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# taz.de -- Queere Geflüchtete in Berlin: Ganz bei sich
> Omar ist 2015 aus Syrien geflohen. Heute lebt er in Berlin offen queer.
> Die Geschichte einer Selbstfindung.
Ich winke, als Omar den Park betritt. Omar hat recht gehabt, ich erkenne
ihn:sie sofort. An den leuchtenden Farben, die er:sie trägt. An der Baggy
Jeans, die kurz über den Knöcheln endet. Und den roten Socken, die wirklich
auffällig sind. Doch weil ich aufgehört habe, mich über Kleidung zu
wundern, die sowohl Frauen also auch Männer tragen können, überrascht mich
dieses Outfit nicht wirklich. Dafür aber die ungeheure Energie, die Omar
ausstrahlt. Und auch der Kajal um seine:ihre Augen ist mir neu.
„In meinen ersten Wochen in Berlin war dieses Viertel die Hölle für mich“,
sagt Omar. Wir spazieren Seite an Seite durch die Straßen von
Berlin-Neukölln. „Ich war erschöpft und kraftlos, und meine Schwäche haben
manche als Einladung verstanden.“
Omar hätte genauso gut in ein anderes Viertel ziehen können, das ihm:ihr
als queere Person vielleicht mehr Sicherheit gegeben hätte. Aber er:sie
wollte sich seinen Wurzeln stellen, und hier in Berlin-Neukölln fühlt Omar
sich in die engen Gassen seiner Kindheit zurückversetzt. Doch zugleich ist
er:sie nicht zu übersehen, sein:ihr Aussehen provoziert manche Männer,
insbesondere Syrer. Vermutlich meinen sie, das gemeinsame Vaterland gebe
ihnen das Recht, über ihn:sie zu bestimmen.
„Doch seit ich meine Stärke wiedergefunden habe, gehen sie mir aus dem
Weg“, sagt Omar. Seine:ihre Größe und die breiten Schultern tragen
wahrscheinlich auch dazu bei. Trotzdem möchte Omar keinen richtigen Namen
nicht nennen. Er:sie will nicht erkannt werden, um der eigenen Familie die
Schande zu ersparen.
Omar und ich, wir haben uns im Exil kennengelernt. Wir stellten fest, dass
wir aus der gleichen Stadt in Syrien kommen. Doch obwohl unsere ehemaligen
Wohnviertel nur eine halbe Stunde Fahrt auseinander liegen, scheinen unsere
„Herkunftsgeschichten“ zwei völlig verschiedenen Welten zu entstammen. Ich,
die syrische Journalistin, und Omar, [1][der:die queere Fotograf:in,
der:die erst in Deutschland über die eigene sexuelle Identität bestimmen
konnte.] Der Weg dorthin war für Omar mehr als ein Coming-out, es war ein
gewaltsamer Befreiungsschlag, aus dem am Ende etwas Neues entstand.
Dabei stehen Omars Erlebnisse stellvertretend für all jene, die nicht nur
Krieg und politische Verfolgung erlebt haben, sondern auch wegen ihrer
Zugehörigkeit zur LGBTQI*-Community diskriminiert worden sind – und ihr
Heimatland verlassen haben. Aber was bedeutet es für einen queeren
Menschen, wenn er:sie sich von den Werten und Normen des jeweiligen
Geburtsorts abwendet und in die vermeintlich liberale Welt einer
europäischen Metropole eintaucht? Was verliert und was gewinnt ein queerer
Mensch dabei?
Während der Kindheit und Jugend in Syrien hat Omar keine Vorstellung vom
Konzept Gender, ihm:ihr wäre nie in den Sinn gekommen, dass es neben
„männlich“ und „weiblich“ noch mehr Geschlechter gibt. Er:sie geht nic…
davon aus, eine Genderidentität oder sexuelle Orientierung zu haben, die in
eine besondere Kategorie fällt. Aber er:sie weiß gleichzeitig ganz genau,
dass seine:ihre Versuche, den gesellschaftlichen
Männlichkeitsvorstellungen zu genügen, nur schlechtes Theater sind.
