# taz.de -- Diskriminierung im Gesundheitswesen: „Es gibt keine schwulen Zäh… | |
> In Zahnarztpraxen erfahren queere und HIV-positive Menschen oft | |
> Diskriminierung. Eine Berliner Praxis begreift sich als Teil der | |
> Community. | |
Bild: Zahnarzt Peter Lutz in der Zahnarztpraxis Lipp & Lutz am Berliner Nollend… | |
Berlin taz | Der Nollendorfplatz gilt als queerer Szenekiez Berlins. Der | |
Platz und die umliegenden Straßen sind eng mit der schwul-lesbischen | |
Geschichte Berlins verwoben. Und das ist bis heute spürbar. Überall hängen | |
Regenbogenflaggen, in der anliegenden Motzstraße gibt es eine Darkroom-Bar, | |
[1][einen queeren Buchladen] und etliche queere Bars, Vereine und Clubs. | |
Gleich hier, am Nollendorfplatz 8, befindet sich die gemeinschaftliche | |
Zahnarztpraxis Lipp und Lutz. | |
Im 11. Stock eines Hochhauskomplexes gleich gegenüber der U-Bahn-Station | |
liegt die Praxis mit Panoramablick über den bunten Kiez und die Dächer | |
Berlins. Peter Lutz trägt einen weißen Arztkittel. Gemeinsam mit einem | |
Kollegen leitet er die Zahnarztpraxis in Berlin-Schöneberg. Etwa die Hälfte | |
der Patienten ist, so sagt er, schwul. In der Praxis findet die Community | |
Ärztinnen und Ärzte, die ihnen diskriminierungsfrei begegnen. Das ist keine | |
Selbstverständlichkeit, denn auch im Gesundheitswesen werden queere | |
Menschen und Personen mit HIV noch häufig diskriminiert. Das konnte Peter | |
Lutz in seiner Zeit als Krankenpfleger selbst erleben. | |
1991 zog der damals 20-Jährige nach Berlin. Er war jung und schwul zu einer | |
Zeit, in der Homosexuelle noch häufig mit der Aids-Epidemie in Verbindung | |
gebracht wurden. Es gab damals außerdem noch wenig Wissen über das Virus, | |
das zu einer Schwächung der Immunabwehr führt. „Ich habe meine Sexualität | |
in einer Zeit entdeckt, in der diese als Problem angesehen wurde“, sagt er. | |
„Ich konnte sie nicht frei ausleben.“ In Berlin habe er damals als | |
Krankenpfleger beim Verein Hilfe-Information-Vermittlung e. V. gearbeitet | |
und sich um aidskranke Menschen gekümmert. | |
Der Verein wurde von schwulen HIV-positiven Männern gegründet, ursprünglich | |
als Selbsthilfegruppe. In dieser Zeit habe er viele Menschen kennengelernt, | |
die ihn inspirierten – sowohl unter den Patienten als auch unter den | |
Mitarbeitenden. Er habe deren Mut und Engagement bewundert und sich bei der | |
Arbeit politisiert. Damals gab es noch keine Medikamente, eine Diagnose | |
glich einem Todesurteil. „Wir haben die Menschen beim Sterben begleitet“, | |
erzählt er. Ein harter Job für einen 20-Jährigen – der Tod war | |
allgegenwärtig, ständig starben junge Männer, die er pflegte. „Ich dachte | |
mir damals: So muss sich Krieg anfühlen.“ | |
## Ein Statement | |
Doch nicht nur in der Arbeitszeit drehte sich vieles um Leid und Tod. Die | |
Angst vor HIV war allgegenwärtig. Peter Lutz sagt, in der Community habe | |
damals jeder eine Person gekannt, die an Aids gestorben ist. „Es war | |
dramatisch, ich war ständig auf einer Beerdigung“, sagt er. Menschen, zu | |
denen er über Jahre intensive freundschaftliche Beziehungen pflegte, | |
starben und fehlten anschließend in seinem Leben. „Das hat mich bis heute | |
geprägt.“ | |
Peter Lutz habe bei seiner Arbeit auch oft Patienten zum Zahnarzt | |
begleitet. So erfuhr er von den Diskriminierungen und den körperlichen | |
