# taz.de -- Queere Geflüchtete in Berlin: Ganz bei sich | |
> Omar ist 2015 aus Syrien geflohen. Heute lebt er in Berlin offen queer. | |
> Die Geschichte einer Selbstfindung. | |
Ich winke, als Omar den Park betritt. Omar hat recht gehabt, ich erkenne | |
ihn:sie sofort. An den leuchtenden Farben, die er:sie trägt. An der Baggy | |
Jeans, die kurz über den Knöcheln endet. Und den roten Socken, die wirklich | |
auffällig sind. Doch weil ich aufgehört habe, mich über Kleidung zu | |
wundern, die sowohl Frauen also auch Männer tragen können, überrascht mich | |
dieses Outfit nicht wirklich. Dafür aber die ungeheure Energie, die Omar | |
ausstrahlt. Und auch der Kajal um seine:ihre Augen ist mir neu. | |
„In meinen ersten Wochen in Berlin war dieses Viertel die Hölle für mich“, | |
sagt Omar. Wir spazieren Seite an Seite durch die Straßen von | |
Berlin-Neukölln. „Ich war erschöpft und kraftlos, und meine Schwäche haben | |
manche als Einladung verstanden.“ | |
Omar hätte genauso gut in ein anderes Viertel ziehen können, das ihm:ihr | |
als queere Person vielleicht mehr Sicherheit gegeben hätte. Aber er:sie | |
wollte sich seinen Wurzeln stellen, und hier in Berlin-Neukölln fühlt Omar | |
sich in die engen Gassen seiner Kindheit zurückversetzt. Doch zugleich ist | |
er:sie nicht zu übersehen, sein:ihr Aussehen provoziert manche Männer, | |
insbesondere Syrer. Vermutlich meinen sie, das gemeinsame Vaterland gebe | |
ihnen das Recht, über ihn:sie zu bestimmen. | |
„Doch seit ich meine Stärke wiedergefunden habe, gehen sie mir aus dem | |
Weg“, sagt Omar. Seine:ihre Größe und die breiten Schultern tragen | |
wahrscheinlich auch dazu bei. Trotzdem möchte Omar keinen richtigen Namen | |
nicht nennen. Er:sie will nicht erkannt werden, um der eigenen Familie die | |
Schande zu ersparen. | |
Omar und ich, wir haben uns im Exil kennengelernt. Wir stellten fest, dass | |
wir aus der gleichen Stadt in Syrien kommen. Doch obwohl unsere ehemaligen | |
Wohnviertel nur eine halbe Stunde Fahrt auseinander liegen, scheinen unsere | |
„Herkunftsgeschichten“ zwei völlig verschiedenen Welten zu entstammen. Ich, | |
die syrische Journalistin, und Omar, [1][der:die queere Fotograf:in, | |
der:die erst in Deutschland über die eigene sexuelle Identität bestimmen | |
konnte.] Der Weg dorthin war für Omar mehr als ein Coming-out, es war ein | |
gewaltsamer Befreiungsschlag, aus dem am Ende etwas Neues entstand. | |
Dabei stehen Omars Erlebnisse stellvertretend für all jene, die nicht nur | |
Krieg und politische Verfolgung erlebt haben, sondern auch wegen ihrer | |
Zugehörigkeit zur LGBTQI*-Community diskriminiert worden sind – und ihr | |
Heimatland verlassen haben. Aber was bedeutet es für einen queeren | |
Menschen, wenn er:sie sich von den Werten und Normen des jeweiligen | |
Geburtsorts abwendet und in die vermeintlich liberale Welt einer | |
europäischen Metropole eintaucht? Was verliert und was gewinnt ein queerer | |
Mensch dabei? | |
Während der Kindheit und Jugend in Syrien hat Omar keine Vorstellung vom | |
Konzept Gender, ihm:ihr wäre nie in den Sinn gekommen, dass es neben | |
„männlich“ und „weiblich“ noch mehr Geschlechter gibt. Er:sie geht nic… | |
davon aus, eine Genderidentität oder sexuelle Orientierung zu haben, die in | |
eine besondere Kategorie fällt. Aber er:sie weiß gleichzeitig ganz genau, | |
dass seine:ihre Versuche, den gesellschaftlichen | |
