Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Christopher Street Day: Hauptsache, Heten haben Spaß
> Unsere zwei Autor_innen haben zum ersten Mal den CSD besucht. Ihr Fazit:
> Ein kommerzielles Massenevent in Deutschlandfarben.
Bild: Echte Diversity geht anders: Teilnehmer der CSD-Parade in Berlin auf eine…
Berlin taz | Auf Campingstühlen mit Getränken aus der Kühlbox im Schatten
sitzend den vorbeifahrenden lauten Wägen dabei zuschauen, wie sie über den
Ku’damm ziehen, so unaufgeregt hätte der Berliner CSD für uns sein können.
Doch wir verließen am Mittag unsere Komfortzone nicht, um uns selber
dorthin zu drängen, wo die CSD-Klientel uns am liebsten hätte, an den Rand.
Es war der 27. Juli 2019 und für uns beide die erste CSD-Parade. Wir
wollten inmitten des Spektakels feiern und warteten oben am U-Bahn-Eingang
nur auf den richtigen Wagen mit erträglicher Musik und nicht allzu
peinlichem Sponsor. Wir warteten vergebens.
Queer und noch nie auf dem CSD gewesen, geht das überhaupt? In der Provinz
mag das Pride-Event die wichtigste LGBTI-Veranstaltung des Jahres sein, in
Berlin hat es für die meisten Queers jedoch keine so große Bedeutung. Wie
wichtig kann ein kommerzielles Massenevent denn schon sein, wenn in dieser
Stadt unzählige queere Veranstaltungen stattfinden? Besonders diejenigen,
die sich mit radikaler queerer Geschichte und politischer Praxis
auseinandergesetzt haben, wissen um die Kritik an Pride-Events. Zwischen
Institutionen und Konzernen wie Bundeswehr, Polizei, Evangelische Kirche,
PayPal oder Bayer ausgelassen zu feiern, während all jene das restliche
Jahr über keinen positiven Beitrag für queere Communities leisten,
erscheint nicht nur widersprüchlich, sondern auch heuchlerisch.
Besonders 2019, wo jedes Label eine eigene Pride-Kollektion herausbringt
und sich der [1][legendäre Aufstand von Schwarzen trans Sexarbeiter_innen
und Queers im New Yorker Stonewall Inn gegen Polizeigewalt] zum 50. Mal
jährt. Ein Anlass, den der Berliner CSD für sein diesjähriges Motto „50
Jahre Stonewall – Jeder Aufstand beginnt mit deiner Stimme“ nimmt. Ein
Appell an die politische Dimension von Pride oder einfach eine edgy
Promo-Möglichkeit für Konzerne und Labels?
Anstatt den CSD aus der Ferne zu verurteilen, fanden wir uns inmitten einer
Freund_innengruppe, die natürlich nur ironisch mitfeierte, auf dem Ku’damm
wieder. Auf den ersten Blick erinnerte die Menschenmasse an eine
WM-Fanmeile, nicht zuletzt als sich uns ein von oben bis unten in
Deutschlandfarben eingekleideter Typ annähern wollte. Wir baten ihn sich zu
verpissen. Am Straßenrand kauften einige Menschen noch hastig die
obligatorischen Regenbogenflaggen, andere kamen bereits in ihren umwickelt
an. Manche der Fahnen verschmolzen mit den Deutschland-Farben oder dem
EU-Motiv.
## Eine vierstündige Dauerwerbesendung
Unser persönlicher Liebling war die Regenbogenflagge mit einem fetten „Ich
liebe dich, Deutschland! Ich liebe dich, Axel“ drauf. Jemand lief mit dem
Shirt herum, auf dem die EU neben ermordeten LGBTQI-Aktivist_innen wie
Marielle Franco, Marsha P. Johnson oder Harvey Milk aufgelistet wird, als
säßen im EU-Parlament nicht dutzende Rechte und als ließe die EU nicht mit
aller Kraft Geflüchtete – ja, auch queere – im Mittelmeer ertrinken. Die
Polizei verhielt sich größtenteils friedlich. Das mag daran liegen, dass
selbst das Kiffen während des Dienstes normalisiert wird. Den Eindruck
machte zumindest ein junger Beamter, der genüsslich an seinem Vaporizer
zog, während seine Kolleg_innen Kondome mit Sprüchen wie „Schusssicher“ u…
„Stehen bleiben“ verteilten.