Beschwerden vieler Patienten. „Damals gab es nur zwei Zahnärzte in Berlin, | |
zu denen HIV-positive Menschen gehen konnten“, erzählt er. Beide waren | |
schwul, und Peter Lutz lernte sie während seiner Arbeit als Krankenpfleger | |
kennen. Später entschied er sich, sein Abitur nachzuholen und Zahnmedizin | |
zu studieren. Nach seinem Studium fing er bei einem dieser beiden Zahnärzte | |
zu arbeiten an. | |
Die drei Männer schlossen sich Jahre später zusammen und eröffneten eine | |
gemeinsame Praxis, einer ist heute bereits in Rente. Peter Lutz' | |
aktivistischer Ansatz ging nicht verloren: „Der Standort am Nollendorfplatz | |
sollte ein Statement sein.“ | |
HIV wird auch heute noch oft mit den Schreckensbildern von früher in | |
Verbindung gebracht. Dabei bedeutet eine [2][HIV-Diagnose schon lange nicht | |
mehr das, was sie früher einmal bedeutete]. Mit den heutigen | |
Behandlungsmöglichkeiten ist HIV in westlichen Ländern mittlerweile eine | |
Diagnose, mit der es sich gut leben lässt. | |
Die Medikamente sorgen dafür, dass die Viruslast im Körper oft so gering | |
ist, dass sie nicht mal nachgewiesen werden kann. HIV-positive Menschen | |
können also sogar ungeschützten Geschlechtsverkehr haben, ohne das Virus | |
weiterzugeben. Oder HIV-negative Kinder bekommen. Diskriminierung im | |
Gesundheitswesen gibt es offenbar dennoch. | |
## Abweisung bei Zahnschmerzen | |
Hildegard Welbers, 73, hat sie selbst erlebt. Nach ihrer Diagnose dauerte | |
es lange, bis sie einen Zahnarzt fand, der sie wie alle anderen | |
Patientinnen und Patienten behandelte. Als Welbers bei einem Zahnarzttermin | |
ihren HIV-Status ansprach, reagierte das Personal in der Praxis aufgeregt | |
und nervös. Nach einer kurzen Besprechung des Teams wurde sie dann darum | |
gebeten, am Ende des Tages wiederzukommen. „Wir müssen das Zimmer nach | |
ihrem Termin komplett desinfizieren“, sagte die Mitarbeiterin zu ihr. | |
In einer anderen Praxis wurde sie erst gar nicht als Patientin angenommen. | |
Die Erklärung: Das Praxispersonal wolle sie wegen ihres HIV-Status nicht | |
behandeln. „Ich fing sofort an zu weinen und brach zusammen“, erinnert sie | |
sich. „Ich fühlte mich wie jemand, vor dem andere Angst haben müssen“, | |
erzählt sie. Sie gab sich selbst die Schuld und sah sich als Gefahr. „Die | |
Abweisung war schlimmer als meine Zahnschmerzen.“ | |
Erst mit Unterstützung der Aids-Hilfe fand Hildegard Welbers eine Praxis, | |
die sie so behandelte wie alle anderen Patientinnen und Patienten auch. | |
[3][Das Robert-Koch-Institut weist in seinem Ratgeber für Ärztinnen und | |
Ärzte darauf hin], dass bei allen Patientinnen und Patienten die Maßnahmen | |
der Basishygiene anzuwenden seien – der HIV-Status der zu behandelnden | |
Person könne schließlich auch unbekannt sein. Jemanden wegen einer | |
HIV-Diagnose abzulehnen ist nicht nur falsch, es ist auch gesetzwidrig. | |
Peter Lutz hört immer wieder, wie HIV-positive Patientinnen und Patienten | |
in anderen Praxen behandelt werden. Er kann dieses Verhalten nicht | |
verstehen, HIV-positive Menschen bräuchten keine Sonderbehandlung. Die | |
Gegenstände im Behandlungsraum müsse er nach jeder Behandlung auf die | |
gleiche Weise sterilisieren. „Ich muss theoretisch jeden Patienten so | |
behandeln, als hätte er eine ansteckende Erkrankung“, sagt Peter Lutz. Das | |
könne er nie ausschließen. | |
