# taz.de -- Berliner CSD 2019: Tanz auf dem Vulkan | |
> Der CSD – eine Mischung aus Kommerz, Party und Gedenken – erinnert nicht | |
> nur an Stonewall, sondern auch an die Goldenen Zwanzigerjahre. | |
Bild: Berliner CSD 2019: eine Millionen Menschen* sollen dabei gewesen sein | |
„Großstadt“ heißt das Gemälde von 1927/28, in dem Otto Dix den Widerspru… | |
der Goldenen Zwanziger ins Bild bringt, dem auch die Serie „Babylon Berlin“ | |
nachgespürt hat. Ein Widerspruch zwischen drinnen: Libertinage, Party, | |
grelle Kostüme, ermöglicht durch neue Märkte und Finanzspekulationen – und | |
draußen: graues Elend, das die Nazis zu nutzen wissen. Eines ihrer Ziele: | |
die Auslöschung nicht nur jüdischen, sondern auch queeren Lebens und | |
überhaupt alles „Entarteten“. | |
2019, vier Wochen vor den Wahlen, die draußen in Brandenburg zeigen werden, | |
wie gut die neuen Rechten die Gegenwart für sich nutzen können, beging | |
Berlin am Samstag den CSD. Am Beginn des Feiertages, noch vor dem Einsätzen | |
der Bässe am Ku’damm, noch vor der Großstadtparty stand Stille: Am Denkmal | |
für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen halten etwa 40 | |
Versammelte eine Schweigeminute für die NS-Opfer ab, darunter die offen | |
schwulen Senatoren Klaus Lederer (Linke) und Dirk Behrendt (Grüne). Auch | |
Landesparlamentarier*innen, die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld und der | |
Schwulen- und Lesbenverband (LSVD) sind vertreten. | |
Auffällig viele der Anwesenden tragen weiße Kleidung. „Damit drücken wir | |
eine Allianz aus, die die historische Sichtbarkeit von Lesben, trans* und | |
inter* Personen unter den NS-Opfern stärken möchte“, erklärt die | |
Grünen-Politikerin und lesbische Aktivistin Ina Rosenthal am Rand der | |
Veranstaltung. Im Gedenken, wie es der LSVD Berlin Brandenburg gestalte, | |
würde diese Gruppen kein Raum gegeben, sagt Rosenthal. | |
Fernab vom stillen Gedenken im Tiergarten nimmt etwa eine Stunde später die | |
Großstadt-Party am Ku’damm Fahrt auf. Gedenken, Politik, interne | |
Differenzen spielen in dieser ekstatischen und trunkenen Stimmung keine | |
Rolle mehr, oder doch? Nach anhaltender Kritik am mangelnden historischen | |
und politischen Anspruch der Parade versuchte der veranstaltende CSD-Verein | |
in diesem Jahr unter dem Motto „50 Jahre Stonewall – Jeder Aufstand | |
beginnt mit deiner Stimme“ an die radikalen politischen Anfänge der | |
Bewegung in der New Yorker Christopher Street zu erinnern, ein weniger | |
politisches Motto wurde nach kritischen Einsprüchen fallen gelassen. | |
## Teilnahme von großen Unternehmen | |
An der kommerziellen Ausrichtung und Finanzierung der Parade hat sich | |
jedoch auch 2019 nichts geändert. | |
„Zumindest fragwürdig“ findet Lisa-Marie Gerlach die Teilnahme von großen | |
Unternehmen wie Amazon, Ebay, Bayer und Microsoft. „Das stinkt nach der | |
Kommerzialisierung von Problemen marginalisierter Gruppen“, sagt Gerlach. | |
Sie ist Teil der Amnesty-International-Hochschulgruppe der Berliner | |
Humboldt-Universität, die die Parade nutzen möchte, um auf | |
Menschenrechtsverletzungen gegen LGBTIQ*s weltweit aufmerksam zu machen. | |
Torsten wiederum, der seinen vollen Namen nicht nennen möchte und mit einer | |
Fetisch-Hundemaske vorm Gesicht beim CSD mitläuft, ist wegen der Party | |
hier. „Aber es ist schon auch wichtig, zu demonstrieren, jetzt, wenn sogar | |
in Amerika wieder die Rechte von Homosexuellen beschnitten werden.“ | |
Langsam kommt der Zug der Straße des 17. Juni näher. „Vielfalt in allen | |
Farben“, schallt es vom Uber-Truck, der kurz die lautstarke Elektromusik | |
unterbricht. Musik, die es vermag aus vielfältigen Gruppen eine | |
energetische Masse zu machen. | |
## „Radical Queer March“ | |
Paul van Barneveld ist auf dem CSD um „Farbe, Energie und heiße Männer zu | |
erleben“, sagt der australische Designer, der mit Freunden Europa bereist | |
und zur Parade nach Berlin gekommen ist. Er steht an einem Bierstand vor | |
dem Brandenburger Tor, wo das Abschlussprogramm stattfindet. „Israel – | |
driven by diversity“ ist hier auf einer Reisereklame zu lesen, aber auch | |
eine Autovermietung und Getränkemarken werden auf dem CSD mit dem | |
Regenbogen beworben. | |
Ortswechsel: Am Mariannenplatz in Kreuzberg treffen sich gegen 18 Uhr | |
einige Hundert Menschen, um als „Radical Queer March“ dem radikalen Erbe | |
von Stonewall und den Widersprüchen der Gegenwart gerechter zu werden, als | |
sie das dem CSD zutrauen. Israel ist auch hier ein Thema, sogar das | |
bestimmende. | |
Der Teil des Zuges, der den Protest angemeldet hatte, fordert schon nach | |
wenigen Metern die propalästinensische BDS-Gruppe im hinteren Teil auf, | |
sich zu entfernen und ruft schließlich die Polizei zu Hilfe, um sich | |
abspalten zu können. „It’s not radical to call the police“ skandieren die | |
BDSler*innen. | |
Der Christopher Street Day in der Großstadt: grelle Kostüme, ausgelassene | |
Party und Stellvertreterkonflikte – das drohende Wahldebakel draußen in | |
Brandenburg, es fehlt im Bild. | |
28 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Stefan Hunglinger | |
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