Auf eine Art ist die CSD-Parade eine vierstündige Dauerwerbesendung mit
Wägen voller Heteros, die den Pride-March ihren Kostümen nach für eine
Bad-Taste-Party halten müssen. So scheinen sie Queers zu betrachten: nicht
als Trendsetter_innen und politische Subjekte, sondern als ulkig gekleidete
Schrullen, die nur ficken und feiern können. Frech und bunt.
Wir beobachten den Zug, bis wir realisieren, dass nicht wir diejenigen
waren, die die im Schneckentempo vorbeifahrenden Wägen anstarrten, sondern
dass die Unternehmer_innen und Partygäste auf den Wägen auf Safari sind.
Wir waren die Freaks, die angestarrt werden, und nicht andersherum. Selbst,
wenn man es begrüßt, eine riesige queere Party wie den CSD zu feiern,
sollte der Sinn sein, sich einigermaßen wohl zu fühlen, queere Kultur in
der Menge gespiegelt zu bekommen, ein Gefühl von politischer und sozialer
Gemeinschaft zu entwickeln: Stattdessen schlägt bei so mancher ein Gefühl
der Entfremdung ein, denn was haben wir schon mit einem Haufen Almans
gemeinsam?
Auf dem Dyke March am Vorabend kamen wir wegen Small Talks kaum voran. Hier
stießen wir auf keine einzige Person aus der queerfeministischen Community,
denn diese nahm eher an der Alternative teil, dem „Radical Queer March“ in
Kreuzberg. Später erfuhren wir, dass selbst dort Polizeigewalt und
Antisemitismus zu Konflikten geführt haben.
## Sogar der Diversity Begriff verwässert
Das diesjährige Riot-Motto erschien besonders zynisch: Wenn die Deutsche
Bahn oder Vattenfall „Riots“ promoten und der trans Block vom Siemens-Truck
übertönt wird, ist man sich unsicher, ob sie wissen, was ein Aufstand ist.
Im queeren Kontext steht er für den gewaltvollen Ausdruck der
Unzufriedenheit und des Widerstands von sozial benachteiligten Gruppen und
Schichten – und nicht irgendwelche weiße Hetero-„Allies“ und bürgerliche
Schwule, die besoffen zu dem einzigen türkischen Song, den sie kennen,
tanzen.
Nachdem wir uns das Elend angeschaut hatten, wünschten wir uns fast, die
Organisator_innen wären trotz Kritik bei dem alten, zuvor ausgewählten
Motto „Queer sind Berlin – JEMEINSAM!“ geblieben. Dieses musste wegen
fehlender politischer Orientierung an 50 Jahre Stonewall ersetzt werden,
hätte sich aber durch seine Inhaltsleere viel besser mit der Veranstaltung
vertragen.
Wenn der CSD Berlin nur eine Party für Deutsche und (deutsche) Unternehmen
ist, dann gibt es auch keinen Grund sich radikale Rhetorik anzueignen.
Deutsche Unternehmen schaffen es sogar, den ohnehin schon liberalen
Diversity-Begriff zu verwässern: Vattenfall („Powered by Diversity – 100 %
Toleranz“) zum Beispiel kriegt es nicht mal hin, repräsentativ ein paar
Token-Kanak_innen auf ihren Wagen aufzunehmen. Während die Schwarzen trans
Frauen, die damals den Stonewall Riot auslösten, vor allem
Sexarbeiter_innen und aus der Arbeiterklasse waren, wird das Event fünfzig
Jahre später komplett von weißen Bürgis dominiert.
