrieben wurde.
Eine Mehrheit der Täter*innen sind Frauen, die sich mit Klarnamen in
sozialen Medien bewegen. Neben Bildern von ihren Kindern und Backrezepten
erscheinen Screenshots von Grindr auf ihren Profilen. Die Frauen posten
seit Tagen die privaten Daten ihrer Opfer, beleidigen sie queerfeindlich,
drohen mit einer Anzeige, teilen ihre persönlichen Daten im Netz. Es ist
ein Pranger mit potenziell dramatischen Folgen für die Einzelnen.
Denn Artikel 489 des marokkanischen Strafgesetzbuches stellt Homosexualität
unter Strafe. Menschen, die „unnatürliche sexuelle Beziehungen eingehen“,
droht demnach bis zu drei Jahren Haft. Der Gesetzestext ist ein Relikt aus
der französischen Besatzungszeit, die homofeindliches Recht in viele Länder
Afrikas und Asiens brachte.
Dazu kommt, dass wegen der Coronapandemie derzeit eine strikte
Ausgangssperre im ganzen Land herrscht. Sie wird von der Polizei und vom
Militär streng überwacht. Niemand darf ohne Passierschein das Haus
verlassen – und viele Queers leben bei ihren Familien. Marokkanische Medien
berichten von schwulen Männern, die verprügelt oder während der Quarantäne
von ihren Familien auf die Straße gesetzt und damit den Behörden
ausgeliefert wurden. So passiert es in diesen Tagen in fast allen großen
Städten des Königreichs: Agadir, Marrakesch, Casablanca, Fès oder Tanger.
Ein 22-jähriger schwuler Student hat sich vergangene Woche in Rabat unter
dem Druck seiner Familie das Leben genommen. Längst haben Erzkonservative
und Extremisten das Thema für sich entdeckt und sprechen von „Reinigung der
Gesellschaft“.
Warum ruft ausgerechnet eine queere Person zur Gewalt gegen andere queere
Menschen auf? In einem Video, das Taloni vor wenigen Tagen aufgenommen hat,
erzählt sie die Geschichte, wie sie sich einst in Marokko vor der Kamera
prostituiert habe. Es sei ihr dabei viel Gewalt von marokkanischen und
ausländischen Cis-Männern angetan worden. Zwar hat sie sich für das
Zwangsouting „unbeteiligter Menschen“ entschuldigt, rief daraufhin aber
ihren Follower*innen zu: „Als ich mir Brüste habe machen lassen, haben mich
die Schwuchteln ausgelacht. Ich wollte es ihnen einfach zurückzahlen. Und
wer nicht zu seiner Homosexualität steht, ist selbst schuld.“ Die Mädels
versprechen ihrem Idol in den sozialen Medien noch mehr „brisante
Recherchen“.
## Rückschlag für die Community
Adam Ouchraa ist 23 Jahre alt und queere*r Aktivist*in in Marrakesch.
Ouchraa lebt seit einem Jahr in einer eigenen Wohnung und kann deswegen
frei sprechen. „Verzweifelte Queers schließen sich zu Hause im Bad ein und
rufen mich an. Wir weinen gemeinsam. Sie wissen meistens nicht weiter,
berichten, dass sie bedroht werden. Einige von ihnen sind obdachlos
geworden und wir versuchen, Schlafplätze für sie zu organisieren.“
Die Jagd, die Sofia Taloni ausgerufen habe, mache Adam Ouchraa depressiv,
denn sie ruiniere auch die aktivistische Arbeit der vergangenen Jahre. „Wir
haben so viel dafür getan, dass wir zwischen einem homo- und
transfeindlichen Staat und religiösen Extremisten endlich akzeptiert
werden, und dann, auf einen Schlag, fallen die Heteros über uns her.
Ausgerechnet von Taloni angestachelt. Das verletzt mich sehr“, sagt
Ouchraa, betont allerdings auch die Solidarität innerhalb der queeren
Community Marokkos. Diese verleihe Hoffnung und reiche weit über Grenzen
hinweg.
Abdellah Taïa lebt in Paris. Er ist marokkanischer Autor. Seine queeren
Texte sind unter anderem bei Suhrkamp erschienen. Auch Taïa hat ganz am
Anfang die Brisanz dieser Affäre erkannt: „Als ich den Aufruf von Taloni
gesehen habe, verspürte ich Angst. Es kam mir so vor, als würde jemand
einen Menschen vor meinen Augen töten. Was Taloni getan hat ist kriminell.
Sie muss dafür ins Gefängnis wandern.“
Dieser Skandal sei allerdings viel größer als die Kampagne einer einzelnen
Influencerin. „Die Hetzjagden passieren auch ohne Hatespeech auf Instagram.