„Meine Erleuchtung hatte ich mit Greta“, sagt Omar, als wir nach dem
gemeinsamen Spaziergang in seiner: ihrer Küche sitzen. Bis dahin habe er
seinen:ihren Penis immer gehasst und sei jedes Mal gestresst gewesen,
wenn er:sie mit jemandem ins Bett gehen wollte. „Ich fühlte mich wie ein
Versager, bis ich diesen unvergesslichen Sex erlebte – Sex ohne
Penetration.“
Das sei auch das erste Mal gewesen, dass Omar sich wie ein Mensch gefühlt
habe und nicht wie ein Mann, und Greta sei es ähnlich ergangen, als sie:er
merkte, gar keine Frau sein zu müssen. „Wir begannen zu reden und ich
erfuhr mehr über das breite Spektrum der Sexualität. Ich lernte zum
Beispiel, dass ich demisexuell bin und mein Wunsch nach emotionaler Bindung
dem Wunsch nach Sex vorausgeht“, sagt Omar.
Omar lernt in Berlin die queer-feministische Community kennen und findet
einen Weg, den Widerspruch zwischen seinem:ihrem Körper, in dem Omar
sich gefangen fühlt, und seiner:ihrer Selbstwahrnehmung, die zwischen
Männlichkeit und Weiblichkeit schwankt, zu überwinden. Das Konzept der
Nichtbinarität hilft Omar auch besser zu verstehen, zu welchen Menschen
er:sie sich hingezogen fühlt: zu jenen, die eine starke feminine
Ausstrahlung haben, wie auch immer ihr Körper aussehen mag.
Omars Geschichte beginnt bereits im Jahr 1981, neun Jahre vor
seiner:ihrer Geburt, in der syrischen Stadt [2][Homs]. Die Mutter hat
gerade ihr erstes Kind begraben, es ist noch vor seinem ersten Geburtstag
im Schlaf gestorben. Trauer um den kleinen Jungen erfüllt das große Haus,
in dem die Eltern von Omar im ersten Stock und die Eltern des Vaters im
Erdgeschoss leben. Der Vater hat keine Brüder. Die Verantwortung für das
Fortbestehen des Familiennamens lastet deshalb allein auf Omars Schultern.
Auch die trauernde Mutter ist auf männlichen Nachwuchs angewiesen, der ihre
Töchter beschützen und sich um sie und ihren Mann im Alter kümmern wird.
Ihr zweites Kind ist ein Mädchen und das dritte auch. Erst im Jahr 1990
bekommt sie wieder einen Jungen, endlich. Die Eltern nennen ihn Omar. Sie
haben Angst, dass auch dieses Kind im Schlaf sterben könnte, und wechseln
sich darum bis zu seinem sechsten Lebensjahr ab, nachts neben ihm zu
wachen.
Das Leben in Homs ist damals im Großen und Ganzen ruhig, hier gibt es
keinen Raum für große Fragen. In den engen Stadtvierteln, in denen jeder
jeden kennt, sind die Straßen sicher, aber Privatsphäre gibt es kaum. Die
Lebenswege gleichen sich. In diesem von religiöser Strenge geprägten
Kontext genießen Männer eine viel höhere Stellung als Frauen, stehen dafür
aber ständig unter dem Druck, stereotypen Männlichkeitsvorstellungen zu
genügen: Sie müssen ihre Familien ernähren und ihre Frauen beschützen. Sie
müssen stets Stärke zeigen, aber vor den noch Stärkeren den Kopf senken.
Sie können religiös sein, aber nicht zu religiös, sonst werden sie als
Anhänger der als Terrororganisation geltenden Muslimbruderschaft
verdächtigt.