Männlichkeitsvorstellungen zu genügen, nur schlechtes Theater sind. | |
„Meine Erleuchtung hatte ich mit Greta“, sagt Omar, als wir nach dem | |
gemeinsamen Spaziergang in seiner: ihrer Küche sitzen. Bis dahin habe er | |
seinen:ihren Penis immer gehasst und sei jedes Mal gestresst gewesen, | |
wenn er:sie mit jemandem ins Bett gehen wollte. „Ich fühlte mich wie ein | |
Versager, bis ich diesen unvergesslichen Sex erlebte – Sex ohne | |
Penetration.“ | |
Das sei auch das erste Mal gewesen, dass Omar sich wie ein Mensch gefühlt | |
habe und nicht wie ein Mann, und Greta sei es ähnlich ergangen, als sie:er | |
merkte, gar keine Frau sein zu müssen. „Wir begannen zu reden und ich | |
erfuhr mehr über das breite Spektrum der Sexualität. Ich lernte zum | |
Beispiel, dass ich demisexuell bin und mein Wunsch nach emotionaler Bindung | |
dem Wunsch nach Sex vorausgeht“, sagt Omar. | |
Omar lernt in Berlin die queer-feministische Community kennen und findet | |
einen Weg, den Widerspruch zwischen seinem:ihrem Körper, in dem Omar | |
sich gefangen fühlt, und seiner:ihrer Selbstwahrnehmung, die zwischen | |
Männlichkeit und Weiblichkeit schwankt, zu überwinden. Das Konzept der | |
Nichtbinarität hilft Omar auch besser zu verstehen, zu welchen Menschen | |
er:sie sich hingezogen fühlt: zu jenen, die eine starke feminine | |
Ausstrahlung haben, wie auch immer ihr Körper aussehen mag. | |
Omars Geschichte beginnt bereits im Jahr 1981, neun Jahre vor | |
seiner:ihrer Geburt, in der syrischen Stadt [2][Homs]. Die Mutter hat | |
gerade ihr erstes Kind begraben, es ist noch vor seinem ersten Geburtstag | |
im Schlaf gestorben. Trauer um den kleinen Jungen erfüllt das große Haus, | |
in dem die Eltern von Omar im ersten Stock und die Eltern des Vaters im | |
Erdgeschoss leben. Der Vater hat keine Brüder. Die Verantwortung für das | |
Fortbestehen des Familiennamens lastet deshalb allein auf Omars Schultern. | |
Auch die trauernde Mutter ist auf männlichen Nachwuchs angewiesen, der ihre | |
Töchter beschützen und sich um sie und ihren Mann im Alter kümmern wird. | |
Ihr zweites Kind ist ein Mädchen und das dritte auch. Erst im Jahr 1990 | |
bekommt sie wieder einen Jungen, endlich. Die Eltern nennen ihn Omar. Sie | |
haben Angst, dass auch dieses Kind im Schlaf sterben könnte, und wechseln | |
sich darum bis zu seinem sechsten Lebensjahr ab, nachts neben ihm zu | |
wachen. | |
Das Leben in Homs ist damals im Großen und Ganzen ruhig, hier gibt es | |
keinen Raum für große Fragen. In den engen Stadtvierteln, in denen jeder | |
jeden kennt, sind die Straßen sicher, aber Privatsphäre gibt es kaum. Die | |
Lebenswege gleichen sich. In diesem von religiöser Strenge geprägten | |
Kontext genießen Männer eine viel höhere Stellung als Frauen, stehen dafür | |
aber ständig unter dem Druck, stereotypen Männlichkeitsvorstellungen zu | |
genügen: Sie müssen ihre Familien ernähren und ihre Frauen beschützen. Sie | |
müssen stets Stärke zeigen, aber vor den noch Stärkeren den Kopf senken. | |
Sie können religiös sein, aber nicht zu religiös, sonst werden sie als | |
Anhänger der als Terrororganisation geltenden Muslimbruderschaft | |
verdächtigt. | |
Als Kind ist Omar gutaussehend. Und auch friedlich, was ihn:sie zu einem | |
leichten Ziel für Hänseleien und Mobbing macht, obwohl Omar darauf achtet, | |
nicht aufzufallen. Omar fürchtet sich vor den aufgeblasenen Jungen an der | |
Ecke und bemitleidet die eigenen Eltern, die daran zerbrechen, dass ihr | |