Auch im CSD-Member-Bereich, der nicht mehr als ein Biergarten war, bleiben
nicht-weiße Menschen unterrepräsentiert – außer sie arbeiten in der
Security. Als eine nicht-weiße Person einen dieser Mitarbeiter fragte, ob
es in dem für sie abgesperrten Bereich denn Essen gäbe, antwortete dieser
mit einem Grinsen: „Bestimmt, aber nicht für uns.“
## Die dritte Option neben Herr und Frau: Zuhause bleiben
In der Member-Area neben der Bühne am Brandenburger Tor, auf der bis
Mitternacht ein nicht gerade berauschendes Rahmenprogramm geboten wurde,
gab es schließlich kostenlose Getränke, Toiletten und jede Menge weißer cis
Typen ließen bei einem schlecht gemixten Drink der Vetternwirtschaft freien
Lauf. Das Resultat wird sich in der Verteilung von Senatsgeldern und
anderen Ressourcen im kommenden Jahr zeigen. Bisher stauben weiße schwule
Projekte wesentlich mehr als lesbische oder auch migrantische queere ab.
Um in diesen abgesperrten Bereich zu kommen, wurden für eine Registrierung
limitierte Codes an LGBTIQ-Organisationen vergeben. Bei der Anmeldung
konnte eine_r sich in der Anrede zwischen „Herr“ und „Frau“ entscheiden.
Die Dritte Option wäre in diesem Fall Zuhausebleiben. In einem Land, in dem
„Vincent“ von Sarah Connor als Gay-Hymne gilt und wo [2][Heidi Klum den
Ableger von RuPaul’s Drag Race moderiert], ist die apolitische Dimension
des CSD kein Stückchen überraschend, denn mal wieder gilt: Hauptsache die
Heten haben Spaß. Wir waren auf der Love Parade und alles, was wir bekamen,
waren Regenbogenfahnen.
28 Jul 2019
## LINKS
[1] /50-Jahre-Stonewall-Unruhen/!5605736
[2] /Dragqueen-Show-mit-Heidi-Klum/!5607381
## AUTOREN
Hengameh Yaghoobifarah
Bahar Sheikh
## TAGS
Christopher Street Day (CSD)
Diversity
Schwerpunkt LGBTQIA
Queer
Flüchtlingshilfe
Diversität
Transgender
Homophobie
Christopher Street Day (CSD)
Russland
Polen
Unternehmen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Queere Geflüchtete: Neues Leben Berlin
In Berlin gibt es viele queere Schutzräume. Dennoch sehen sich Geflüchtete
in ihrer neuen Heimat mit vielen Herausforderungen konfrontiert.
LGBTIQ*-Szene in Sachsen: „Wir sind aber nicht mehr“
Für Queere ist das Leben in Sachsen leichter geworden, doch ein Coming-out
ist immer noch riskant. Wie verteidigt man seine Rechte?
Transsexueller Pornostar: „In den schwulen Mainstream“
Billy Vega ist schwul, trans und tritt in Pornos auf. Damit leistet er
Pionierarbeit in der Industrie. Diskriminierung gibt es aber auch dort.
Autor über Homosexuellenbewegung: „Homophobie gibt es überall“
Gottfried Lorenz kämpft seit den 1970ern in Hamburg für Rechte
Homosexueller. Nun engagiert er sich für ein Denkmal für sexuelle
Vielfalt.
Berliner CSD 2019: Tanz auf dem Vulkan
Der CSD – eine Mischung aus Kommerz, Party und Gedenken – erinnert nicht
nur an Stonewall, sondern auch an die Goldenen Zwanzigerjahre.
Mord an Aktivistin in Russland: Messerstiche in den Rücken
In Sankt Petersburg wird Jelena Grigorjewa tot aufgefunden. Sie hatte sich
für LGBTIQ-Rechte eingesetzt und Morddrohungen erhalten.
Angriff auf Gay-Pride-Parade in Białystok: Mit Steinen und Flaschen
Die Aktivist*innen werden in der Stadt im Nordosten attackiert. Aufgeheizt
wurde die Stimmung im Land auch durch Worte von ganz oben.
Neue LGBTIQ*-Wirtschaftsvereingung: Vielfalt zahlt sich aus
Eine neue Organisation will LGBTIQ*-Perspektiven in der Wirtschaft stärken.
Denn: Unternehmen profitieren von offenen Strukturen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.