Als Kind ist Omar gutaussehend. Und auch friedlich, was ihn:sie zu einem
leichten Ziel für Hänseleien und Mobbing macht, obwohl Omar darauf achtet,
nicht aufzufallen. Omar fürchtet sich vor den aufgeblasenen Jungen an der
Ecke und bemitleidet die eigenen Eltern, die daran zerbrechen, dass ihr
lange erwartetes Kind nicht zu dem Mann heranwächst, den sie sich gewünscht
haben.
„Ich erinnere mich noch an das erste Mal, als ich versuchte, mich in ein
Mädchen zu verwandeln. Da war ich etwa 10 Jahre alt“, sagt Omar. „Ich
betrachtete meinen Körper im Spiegel. Dann nahm ich meinen Penis, zog ihn
nach hinten und klemmte ihn zwischen meinen Oberschenkeln ein. Plötzlich
sah es so aus, als hätte ich eine Vulva.“
Immer wenn Omar allein zu Hause war, habe er:sie die Kleider der Schwester
angezogen. Dann habe sich alles in ihm:ihr entspannt.
Nichts, aber auch wirklich gar nichts habe sich richtig angefühlt während
der Jugend. Das war ein Aufwachsen in einer Atmosphäre, die gleichzeitig
von Liebe, Ignoranz und Angst geprägt war, erzählt Omar.
Rückblickend könne er:sie von sich selbst sagen, dass es nicht zu
seinem:ihrem Charakter gepasst habe, sich selbst zu verleugnen.
„Auch wenn mein Leben anders verlaufen wäre, wenn ich mich zum Beispiel
nicht der Revolution angeschlossen hätte, wenn ich nicht nach Deutschland
gekommen wäre, wenn ich die Welt nicht mit den Augen der Menschen, die hier
in mein Leben traten, zu sehen gelernt hätte, wenn all das nicht passiert
wäre, dann wäre ich auf einem anderen Wege zu dem Punkt gelangt, an dem ich
jetzt stehe.“
Der entschiedene Ton in Omars Stimme kommt daher, dass er:sie schon viel
erlebt hat: Krieg, IS-Terror und die ständige Drohung von Verhaftung und
Folter durch das syrische Regime. Dann der Weg ins Exil, die
Herausforderungen, ein neues Leben in Deutschland aufzubauen. Heute gehe
er:sie an keinen Ort und zu keiner Veranstaltung, die nicht
queerfreundlich ist, sagt Omar.
Dass die Zeit nichts heilt, beweist der Kajal, der jetzt unter Omars Augen
verläuft. Während wir an seinem:ihrem Tisch sitzen, erinnert Omar sich
an abschätzige Gespräche zwischen Klassenkameraden, anzügliche Witze und
Pornovideos. Die meisten Jungen wetteiferten mit ihren Geschichten über
eingebildete oder reale sexuelle Erfahrungen, während andere, darunter auch
Omar, versuchten, die Selbstbefriedigung aus ihrem Leben zu verbannen. Denn
Selbstbefriedigung gilt für viele Muslime als Sünde.
Das einzige Gespräch über Sex, das Omar in dieser Zeit mit einem
Erwachsenen führt, ist mit dem Großvater, der ihm:ihr eine gewaltige
Standpauke hält, nachdem er herausbekommen hat, dass Omar sich selbst
befriedigt. „Ich wusste nicht mehr, wohin mit mir vor Scham und
Schuldgefühlen“, sagt Omar. Ihm:ihr seien damals die Tränen in die Augen
gestiegen, was den Großvater nur noch wütender gemacht habe, denn Männer
weinen nicht. „Ich war 13, und er hat mich behandelt, als wäre ich ein
Verbrecher.“
Um Omar während unseres Gesprächs zu trösten, biete ich ihm:ihr von den
Süßigkeiten an, die ich in einem syrischen Geschäft auf der Sonnenallee
gekauft habe. „Schmeckt himmlisch“, sagt Omar, kaum dass er:sie den ersten
Bissen genommen hat. Dann bereitet Omar arabischen Kaffee zu, während ich
auf dem Balkon eine Zigarette rauche. Unten laufen junge Leute vorbei,
Grasgeruch weht zu mir hoch.