lange erwartetes Kind nicht zu dem Mann heranwächst, den sie sich gewünscht | |
haben. | |
„Ich erinnere mich noch an das erste Mal, als ich versuchte, mich in ein | |
Mädchen zu verwandeln. Da war ich etwa 10 Jahre alt“, sagt Omar. „Ich | |
betrachtete meinen Körper im Spiegel. Dann nahm ich meinen Penis, zog ihn | |
nach hinten und klemmte ihn zwischen meinen Oberschenkeln ein. Plötzlich | |
sah es so aus, als hätte ich eine Vulva.“ | |
Immer wenn Omar allein zu Hause war, habe er:sie die Kleider der Schwester | |
angezogen. Dann habe sich alles in ihm:ihr entspannt. | |
Nichts, aber auch wirklich gar nichts habe sich richtig angefühlt während | |
der Jugend. Das war ein Aufwachsen in einer Atmosphäre, die gleichzeitig | |
von Liebe, Ignoranz und Angst geprägt war, erzählt Omar. | |
Rückblickend könne er:sie von sich selbst sagen, dass es nicht zu | |
seinem:ihrem Charakter gepasst habe, sich selbst zu verleugnen. | |
„Auch wenn mein Leben anders verlaufen wäre, wenn ich mich zum Beispiel | |
nicht der Revolution angeschlossen hätte, wenn ich nicht nach Deutschland | |
gekommen wäre, wenn ich die Welt nicht mit den Augen der Menschen, die hier | |
in mein Leben traten, zu sehen gelernt hätte, wenn all das nicht passiert | |
wäre, dann wäre ich auf einem anderen Wege zu dem Punkt gelangt, an dem ich | |
jetzt stehe.“ | |
Der entschiedene Ton in Omars Stimme kommt daher, dass er:sie schon viel | |
erlebt hat: Krieg, IS-Terror und die ständige Drohung von Verhaftung und | |
Folter durch das syrische Regime. Dann der Weg ins Exil, die | |
Herausforderungen, ein neues Leben in Deutschland aufzubauen. Heute gehe | |
er:sie an keinen Ort und zu keiner Veranstaltung, die nicht | |
queerfreundlich ist, sagt Omar. | |
Dass die Zeit nichts heilt, beweist der Kajal, der jetzt unter Omars Augen | |
verläuft. Während wir an seinem:ihrem Tisch sitzen, erinnert Omar sich | |
an abschätzige Gespräche zwischen Klassenkameraden, anzügliche Witze und | |
Pornovideos. Die meisten Jungen wetteiferten mit ihren Geschichten über | |
eingebildete oder reale sexuelle Erfahrungen, während andere, darunter auch | |
Omar, versuchten, die Selbstbefriedigung aus ihrem Leben zu verbannen. Denn | |
Selbstbefriedigung gilt für viele Muslime als Sünde. | |
Das einzige Gespräch über Sex, das Omar in dieser Zeit mit einem | |
Erwachsenen führt, ist mit dem Großvater, der ihm:ihr eine gewaltige | |
Standpauke hält, nachdem er herausbekommen hat, dass Omar sich selbst | |
befriedigt. „Ich wusste nicht mehr, wohin mit mir vor Scham und | |
Schuldgefühlen“, sagt Omar. Ihm:ihr seien damals die Tränen in die Augen | |
gestiegen, was den Großvater nur noch wütender gemacht habe, denn Männer | |
weinen nicht. „Ich war 13, und er hat mich behandelt, als wäre ich ein | |
Verbrecher.“ | |
Um Omar während unseres Gesprächs zu trösten, biete ich ihm:ihr von den | |
Süßigkeiten an, die ich in einem syrischen Geschäft auf der Sonnenallee | |
gekauft habe. „Schmeckt himmlisch“, sagt Omar, kaum dass er:sie den ersten | |
Bissen genommen hat. Dann bereitet Omar arabischen Kaffee zu, während ich | |
auf dem Balkon eine Zigarette rauche. Unten laufen junge Leute vorbei, | |
Grasgeruch weht zu mir hoch. | |
Mir gefällt das helle Studio, in dem Omar wohnt: ein Schlafsofa, das so | |
wirkt, als sei es schon seit Jahrzehnten in Benutzung, ein kleiner Tisch | |
zum Arbeiten, bunte Vorhänge und ein großer, offener Kleiderschrank, den | |