## Offenheit und Unterstützung | |
Viele schwule Männer kommen gerne in die Praxis am Nollendorfplatz, weil | |
sie hier so behandelt werden wie alle anderen. „Es gibt zwar keine schwulen | |
Zähne, aber Patienten mit besonderen Bedürfnissen“, sagt Peter Lutz. Auf | |
seinem Behandlungsstuhl könne jeder Patient ohne Bedenken vom Ehemann | |
sprechen, oder von sexuell ausgelösten Schleimhautproblemen. „Das ist nicht | |
überall möglich“, sagt er. Ressentiments gebe es noch immer, selbst in | |
Berlin. „Wir müssen weiterhin gegen Vorurteile kämpfen.“ | |
Dass sich am Nollendorfplatz viele andere queere Einrichtungen befinden, | |
ist oft ein großer Vorteil. „Die Community steht nicht nur für Party, | |
sondern auch für ein Netzwerk“, sagt Peter Lutz. Oft komme es nämlich vor, | |
dass ein HIV-positiver Patient in die Praxis komme, der sich die Behandlung | |
nicht leisten könne. | |
In solchen Fällen suche er mit seiner Praxis und anderen Einrichtungen im | |
Kiez gemeinsam nach einer Lösung, um die Behandlung dennoch durchführen zu | |
können – oft mit Erfolg. Peter Lutz weiß aus seiner Arbeit in den 90er | |
Jahren noch genau, wie wichtig der Zusammenhalt und die Unterstützung in | |
schwierigen Zeiten sein können. „Wenn es jemandem aus der Community nicht | |
gut geht, unterstützen wir uns gegenseitig.“ | |
27 Mar 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Essay-Queerness-in-der-Politik/!5585319 | |
[2] /Nach-Stammzellbehandlung-frei-von-HIV/!5574826 | |
[3] https://hiv-diskriminierung.de/sites/default/files/documents/2018_03_29_dei… | |
## AUTOREN | |
Steven Meyer | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
Queer | |
Gesundheit | |
Zahnmedizin | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
Queer | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
Europäischer Gerichtshof | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schweiz | |
Flüchtlingshilfe | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
LGBTIQ-Menschen in der Arbeitswelt: Diskriminierung bleibt Alltag | |
JedeR dritte Homosexuelle wurde am Arbeitsplatz schon diskriminiert, so | |
eine neue Studie. Unter trans Personen sind die Zahlen noch höher. | |
Soziologin über Queere Stadtplanung: „Verschiedene Blickwinkel“ | |
Lange wurde nicht versucht, Städte inklusiver zu gestalten. Stadtplanung | |
gilt noch als heterosexistisch. Ein Gespräch mit Soziologin Nina Schuster. | |
Studie zum Leben von LGBTI: Im Verborgenen | |
Fast die Hälfte aller Queers in Deutschland lebt ihre sexuelle Orientierung | |
nicht offen aus. Mehr als ein Drittel wurde im letzten Jahr belästigt. | |
EuGH-Urteil zu homophoben Äußerungen: Mehr Schutz vor Diskriminierung | |
Der Gerichtshof mahnt an: Auch ohne konkreten Bewerber darf sich ein | |
Arbeitgeber nicht negativ über die sexuelle Orientierung von Kandidaten | |
äußern. | |
Serien auf der Berlinale: Endlich Normalität | |
Die Berlinale will mit ihrer Serien-Sektion mehr Sichtbarkeit wagen und | |
Sexualität neu denken. Mit ihren Coming-of-Age-Formaten gelingt ihr das. | |
Schweizer Referendum: SchweizerInnen bestrafen Hass | |
In der Schweiz hat die Bevölkerung für ein Diskriminierungsverbot gestimmt. | |
Es soll vor allem Homosexuelle schützen. | |
Queere Geflüchtete: Neues Leben Berlin | |
In Berlin gibt es viele queere Schutzräume. Dennoch sehen sich Geflüchtete | |
in ihrer neuen Heimat mit vielen Herausforderungen konfrontiert. |