Mir gefällt das helle Studio, in dem Omar wohnt: ein Schlafsofa, das so
wirkt, als sei es schon seit Jahrzehnten in Benutzung, ein kleiner Tisch
zum Arbeiten, bunte Vorhänge und ein großer, offener Kleiderschrank, den
er:sie selbst gebaut hat.
Mit 13 habe er:sie angefangen, in den Sommerferien in einer Schreinerei zu
arbeiten, sagt Omar, als ich zurück in die Küche komme und ihn:sie auf den
schönen Schrank anspreche. „Das habe ich zwei Sommer lang durchgehalten,
auch um den anderen Jungen in der Nachbarschaft zu beweisen, dass ich viel
aushalten kann“, erzählt Omar, während ein Lächeln über sein Gesicht läu…
Aber es dauert nicht lange, da erlischt es schon wieder: „In meiner Jugend
gab es eine Phase, da habe ich meine männlichen Privilegien ausgenutzt, um
meine zwei Schwestern zu unterdrücken.“ Dieses Verhalten bereue Omar
mittlerweile zutiefst und habe sich bei den Schwestern dafür entschuldigt.
Als in Syrien [3][im März 2011 die Revolution] ausbricht, packt Omar die
Euphorie: Nun wird die erträumte Veränderung endlich Wirklichkeit, denkt
er:sie damals. Nur wenige Monate hält es ihn:sie noch in Damaskus, wo
er:sie im dritten Jahr Ökonomie studiert. Dann kehrt Omar der Universität
und den Freunden, die lieber weiterleben wollen wie bisher, den Rücken und
begibt sich zurück in seine:ihre Geburtsstadt Homs, um sich den
Demonstrationen anzuschließen.
Omar ist fest davon überzeugt, dass der Sinn seines:ihres Lebens in
dieser Revolution besteht. Dass Omar in ihr sterben könnte, ist ihm:ihr
damals egal.
„Ich ließ mich von den anderen mitreißen und vergaß mich selbst“, sagt
Omar. Selbst so intensive Erinnerungen wie die an ein sexuelles Erlebnis
mit einem Jugendfreund seien damals aus seinem:ihrem Gedächtnis
verschwunden. Einzig die zarten Anfänge einer romantischen Beziehung zu
einer Kommilitonin sind in dieser Zeit ein Gegengewicht zum omnipräsenten
Tod, auch wenn es die Beziehung nie vom Internet in die Realität schafft.
Omar entscheidet sich, die Stimmen der syrischen Bevölkerung in die Welt zu
tragen, für Omar ist dies seine:ihre Aufgabe in der Revolution. Eine
Demonstration mit dem Handy zu filmen gilt dem Assad-Regime damals als
Kapitalverbrechen, das mit dem Tode bestraft werden muss. Omars Aufnahmen
werden über ein Netzwerk von Aktivisten an die Fernsehsender, die über die
Revolution berichten, weitergegeben.
Nach einiger Zeit kann Omar dank der Vermittlung eines befreundeten
Journalisten an einem Onlineworkshop für Reporter teilnehmen. Wie man Fotos
und Videos professionell aufnimmt, wie Liveberichterstattung funktioniert
und wie man die Anzahl der Getöteten und Verhafteten dokumentiert – das
alles lernt Omar dort.
„Mein erstes traumatisches Erlebnis hatte ich mit 11“, sagt Omar. „Damals
verschwand meine erste große Liebe Haifa aus meinem Leben. Ich traf Haifa
nicht mehr auf dem Weg zur Schule und ich konnte nicht mehr mit ihr
spielen.“
Im syrischen Bildungssystem werden Mädchen und Jungen meist ab der fünften
Klasse getrennt – allerdings macht sich damals niemand die Mühe, es Omar zu
erklären. Zwei Jahre später vollzieht sich die Trennung der Geschlechter
auch im Haus der Familie. Omars Großvater, der als Patriarch über die
Einhaltung der Gebote und Verbote wacht und dessen Wort Gesetz ist, will es
so. Also verschwinden die Frauen und Mädchen, mit denen Omar aufgewachsen
ist, nach und nach aus seinem:ihrem Leben.