er:sie selbst gebaut hat. | |
Mit 13 habe er:sie angefangen, in den Sommerferien in einer Schreinerei zu | |
arbeiten, sagt Omar, als ich zurück in die Küche komme und ihn:sie auf den | |
schönen Schrank anspreche. „Das habe ich zwei Sommer lang durchgehalten, | |
auch um den anderen Jungen in der Nachbarschaft zu beweisen, dass ich viel | |
aushalten kann“, erzählt Omar, während ein Lächeln über sein Gesicht läu… | |
Aber es dauert nicht lange, da erlischt es schon wieder: „In meiner Jugend | |
gab es eine Phase, da habe ich meine männlichen Privilegien ausgenutzt, um | |
meine zwei Schwestern zu unterdrücken.“ Dieses Verhalten bereue Omar | |
mittlerweile zutiefst und habe sich bei den Schwestern dafür entschuldigt. | |
Als in Syrien [3][im März 2011 die Revolution] ausbricht, packt Omar die | |
Euphorie: Nun wird die erträumte Veränderung endlich Wirklichkeit, denkt | |
er:sie damals. Nur wenige Monate hält es ihn:sie noch in Damaskus, wo | |
er:sie im dritten Jahr Ökonomie studiert. Dann kehrt Omar der Universität | |
und den Freunden, die lieber weiterleben wollen wie bisher, den Rücken und | |
begibt sich zurück in seine:ihre Geburtsstadt Homs, um sich den | |
Demonstrationen anzuschließen. | |
Omar ist fest davon überzeugt, dass der Sinn seines:ihres Lebens in | |
dieser Revolution besteht. Dass Omar in ihr sterben könnte, ist ihm:ihr | |
damals egal. | |
„Ich ließ mich von den anderen mitreißen und vergaß mich selbst“, sagt | |
Omar. Selbst so intensive Erinnerungen wie die an ein sexuelles Erlebnis | |
mit einem Jugendfreund seien damals aus seinem:ihrem Gedächtnis | |
verschwunden. Einzig die zarten Anfänge einer romantischen Beziehung zu | |
einer Kommilitonin sind in dieser Zeit ein Gegengewicht zum omnipräsenten | |
Tod, auch wenn es die Beziehung nie vom Internet in die Realität schafft. | |
Omar entscheidet sich, die Stimmen der syrischen Bevölkerung in die Welt zu | |
tragen, für Omar ist dies seine:ihre Aufgabe in der Revolution. Eine | |
Demonstration mit dem Handy zu filmen gilt dem Assad-Regime damals als | |
Kapitalverbrechen, das mit dem Tode bestraft werden muss. Omars Aufnahmen | |
werden über ein Netzwerk von Aktivisten an die Fernsehsender, die über die | |
Revolution berichten, weitergegeben. | |
Nach einiger Zeit kann Omar dank der Vermittlung eines befreundeten | |
Journalisten an einem Onlineworkshop für Reporter teilnehmen. Wie man Fotos | |
und Videos professionell aufnimmt, wie Liveberichterstattung funktioniert | |
und wie man die Anzahl der Getöteten und Verhafteten dokumentiert – das | |
alles lernt Omar dort. | |
„Mein erstes traumatisches Erlebnis hatte ich mit 11“, sagt Omar. „Damals | |
verschwand meine erste große Liebe Haifa aus meinem Leben. Ich traf Haifa | |
nicht mehr auf dem Weg zur Schule und ich konnte nicht mehr mit ihr | |
spielen.“ | |
Im syrischen Bildungssystem werden Mädchen und Jungen meist ab der fünften | |
Klasse getrennt – allerdings macht sich damals niemand die Mühe, es Omar zu | |
erklären. Zwei Jahre später vollzieht sich die Trennung der Geschlechter | |
auch im Haus der Familie. Omars Großvater, der als Patriarch über die | |
Einhaltung der Gebote und Verbote wacht und dessen Wort Gesetz ist, will es | |
so. Also verschwinden die Frauen und Mädchen, mit denen Omar aufgewachsen | |
ist, nach und nach aus seinem:ihrem Leben. | |
„Meine Cousine Waad war nicht länger ein bunter Schmetterling, sondern ein | |
