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# taz.de -- Klima-Bilanz der Merkel-Ära: Die Schönwetter-Kanzlerin
> Seit 14 Jahren regiert eine Klimaschützerin das Land. Trotzdem werden
> alle Ziele zur CO2-Reduktion verfehlt. Was ist da schiefgelaufen?
Bild: Angela Merkel vor einem dänischen Gletscher 2007: schönes Bild für ein…
Berlin taz | Als das Wort „Klimakanzlerin“ fällt, verzieht Angela Merkel
amüsiert und leicht genervt die Schnute. Zehn Tage vor der Bundestagswahl
2017 beantwortet sie [1][live im ZDF-Studio Fragen] der Zuschauer. Als nach
40 Minuten die üblichen Themen durch sind – mehr Polizei, Grundrente,
Migration –, fragt eine junge Frau mit blauer Bluse und Hornbrille nach den
Klimazielen. Merkel meint, dass Deutschland da „Vorreiter in der EU“ sei.
Und als die junge Frau nachbohrt, sagt die Kanzlerin: „Wir werden Wege
finden, wie wir bis 2020 unser 40-Prozent-Ziel einhalten. Das verspreche
ich Ihnen.“
Ob Merkel das an diesem 14. September 2017 wirklich glaubt, ist unklar.
Aber die Situation zeigt, wie Merkel mit der „Menschheitsherausforderung,
die unsere Verantwortung ist“ (Merkel über die Erderhitzung) umgeht: Sie
kennt alle Details, aber andere Themen sind wichtiger. Im Wahlkampf kommt
Klima nicht vor. Und: Angela Merkel kann mit dem Titel „Klimakanzlerin“
nichts anfangen. Zu Recht.
Denn Merkel macht Versprechungen, die sie nicht halten kann. Ein halbes
Jahr nach diesem Abend kassiert Merkels viertes Kabinett offiziell das
40-Prozent-Ziel für 2020, das Merkel 2007 ausgerufen hat. Und nicht nur
das: Kaum eines der deutschen Umwelt- und Nachhaltigkeitsziele wird
erreicht. Und bei den CO2-Vorgaben für Gebäude und Autos werden die
EU-Ziele so weit verfehlt, dass die Regierung wahrscheinlich bald
Milliarden für CO2-Lizenzen zahlen muss.
Wie konnte das passieren? Angela Merkel ist als Klimakanzlerin die
Idealbesetzung. Als Physikerin versteht sie das Thema und seine
Dringlichkeit so gut wie kaum ein Politiker. Schon als Umweltministerin hat
sie den Klimaschutz geprägt – und der Klimaschutz sie. Sie führt eines der
reichsten und innovativsten Länder der Erde, in dem Umweltschutz populär
ist. Und sie ist seit 14 Jahren Kanzlerin. Lange genug, um echte
Veränderungen durchzudrücken.
## Es waren einmal die Versprechen der Vergangenheit
Aber auch lange genug, dass ihre alten Versprechen sie inzwischen einholen.
Denn zum Ende ihrer Amtszeit zeigt sich: Merkel ist mit Elan gestartet,
aber dann nicht am Ball geblieben. Gutes Klima war oft nur ein Thema für
schönes Wetter. Als Angela Merkel die Macht hatte, ernsthaften Klimaschutz
durchzusetzen, fehlte ihr dazu der Mut. Jetzt, wo sie diesen Mut
wiedergefunden hat, könnte ihr die Macht fehlen.
Viele Gespräche mit Beamten, Freunden und Gegnern der Kanzlerin, mit
Regierungsmitarbeitern, Beobachtern und Lobbyisten zeigen, wie eine
ehrgeizige Klimapolitikerin trotz günstiger Umstände scheitert. Praktisch
alle Gesprächspartner loben Merkels scharfen Verstand, ihr Detailwissen,
das Fehlen von Eitelkeit und ihr Interesse an Lösungen. Wer allerdings die
klimapolitische Fieberkurve der Merkel-Jahre nachzeichnet, bemerkt, wie
umkämpft das Thema ist, wie stark andere Probleme bisweilen in den
Vordergrund drängen. Aber auch, wie begrenzt selbst die Macht einer
Kanzlerin ist – und wie schlecht Merkels Regierungsstil auf eine Krise wie
die Erderhitzung zugeschnitten ist.