„Meine Cousine Waad war nicht länger ein bunter Schmetterling, sondern ein
von einem schwarzen Himar bedeckter Kopf“, erinnert Omar sich. Sie ist nur
wenige Jahre älter als Omar und wird später gegen ihren Willen mit einem
Mann verheiratet, der sie regelmäßig schlägt. „Ihr Gesicht verschwand auf
Nimmerwiedersehen. Weil ihr eine Schande anhaftete, von der sich die
Familie befreien wollte.“
Die Schande bestand darin, dass sie einmal einen jungen Mann auf der Straße
angelächelt hatte. Daraufhin habe sie ihr Vater verprügelt und zu Hause
eingesperrt, woraufhin sie ihre Lebenslust verloren habe, sagt Omar. „Als
ich mich später traute, zu lieben, wusste ich, was Lieben bedeutet: das
Geheimnis bewahren und niemals lächeln.“
Omar verbringt die Kindheit in einem Haus, das nie wirklich aufhört, um den
früh verstorbenen Bruder zu trauern. Dies ändert sich erst, als eine neue
Person zu der Familie stößt: Abdallah, der Mann der großen Schwester Aliaa,
der für Omar zu einem Ersatzbruder wird. Das Regime nimmt Abdallah im März
2012 fest, nachdem er sich an Demonstrationen gegen Assad beteiligt hat.
Von einem Mithäftling erfährt die Familie, dass Abdallah zu Tode gefoltert
worden sei. „Aliaa bekam ein Dokument ausgehändigt, das besagt, ihr Ehemann
sei an einem Herzinfarkt gestorben“, erinnert sich Omar. Dieses Dokument
ist alles, was ihr von ihrem Ehemann geblieben ist, seinen Körper bekommt
sie nie zu Gesicht.
Für Omars Eltern ist die Todesnachricht eine Katastrophe. „Meine Mutter
kniete vor mir, hielt meine Knie fest und flehte mich an, das Land zu
verlassen“, sagt Omar. Seine:ihre Hände umklammern fest die Knie. „Mein
Vater las im Koran und schluchzte, meine Schwester murmelte: ‚Mein Mann ist
tot, mein Schatz ist tot‘.“ Aber Omar ist nicht bereit, die Revolution
aufzugeben. Noch nicht.
Mitte 2012 reist Omar in den Norden Syriens, wo er:sie von einer
internationalen Presseagentur als Kriegsfotograf ausgebildet wird und dann
für diese Agentur arbeitet. „Ich war überall unterwegs, habe an der Front
und in den bombardierten Gebieten fotografiert“, erzählt Omar. „Durch die
Linse der Kamera sah ich verbrannte Leichen und die entstellten Körper von
Menschen, die das Regime oder oppositionelle Milizen zu Tode gefoltert
hatten.“
Später kann Omar dann in der Türkei beobachten, wie dort die syrische
Politik bestimmt wird, wie ausländische Staaten mit ihnen genehmen
Gruppierungen die Bedingungen ihrer Unterstützung aushandeln. Er:sie wird
Zeuge, wie der „Islamische Staat“ entsteht und die Welt dabei zuschaut.
Omar habe zu dieser Zeit mit eigenen Augen gesehen, wie Islamisten aus ganz
Europa mit ihren Familien über die Türkei in das vom IS kontrollierte
Territorium einreisen. „Da habe ich verstanden, dass diese Weltordnung nur
einen Gott kennt“, sagt Omar. „Das absolute Böse.“
## Die Neuordnung der Welt
Anfang 2015 trifft Omar die schwierigste Entscheidung seines:ihres
Lebens: Er:sie reist aus Syrien zuerst in die Türkei und dann weiter nach
Deutschland, wo er:sie sofort beginnt, Journalismus zu studieren. Alles,
was er:sie in den ersten Wochen in Deutschland erlebt, habe den
Beigeschmack von Flucht und Niederlage gehabt, sagt Omar.