von einem schwarzen Himar bedeckter Kopf“, erinnert Omar sich. Sie ist nur | |
wenige Jahre älter als Omar und wird später gegen ihren Willen mit einem | |
Mann verheiratet, der sie regelmäßig schlägt. „Ihr Gesicht verschwand auf | |
Nimmerwiedersehen. Weil ihr eine Schande anhaftete, von der sich die | |
Familie befreien wollte.“ | |
Die Schande bestand darin, dass sie einmal einen jungen Mann auf der Straße | |
angelächelt hatte. Daraufhin habe sie ihr Vater verprügelt und zu Hause | |
eingesperrt, woraufhin sie ihre Lebenslust verloren habe, sagt Omar. „Als | |
ich mich später traute, zu lieben, wusste ich, was Lieben bedeutet: das | |
Geheimnis bewahren und niemals lächeln.“ | |
Omar verbringt die Kindheit in einem Haus, das nie wirklich aufhört, um den | |
früh verstorbenen Bruder zu trauern. Dies ändert sich erst, als eine neue | |
Person zu der Familie stößt: Abdallah, der Mann der großen Schwester Aliaa, | |
der für Omar zu einem Ersatzbruder wird. Das Regime nimmt Abdallah im März | |
2012 fest, nachdem er sich an Demonstrationen gegen Assad beteiligt hat. | |
Von einem Mithäftling erfährt die Familie, dass Abdallah zu Tode gefoltert | |
worden sei. „Aliaa bekam ein Dokument ausgehändigt, das besagt, ihr Ehemann | |
sei an einem Herzinfarkt gestorben“, erinnert sich Omar. Dieses Dokument | |
ist alles, was ihr von ihrem Ehemann geblieben ist, seinen Körper bekommt | |
sie nie zu Gesicht. | |
Für Omars Eltern ist die Todesnachricht eine Katastrophe. „Meine Mutter | |
kniete vor mir, hielt meine Knie fest und flehte mich an, das Land zu | |
verlassen“, sagt Omar. Seine:ihre Hände umklammern fest die Knie. „Mein | |
Vater las im Koran und schluchzte, meine Schwester murmelte: ‚Mein Mann ist | |
tot, mein Schatz ist tot‘.“ Aber Omar ist nicht bereit, die Revolution | |
aufzugeben. Noch nicht. | |
Mitte 2012 reist Omar in den Norden Syriens, wo er:sie von einer | |
internationalen Presseagentur als Kriegsfotograf ausgebildet wird und dann | |
für diese Agentur arbeitet. „Ich war überall unterwegs, habe an der Front | |
und in den bombardierten Gebieten fotografiert“, erzählt Omar. „Durch die | |
Linse der Kamera sah ich verbrannte Leichen und die entstellten Körper von | |
Menschen, die das Regime oder oppositionelle Milizen zu Tode gefoltert | |
hatten.“ | |
Später kann Omar dann in der Türkei beobachten, wie dort die syrische | |
Politik bestimmt wird, wie ausländische Staaten mit ihnen genehmen | |
Gruppierungen die Bedingungen ihrer Unterstützung aushandeln. Er:sie wird | |
Zeuge, wie der „Islamische Staat“ entsteht und die Welt dabei zuschaut. | |
Omar habe zu dieser Zeit mit eigenen Augen gesehen, wie Islamisten aus ganz | |
Europa mit ihren Familien über die Türkei in das vom IS kontrollierte | |
Territorium einreisen. „Da habe ich verstanden, dass diese Weltordnung nur | |
einen Gott kennt“, sagt Omar. „Das absolute Böse.“ | |
## Die Neuordnung der Welt | |
Anfang 2015 trifft Omar die schwierigste Entscheidung seines:ihres | |
Lebens: Er:sie reist aus Syrien zuerst in die Türkei und dann weiter nach | |
Deutschland, wo er:sie sofort beginnt, Journalismus zu studieren. Alles, | |
was er:sie in den ersten Wochen in Deutschland erlebt, habe den | |
Beigeschmack von Flucht und Niederlage gehabt, sagt Omar. | |
Die Gesichter der Familie, von denen er:sie nicht weiß, ob er:sie sie | |
jemals wiedersehen wird, lasten schwer auf seiner:ihrer Seele. Diese | |