Der CO2-Fußabdruck der Kanzlerin ist desaströs: Im vergangenen Jahr saß
Merkel in elf Monaten 81 Mal im Flugzeug. Sie flog 325.257 Kilometer. Das
ergibt schätzungsweise eine Klimabelastung von etwa 300 Tonnen CO2 – 30 Mal
so viel wie der deutsche Durchschnitt. Aber hier geht es um ihre politische
Klimabilanz.
## Zufriedenheit sieht anders aus
14 Jahre Merkel: „Viel mehr war nicht drin“, nimmt sie einer ihrer größten
Unterstützer und langjähriger Berater, der Klimaexperte Hans Joachim
Schellnhuber vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK), in
Schutz. Greenpeace dagegen findet ihre Bilanz „mangelhaft“. Merkel selbst
meint: „Schluss mit Pillepalle.“ Die Kanzlerin, sagt ihr Umfeld, ist nicht
zufrieden.
Ihre Amtszeit begann – mit einem verpassten Klimaziel. 2005 erreicht
Deutschland nicht die CO2-Reduktion von 25 Prozent, die Bundeskanzler
Helmut Kohl und seine Umweltministerin Merkel 1995 versprochen hatten. Aber
2007 wird das Klimajahr. In ihrer ersten GroKo ist die SPD fast auf
Augenhöhe, deren Umweltminister Sigmar Gabriel will sich mit ökologischer
Industriepolitik als Mann der Zukunft präsentieren. Der Mainstream ist öko:
2007 legt der Weltklimarat einen erschütternden Bericht vor und bekommt den
Friedensnobelpreis, im Kino läuft Al Gores Film „Unbequeme Wahrheit“.
Deutschland marschiert vorneweg: Das Kabinett verabschiedet das
„Integrierte Energie- und Klimaprogramm“ (IEKP) mit 29 Maßnahmen, die mit
viel Geld Ökostrom fördern, die Kfz-Steuer auf CO2-Ausstoß umstellen,
Energiesparen verordnen, Gebäude sanieren und Forschung anstoßen. Merkel
drückt bei dem G8-Gipfel in Heiligendamm das „2-Grad-Ziel“ beim Klima
durch. In Brüssel drängt sie als EU-Ratspräsidentin die Europäer zu einem
ambitionierten Klimaziel bis 2020. Kanzlerin und Umweltminister ziehen rote
Outdoor-Jacken an und besuchen vor den Augen von TV-Kameras die tauenden
Gletscher von Grönland. Merkel ist jetzt Klimakanzlerin.
Statt dem Kampf gegen die Heißzeit folgt dann allerdings die kalte Dusche.
Am 15. September 2008 kollabiert die US-Bank Lehman Brothers und kurz
danach die Weltwirtschaft. Von da ab ist praktisch permanent Alarmstimmung:
Wirtschaftskrise, Eurokrise, 2009 scheitert der Klimagipfel von Kopenhagen.
Die Krisen gehen weiter: Griechenland, Ukraine, ab 2015 Flüchtlingskrise.
Merkel steuert ihr Land durch diese Turbulenzen: Vorsichtig, sie sucht den
kleinsten gemeinsamen Nenner, nimmt meistens alle mit – und riskiert wenig.
## Die Klimakrise kennt keine Pause
Die Klimakrise dagegen eskaliert still und leise im Hintergrund. Um ihr zu
begegnen, reicht es aber nicht, zu reagieren, zu warten, nichts zu wagen.
Merkel müsste überzeugen, drängen, vorangehen, mitreißen, sagen viele. „D…
Regierungsapparat war auf diese Krise nicht eingestellt“, sagt einer ihrer
Berater. Und Merkel fordert das nicht ein. Klimaschutz gilt als
Steckenpferd des Umweltministers. „Alle anderen Ressorts sagten: Macht mal
schön!“, erinnert sich dort ein Beamter. Ein „Klimakabinett“, in dem auch
die Minister für Wirtschaft, Verkehr und Bauen Verantwortung tragen,
richtet Merkel erst im 14. Jahr ihrer Amtszeit ein.