Die Gesichter der Familie, von denen er:sie nicht weiß, ob er:sie sie
jemals wiedersehen wird, lasten schwer auf seiner:ihrer Seele. Diese
Last wird ein wenig leichter zu tragen, als er:sie erfährt, dass die
Familie es in ein Dorf in der Küstenregion geschafft hat. Das Dorf ist
nicht umkämpft, sterben würden sie dort also nicht. Wirklich gut leben
allerdings auch nicht.
„In dieser Zeit war ich noch ein gläubiger Muslim“, sagt Omar. „Aber die
Revolution war für mich ein Kampf für die Freiheit und nicht für den
Islam.“ Dennoch gehört es damals zu Omars Demokratieverständnis, dass auch
die Islamisten das Recht haben, ein aktiver Teil der Revolution zu sein.
Doch die Gräueltaten, die immer wieder im Namen des Islam in den von ihnen
kontrollierten Gebieten begangen werden, untergraben das ideologische
Fundament von Omars Welt.
Der Tod fährt in Syrien reiche Ernte ein, und alle bewaffneten Fraktionen
tragen ihren Teil dazu bei. Omar sucht Distanz zu den Mördern und ihren
Anführern und beginnt, alles in Frage zu stellen. „Ich habe alles, was ich
je gelebt und geglaubt habe, auf den Prüfstand stellen und neu beurteilen
müssen“, sagt er:sie. „Gott aus meinem Kopf zu bekommen war schmerzhafter
als eine Geburt.“
Ich weiß, dass es für jemanden wie Omar, der:die aus einem konservativen
Milieu stammt, viel Mut erfordert, in religiösen Belangen eine abweichende
Haltung einzunehmen. Dies gilt umso mehr für den Umgang mit Homosexualität
und Queerness, da beides im Nahen Osten immer noch stark geächtet und
verfolgt wird. Als Omar beschließt, zu sich und seinen:ihren neuen
Überzeugungen zu stehen, reagiert das Umfeld mit großer Fassungslosigkeit
und Ablehnung. Omar verliert viele Freunde, ein Teil der Familie bricht den
Kontakt zu ihm:ihr ab. Es dauert, bis es Omar gelingt, ein neues soziales
Netz aufzubauen.
Omar erzählt mir, dass ihn:sie in dieser Zeit Einsamkeit und
Selbstmordgedanken gequält haben. Dies habe sich zwar gebessert, doch es
gebe auch heute noch Momente, in denen er:sie keine Energie habe oder in
düstere Gedanken verfalle, die mit seiner:ihrer Erziehung, dem Krieg und
der Selbstfindung in Deutschland zu tun haben. Schließlich gehen
traumatische Erinnerungen nicht einfach so weg, und dann ist da auch noch
der Alltagsrassismus, der für Omar das Leben hierzulande manchmal zur
Belastung macht.
„In meiner dunkelsten Stunde suchte ich nach einem Grund zu leben“, sagt
Omar. Lange habe er:sie geglaubt, dieser Grund ließe sich doch in der
Liebe finden – doch dann habe Omar einsehen müssen, dass jede Person
irgendwann wieder aus seinem:ihrem Leben verschwinden könne.
„Eine Liebesbeziehung ging in die Brüche, dann noch eine, und dann noch
eine. Beinahe wäre ich in Depressionen versunken“, sagt Omar.
„Aber nach zwei Jahren, die ich mit Greta zusammen war, als ich nicht mehr
den Anspruch hatte, ein Mann zu sein, und als auch sie diesen Anspruch
nicht mehr an mich hatte, da konnte ich der Mensch sein, der ich sein
will.“
Dass er:sie hierzulande offen non-binär leben kann, empfindet Omar als
großes Glück. In Syrien ist es nach wie vor nahezu undenkbar, sich im
Familien- und Freundeskreis zu outen und danach akzeptiert zu werden.