Last wird ein wenig leichter zu tragen, als er:sie erfährt, dass die | |
Familie es in ein Dorf in der Küstenregion geschafft hat. Das Dorf ist | |
nicht umkämpft, sterben würden sie dort also nicht. Wirklich gut leben | |
allerdings auch nicht. | |
„In dieser Zeit war ich noch ein gläubiger Muslim“, sagt Omar. „Aber die | |
Revolution war für mich ein Kampf für die Freiheit und nicht für den | |
Islam.“ Dennoch gehört es damals zu Omars Demokratieverständnis, dass auch | |
die Islamisten das Recht haben, ein aktiver Teil der Revolution zu sein. | |
Doch die Gräueltaten, die immer wieder im Namen des Islam in den von ihnen | |
kontrollierten Gebieten begangen werden, untergraben das ideologische | |
Fundament von Omars Welt. | |
Der Tod fährt in Syrien reiche Ernte ein, und alle bewaffneten Fraktionen | |
tragen ihren Teil dazu bei. Omar sucht Distanz zu den Mördern und ihren | |
Anführern und beginnt, alles in Frage zu stellen. „Ich habe alles, was ich | |
je gelebt und geglaubt habe, auf den Prüfstand stellen und neu beurteilen | |
müssen“, sagt er:sie. „Gott aus meinem Kopf zu bekommen war schmerzhafter | |
als eine Geburt.“ | |
Ich weiß, dass es für jemanden wie Omar, der:die aus einem konservativen | |
Milieu stammt, viel Mut erfordert, in religiösen Belangen eine abweichende | |
Haltung einzunehmen. Dies gilt umso mehr für den Umgang mit Homosexualität | |
und Queerness, da beides im Nahen Osten immer noch stark geächtet und | |
verfolgt wird. Als Omar beschließt, zu sich und seinen:ihren neuen | |
Überzeugungen zu stehen, reagiert das Umfeld mit großer Fassungslosigkeit | |
und Ablehnung. Omar verliert viele Freunde, ein Teil der Familie bricht den | |
Kontakt zu ihm:ihr ab. Es dauert, bis es Omar gelingt, ein neues soziales | |
Netz aufzubauen. | |
Omar erzählt mir, dass ihn:sie in dieser Zeit Einsamkeit und | |
Selbstmordgedanken gequält haben. Dies habe sich zwar gebessert, doch es | |
gebe auch heute noch Momente, in denen er:sie keine Energie habe oder in | |
düstere Gedanken verfalle, die mit seiner:ihrer Erziehung, dem Krieg und | |
der Selbstfindung in Deutschland zu tun haben. Schließlich gehen | |
traumatische Erinnerungen nicht einfach so weg, und dann ist da auch noch | |
der Alltagsrassismus, der für Omar das Leben hierzulande manchmal zur | |
Belastung macht. | |
„In meiner dunkelsten Stunde suchte ich nach einem Grund zu leben“, sagt | |
Omar. Lange habe er:sie geglaubt, dieser Grund ließe sich doch in der | |
Liebe finden – doch dann habe Omar einsehen müssen, dass jede Person | |
irgendwann wieder aus seinem:ihrem Leben verschwinden könne. | |
„Eine Liebesbeziehung ging in die Brüche, dann noch eine, und dann noch | |
eine. Beinahe wäre ich in Depressionen versunken“, sagt Omar. | |
„Aber nach zwei Jahren, die ich mit Greta zusammen war, als ich nicht mehr | |
den Anspruch hatte, ein Mann zu sein, und als auch sie diesen Anspruch | |
nicht mehr an mich hatte, da konnte ich der Mensch sein, der ich sein | |
will.“ | |
Dass er:sie hierzulande offen non-binär leben kann, empfindet Omar als | |
großes Glück. In Syrien ist es nach wie vor nahezu undenkbar, sich im | |
Familien- und Freundeskreis zu outen und danach akzeptiert zu werden. | |
Dennoch gibt es auch in Syrien kleine Fortschritte, was die Sichtbarkeit | |
von queeren Menschen betrifft. So hat die Revolution von 2011 dazu geführt, | |
dass sie sich vermehrt über die sozialen Netzwerke zu erkennen geben. | |