2011 nutzt Merkel eine akute Krise für einen grünen Schwenk: Nach der
Atomkatastrophe von Fukushima und der Wahlkatastrophe von Stuttgart, wo die
CDU das Schaffer-Ländle ausgerechnet an die Grünen verliert, ruft sie die
„Energiewende“ aus. Doch in ihrer schwarz-gelben Koalition ist die Rückkehr
zum alten Atomausstieg von Rot-Grün höchst unpopulär. Die Koalition
streitet um die steigenden Kosten für die Öko-Energien, verschleppt die
dringende Reform des Emissionshandels und ignoriert die Emissionen aus
Verkehr und Gebäuden. Noch 2011 jubelt CDU-Umweltminister Norbert Röttgen,
das 40-Prozent-Ziel sei „in greifbare Nähe gerückt“ und „ohne große
Schwierigkeiten“ zu schaffen. Doch schon damals sinken die deutschen
Emissionen nicht mehr, und sie werden es bis 2018 kaum tun.
„2013 war eine gute Chance, beim Klimaschutz voranzukommen“, sagt einer,
der an vielen Entscheidungen eng beteiligt war. Aber daraus wird nichts.
Die SPD stellt in der zweiten Groko die Kohle unter Artenschutz und schickt
ihren Parteichef Sigmar Gabriel ins Wirtschaftsministerium. Der scheitert
an den Gewerkschaften beim Versuch, die Kohle mit einer „Klimaabgabe“ aus
dem Markt zu drängen. Fortan macht er nur noch seiner Parteifreundin
Barbara Hendricks im Umweltministerium das Leben schwer.
## UN-Klimagipfel ohne Merkel
In dieser Zeit rutscht das Klima weit nach unten auf Merkels
Prioritätenliste. Im September 2014 machen sich weltweit Politik,
Wirtschaft und auch Filmstars für ein neues Klimaabkommen stark. Merkel
aber ignoriert eine Einladung zu einem UN-Klimagipfel in New York mit 120
Regierungschefs. Sie bleibt in Berlin und besucht derweil demonstrativ die
Jahrestagung des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Und spottet im
Umweltausschuss des Bundestags: Sie habe es nicht nötig, „mit Leonardo
DiCaprio Häppchen zu essen“, erinnert sich eine Abgeordnete.
In diesen Jahren ruiniert Deutschland seinen Ruf als Vorreiter im globalen
Klimaschutz. Der Begriff „Energiewende-Paradox“ kommt auf: Mit jährlich 20
Milliarden Euro Subventionen durch die Stromkunden schnellt der Anteil des
Ökostroms im Netz auf über 40 Prozent – aber die CO2-Emissionen bleiben
hoch. Der Klimaschutz hat nichts von der Energiewende. Es wird klar: Statt
minus 40 Prozent erreicht Deutschland bis 2020 höchstens 33 bis 35 Prozent
CO2-Senkung.
Es gibt mindestens zwei Sichtweisen auf diese Entwicklung: „Merkel ist eine
Überzeugungstäterin beim Klimaschutz“, sagt Hans Joachim Schellnhuber, wenn
man ihn in Potsdam besucht. Der Mann mit dem schläfrigen Blick und dem
wachen Verstand ist eine graue Eminenz der internationalen Klimapolitik. Er
hat das „2-Grad-Ziel“ als Maßstab der Politik entworfen, den Begriff
„Heißzeit“ geprägt, weltweit die Forschung vorangetrieben und Regierungen
beraten. Jetzt ist er pensioniert, hat aber immer noch ein bescheidenes
Büro am PIK und viel zu tun. Auf dem Flur steht ein mannshoher Globus, der
seit Jahren kaputt ist und nicht repariert wird. Ein Schild warnt
„Zerbrechlich – vorsichtig behandeln“, Journalisten lieben diese Symbolik.