Dennoch gibt es auch in Syrien kleine Fortschritte, was die Sichtbarkeit
von queeren Menschen betrifft. So hat die Revolution von 2011 dazu geführt,
dass sie sich vermehrt über die sozialen Netzwerke zu erkennen geben.
In meinen Gesprächen mit Geflüchteten fällt mir auf, dass diejenigen, die
queer sind, oft besonders politisch sind. Eine Frau aus Berlin namens Yara
Saifan bestätigt das: „Bei uns ist sogar die Liebe politisch, solange es
Autoritäten gibt, die uns unseren Körper und unsere Sexualität absprechen.“
Deshalb ist es für Yara Saifan auch so wichtig, dass man sich in der
internationalen LGBTQI*-Community gegenseitig unterstützt. „Nur so
schaffen wir es, der Opferrolle zu entkommen und unser eigenes Narrativ zu
entwickeln.“
Für Omar gibt es keine Stadt, die mehr für Veränderung bereit ist als das
bunte, freie Berlin. Aber er fühlt sich nicht nur mit diesem Ort verbunden,
sondern auch mit der queerfeministischen Community, die weder Grenzen noch
Nationalitäten kennt und alle Kategorien überwinden will, die das
Menschsein einschränken.
Ich sehe in Omar einen politisierten Menschen, einen Träumer, der seine
Utopie leben will. Er:sie umgibt sich mit queeren Freund*innen aus
Syrien, aus Deutschland und anderen Ländern, und lernt, sich von Menschen
fernzuhalten, die sie:ihn nicht akzeptieren.
Omar fühlt sich der QTBIPOC-Community zugehörig, weil diese den Menschen an
sich repräsentiert, ohne andere Eigenschaften zum Maßstab zu erheben. So
bietet sie den marginalisiertesten Gruppen Raum, die in der Gesellschaft
unter Mehrfachdiskriminierung zu leiden haben – aufgrund ihrer Hautfarbe,
ihrer Genderidentität und ihrer Nationalität.
Für Omar ist das Leben eine Suche nach sich selbst, und er:sie möchte es
seiner Community widmen – seine Wahlfamilie. Jeden Tag lernt Omar von ihr
und mit ihr. Omar hat keine Kraft mehr, sich mit den Vorwürfen von Menschen
aus der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Er:sie möchte den Eltern keinen
Kummer bereiten und bleibt darum auch weiterhin mit ihnen in Kontakt, auch
wenn es noch nicht möglich ist, mit ihnen über seine:ihre Queerness zu
sprechen. In diesem Kampf will Omar sich nicht aufreiben. Für den Moment
genügt Omar die Liebe seiner Eltern, und die will er:sie auf keinen Fall
aufs Spiel setzen.
„Ich bin ein sehr radikales Beispiel“, sagt Omar, aber die Tatsache, dass
seine:ihre Familie und deren konservatives Umfeld eine Art des Umgangs
gefunden haben, obwohl es Omar an der so hochgeschätzten Männlichkeit
mangelt, beweisen, wie sehr auch diese Menschen sich verändert hätten. „Ich
bin nur eine:r, mein Fall hat kaum Gewicht“, schließt Omar, „aber es gibt
viele, die wie ich sind.“
Die Veröffentlichung dieses Textes wurde unterstützt durch ein Stipendium
des [4][NewsSpectrum Fellowship] Programm. Zeitgleich erscheint sie auf der
Website von [5][Syria Untold] in [6][Arabisch] und [7][Englisch]
Einige Details der Geschichte sowie die Namen der Protagonist:innen
wurden geändert, um sie zu schützen.
Übersetzung aus dem Arabischen: Mirko Vogel
14 Mar 2022
## LINKS
[1] /Queere-Gefluechtete/!5637069
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Homs
[3] /Arabischer-Fruehling-in-Syrien/!5734007
[4] https://newsspectrum.eu/
[5] https://newsspectrum.eu/
[6] https://syriauntold.com/ar/
[7] https://syriauntold.com/en/
## AUTOREN
Souad Abbas
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