| # taz.de -- LGBTQI+ in Jordanien: Im Kreuzfeuer des Islamismus | |
| > In Jordanien ist die queerfeministische Szene seit Wochen Angriffen im | |
| > Netz ausgesetzt. Die Behörden heizen die Stimmung öffentlich mit an. | |
| Bild: Bei Angriffen auf LGBTQI+ vorn mit dabei: Dima Tahboub | |
| Beirut/Amman taz | „Ich bin aufgewacht und meine Freund*innen schrieben | |
| mir: Dein Name ist in den Medien!“ Für den queerfeministischen Aktivist | |
| Musa Al-Shadeedi begann ein Tag voller Onlineattacken. „Es handelte sich | |
| um eine Webseite der Muslimbruderschaft namens al-Husna. Sie haben einen | |
| Artikel veröffentlicht, in dem behauptet wird, dass ich zur Homosexualität | |
| aufrufe.“ | |
| Der 32-jährige Jordanier ist Schriftsteller und hat vier Bücher über | |
| Sexualität verfasst. Im Juni nun wurde er Teil einer Schmierkampagne von | |
| Islamist*innen. „Sie zeigten mein vollständiges Bild und nannten meinen | |
| vollen Namen. Im Kommentarbereich forderten die Leute die Regierung auf, | |
| mich zu deportieren, zu bestrafen, zu verhaften oder zu töten.“ Seit Wochen | |
| schon sind neben Al-Shadeedi auch andere Queers und Feminist*innen in | |
| Jordanien Angriffen ausgesetzt. | |
| Ihren Anfang nahm die Kampagne Mitte Juni, als eine Ex-Abgeordnete der | |
| Muslimbruderschaft, Dima Tahboub, die Plattform [1][Feminist Movement in | |
| Jordan] angriff. Der jordanische Zweig der Muslimbruderschaft hat fünf | |
| Sitze im Parlament. Die radikalislamische Partei macht sich mit Spenden und | |
| Hilfsaktionen besonders bei armen Menschen beliebt. Tahboub manipulierte | |
| eine Karikatur, die sich gegen das erzwungene Kopftuch in Iran richtete, | |
| und postete diese auf Twitter. Sie behauptete, die Plattform wolle Menschen | |
| zwingen, den Hidschab abzulegen. | |
| Als Abgeordnete hatte sich Tahboub 2017 auch [2][dafür eingesetzt], dass | |
| Mashrou’ Leila nicht mehr in Jordanien auftreten darf. Die libanesische | |
| Band ist berühmt, weil sie für sexuelle Selbstbestimmung einsteht. Im | |
| selben Jahr reichte Tahboub eine Beschwerde gegen das [3][LGBTQI+-Magazin | |
| My Kali ] ein. | |
| Al-Shadeedi ist Redakteur von My Kali. „Die Antifeminist*innen“, sagt er, | |
| „verwenden das Argument: Der Feminismus versuche, unsere Religion, unsere | |
| Kultur zu zerstören, und wir müssten Jordanien davor schützen.“ Wie falsch | |
| sie liegen, will Al-Shadeedi mit seinem neuen Projekt zeigen. Er schreibt | |
| aktuell ein Buch über einen muslimischen Richter, der die Homosexualität in | |
| der ersten Hälfte der Abbasidenzeit (750–1258 n.Chr.) legalisierte. | |
| Queerer Film verboten | |
| Von solchen historischen Fakten möchten die Hardliner*innen in | |
| Jordanien aber nichts wissen. Erschreckend ist, dass die jordanischen | |
| Behörden in die Stimmungsmache einstimmen. Tahboub wandte sich an den | |
| Gouverneur von Amman, Yasser Adwan, der daraufhin vor zwei Wochen die | |
| Vorführung eines [4][queeren ägyptischen Films] verbot. Auch der | |
| Veranstaltungsort [5][Jadal-Café] musste aufgrund von Sicherheitsbedenken | |
| schließen. Nach Angaben des Besitzers überprüfen die Behörden nun | |
| vergangene Veranstaltungen und jedes neue Event braucht eine Genehmigung. | |
| Wenn gegen Queers oder Feminist*innen Stimmung gemacht wird, hat das | |
| oft eine politische Dimension. Während Tahboub mit ihren Aktionen offenbar | |
| um Stimmen für die anstehende Parlamentswahl im kommenden Jahr wirbt, | |
| scheint der Gouverneur von Amman sein Image reinwaschen zu wollen: Er hat | |
| sich im vergangenen Jahr bei den Islamist*innen unbeliebt gemacht, als | |
| er 17 Mitglieder der Muslimbruderschaft verhaften ließ, weil diese | |
| Jordaniens Beziehungen zu Israel ablehnten. | |
| Die kommunistische Aktivist*innen-Gruppe Propaganda aus dem Libanon | |
| analysierte die Entwicklungen in Jordanien folgendermaßen: „Die bourgeoisen | |
| reaktionären Parteien nutzen die üblichen Taktiken, um von ihrem Versagen | |
| abzulenken. Jordanien steht vor dem Ausbruch einer Wirtschaftskrise, denn | |
| die Wirtschaft ist von internationalen Hilfsgeldern abhängig, 22 Prozent | |
| der Arbeitskräfte und 50 Prozent der Jugend sind arbeitslos.“ | |
| Diese Zahlen wie auch den Klientelismus in Jordanien bestätigte der | |
| ehemalige Vize-Regierungschef des Landes, Marwan Muasher: „Die Kombination | |
| politischer und wirtschaftlicher Probleme, mit denen das Land konfrontiert | |
| ist, ist beispiellos“, [6][schrieb er im August im Economist]. 2021 habe | |
| König Abdullah II. Pläne für Reformen verkündet, „aber es stellt sich die | |
| Frage, ob sie überhaupt Aussicht auf Erfolg haben“. | |
| Derweil gehen die Attacken auf Aktivist*innen weiter. Al-Shadeedi bekam | |
| Hilfe durch Freund*innen, eine selbst finanzierte Therapeutin und | |
| verschiedene Botschaften in Amman. Er hofft, dass die Angriffe | |
| Aufmerksamkeit auf sich ziehen und aufhören. | |
| 12 Jul 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://feministmovementjo.com/?cat=28 | |
| [2] https://en.royanews.tv/news/10991/2017-07-31 | |
| [3] https://www.mykalimag.com/en/home-page/ | |
| [4] https://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&a… | |
| [5] https://www.instagram.com/jadal_culture/?hl=de | |
| [6] https://www.economist.com/by-invitation/2022/08/24/marwan-muasher-argues-th… | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Neumann | |
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