Taloni hat lediglich Öl ins Feuer gekippt. Ein Feuer, das vom
marokkanischen Staat angefacht wird. Es ist nämlich dieser Staat, der uns
Queers bedroht, uns unsere Rechte verwehrt und hier in Europa als Partner
gefeiert wird“, sagt Taïa am Telefon, „leider trifft es uns hart in einer
Zeit, in der wir uns noch nicht mal mit einer Umarmung gegenseitig
bestärken oder in unsere sicheren Räume zurückziehen können.“ Für queere
Menschen gibt es gerade in Marokko keine [2][Safer Spaces] – weder off-
noch online.
## Einige Plattformen reagieren
Die Pressestelle von Grindr, einer der Dating-Apps, betont derweil die
Sicherheitsmaßnahmen, die ohnehin in Marokko gelten würden. Auf eine
Anfrage der taz teilt ein Sprecher des Unternehmens mit, User*innen würden
Warnmeldungen bekommen, wie sie ihre Daten am besten schützen können.
Außerdem sei es auf der marokkanischen App-Version nicht möglich,
Screenshots zu erstellen, man sehe auch nicht, wie viele Meter andere
Personen von einem entfernt seien. Die Selbstlöschungsfunktion von
versendeten Bildern sei gratis für alle Nutzer*innen verfügbar, verdächtige
Profile entferne Grindr sofort.
Auch andere Plattformen sind aktiv geworden: Sofia Talonis Account wurde
auf Instagram, das zum Facebook-Imperium gehört, gesperrt. Auf Anfrage der
taz schreibt eine Sprecherin des US-Unternehmens zurück: „Wir erlauben es
Menschen auf Instagram nicht, Mitglieder der LGBTQ+ Community zu outen,
weil dies die Betroffenen gefährdet. Wir haben die Facebook- und
Instagram-Konten des Creators gesperrt und wir unternehmen weitere
proaktive Schritte, um Inhalte wie diese zu finden und zu entfernen.“ Nur
bei Youtube ist die Influencerin weiterhin online. Youtube hat eine
entsprechende Anfrage der taz bis Redaktionsschluss nicht beantwortet.
Sofia Taloni hat aber längst in mehreren Statements betont, dass sie gar
nicht auf ihre öffentlichen Accounts angewiesen sei. Sie schicke ihre
Videos mittlerweile direkt an ihre „Mädels“. Die loyalen Fans würden sie
dann überall hochladen und privat über WhatsApp weiterleiten: „Ihr könnt
mich so oft blockieren, wie ihr wollt, meine Videos erreichen eh alle und
jede Person kann mir an meine öffentlichen WhatsApp-Nummern schreiben.“ Für
eine Anfrage der taz war Taloni nicht erreichbar.
28 Apr 2020
## LINKS
[1] /Dating-App-fuer-Homosexuelle/!5033393
[2] /Queere-Gefluechtete/!5637069
## AUTOREN
Mohamed Amjahid
## TAGS
Schwerpunkt LGBTQIA
Marokko
Homophobie
Marokko
Marokko
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Flüchtlingshilfe
Bündnis 90/Die Grünen
Homosexualität
## ARTIKEL ZUM THEMA
Gestrandete Marokkaner*innen: Die Vergessenen der Coronakrise
Sie wollten Urlaub machen, dann kam Corona. Noch immer sitzen mehr als
20.000 Marokkaner*innen im Ausland fest. Eine von ihnen ist Souad
Belkhadim.
Nach Grindr-Denunziation in Marokko: Brief an junge Queers
Der Schriftsteller Abdellah Taïa solidarisiert sich in einem Radiobeitrag
mit Homosexuellen in Marokko. Eine Influencerin hatte diese denunziert.
Regenbogenflagge über Bagdad: EU setzt Zeichen gegen Homophobie
Die EU hisst in in der irakischen Hauptstadt Bagdad die Regenbogenflagge
und provoziert einen Skandal. Iraks Regierung gibt sich empört.
Queere Geflüchtete: Neues Leben Berlin
In Berlin gibt es viele queere Schutzräume. Dennoch sehen sich Geflüchtete
in ihrer neuen Heimat mit vielen Herausforderungen konfrontiert.
Debatte um „sichere Herkunftsstaaten“: Ohne Perspektive
Die Grünen kritisieren die geplante Einstufung Georgiens als „sicheren
Herkunftsstaat“. In der Praxis würde die Kategorie wenig verändern.
Dating-App für Homosexuelle: Grindr schließt Sicherheitslücke
Die Dating-App Grindr zeigt den Standort der Nutzer an. In vielen Ländern
können so Schwule geoutet und verfolgt werden. Jetzt hat Grindr reagiert.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.