In meinen Gesprächen mit Geflüchteten fällt mir auf, dass diejenigen, die | |
queer sind, oft besonders politisch sind. Eine Frau aus Berlin namens Yara | |
Saifan bestätigt das: „Bei uns ist sogar die Liebe politisch, solange es | |
Autoritäten gibt, die uns unseren Körper und unsere Sexualität absprechen.“ | |
Deshalb ist es für Yara Saifan auch so wichtig, dass man sich in der | |
internationalen LGBTQI*-Community gegenseitig unterstützt. „Nur so | |
schaffen wir es, der Opferrolle zu entkommen und unser eigenes Narrativ zu | |
entwickeln.“ | |
Für Omar gibt es keine Stadt, die mehr für Veränderung bereit ist als das | |
bunte, freie Berlin. Aber er fühlt sich nicht nur mit diesem Ort verbunden, | |
sondern auch mit der queerfeministischen Community, die weder Grenzen noch | |
Nationalitäten kennt und alle Kategorien überwinden will, die das | |
Menschsein einschränken. | |
Ich sehe in Omar einen politisierten Menschen, einen Träumer, der seine | |
Utopie leben will. Er:sie umgibt sich mit queeren Freund*innen aus | |
Syrien, aus Deutschland und anderen Ländern, und lernt, sich von Menschen | |
fernzuhalten, die sie:ihn nicht akzeptieren. | |
Omar fühlt sich der QTBIPOC-Community zugehörig, weil diese den Menschen an | |
sich repräsentiert, ohne andere Eigenschaften zum Maßstab zu erheben. So | |
bietet sie den marginalisiertesten Gruppen Raum, die in der Gesellschaft | |
unter Mehrfachdiskriminierung zu leiden haben – aufgrund ihrer Hautfarbe, | |
ihrer Genderidentität und ihrer Nationalität. | |
Für Omar ist das Leben eine Suche nach sich selbst, und er:sie möchte es | |
seiner Community widmen – seine Wahlfamilie. Jeden Tag lernt Omar von ihr | |
und mit ihr. Omar hat keine Kraft mehr, sich mit den Vorwürfen von Menschen | |
aus der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Er:sie möchte den Eltern keinen | |
Kummer bereiten und bleibt darum auch weiterhin mit ihnen in Kontakt, auch | |
wenn es noch nicht möglich ist, mit ihnen über seine:ihre Queerness zu | |
sprechen. In diesem Kampf will Omar sich nicht aufreiben. Für den Moment | |
genügt Omar die Liebe seiner Eltern, und die will er:sie auf keinen Fall | |
aufs Spiel setzen. | |
„Ich bin ein sehr radikales Beispiel“, sagt Omar, aber die Tatsache, dass | |
seine:ihre Familie und deren konservatives Umfeld eine Art des Umgangs | |
gefunden haben, obwohl es Omar an der so hochgeschätzten Männlichkeit | |
mangelt, beweisen, wie sehr auch diese Menschen sich verändert hätten. „Ich | |
bin nur eine:r, mein Fall hat kaum Gewicht“, schließt Omar, „aber es gibt | |
viele, die wie ich sind.“ | |
Die Veröffentlichung dieses Textes wurde unterstützt durch ein Stipendium | |
des [4][NewsSpectrum Fellowship] Programm. Zeitgleich erscheint sie auf der | |
Website von [5][Syria Untold] in [6][Arabisch] und [7][Englisch] | |
Einige Details der Geschichte sowie die Namen der Protagonist:innen | |
wurden geändert, um sie zu schützen. | |
Übersetzung aus dem Arabischen: Mirko Vogel | |
14 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Queere-Gefluechtete/!5637069 | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Homs | |
[3] /Arabischer-Fruehling-in-Syrien/!5734007 | |
[4] https://newsspectrum.eu/ | |
[5] https://newsspectrum.eu/ | |
[6] https://syriauntold.com/ar/ | |
[7] https://syriauntold.com/en/ | |
## AUTOREN | |
Souad Abbas | |
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