Schellnhuber hat dem Papst erklärt, was gerade im Himmel passiert, auf
Klimakonferenzen gelitten und 25 Jahre lang Merkel beraten. „Da, wo Sie
Platz genommen haben, saß sie im Juni bei ihrem letzten Besuch“, lässt er
ins Gespräch einfließen.
## Schuld ist das System
Schellnhuber sagt, die Kanzlerin habe sich nur in Ausnahmefällen gegen „das
System der fossilen Extraktionswirtschaft“ durchsetzen können. Das „System…
ist für den Wissenschaftler das Geflecht aus Parteien, Gewerkschaften und
Lobbys. Als Frau, als Ostdeutsche, als Naturwissenschaftlerin ist sie für
ihn ein „glücklicher Ausnahmefall“, die „immer nach Lücken im System
gesucht hat.“
Die Kanzlerin als Gefangene „des Systems“? Manches spricht dafür. Merkel
fehlen immer Koalitionspartner, denen das Thema wichtig ist. Sie hat eine
Partei und Fraktion hinter (oder gegen) sich, die Klimaschutz „nicht mit
der nötigen Konsequenz verfolgt hat“, wie es Andreas Jung vorsichtig
formuliert. Jung ist CDU-Abgeordneter im Bundestag, einer der ganz wenigen
ökologisch Interessierten der Fraktion, jetzt aber zuständig für Frankreich
und Finanzen. Die eigentlichen Öko-Posten bei der Union, etwa im Umwelt-
oder Energieausschuss, besetzen andere, die nicht unangenehm durch grüne
Gedanken auffallen. „Die werden von der Fraktion mit dem Auftrag in den
Umweltausschuss geschickt, dass da nichts passiert“, sagt ein hochrangiger
Beamter.
Ihrer Fraktion mutet Merkel über die Jahre vieles zu: das Ende der
Wehrpflicht, den Atomausstieg, die Euro-Rettung, ihre Flüchtlingspolitik.
Hat sie ähnlich für ihre Klimapolitik gekämpft? Davon ist nichts bekannt.
„In der Fraktion herrschte manchmal eine unglaubliche Stimmung gegen die
Energiewende“, sagt Josef Göppel, der 15 Jahre lang für die CSU im
Bundestag der einsame Öko-Rufer war. Ein ökologisch orientiertes
Gegengewicht zur lautstarken Gruppe der Wirtschaftspolitiker gab es nie.
Auch in der Partei habe Merkel „das Thema völlig schleifen lassen“,
kritisiert Göppel. Als die neue Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer im
Frühjahr 2019 nach CDU-Umweltexperten sucht, findet sie erst mal:
niemanden.
## Neuartige Allianzen werden gebraucht
Am 3. April 2019 trifft sich abends im Kanzleramt eine illustre Runde: Etwa
20 Personen hat die Bundeskanzlerin zu einem „Ehren-Essen“ geladen. Es ist
ihr Dank an Hans Joachim Schellnhuber zum Ruhestand. Es gibt Poulardenbrust
und Weißwein. Die Gäste, darunter der Regisseur Volker Schlöndorff,
SPD-Finanzminister Olaf Scholz und der Ratsvorsitzende der Evangelischen
Kirche, Heinrich Bedford-Strohm, debattieren über Klima und Nachhaltigkeit.
Merkel, so erzählen Teilnehmer, schildert freimütig, wie schwierig
Fortschritte seien. „Wie können wir Ihnen helfen?“, fragt ein Teilnehmer.
„Bilden Sie überraschende Allianzen“, sagt die Kanzlerin.
Merkel weiß, dass sie auch selbst in der Klimapolitik so arbeiten muss.
2007 unterstützt sie den Unternehmer Michael Otto („Otto-Versand“), als der
die Unternehmenslobby „Initiative 2 Grad“ für Klimaschutz aufbaut. 2019
spannt sie den konservativen Chef der „Wirtschaftsweisen“ Christoph Schmidt
mit Schellnhubers Nachfolger Ottmar Edenhofer für ein Gutachten zum
CO2-Preis zusammen. Und weltweit macht sich Merkel in überraschenden
Allianzen für Klimaschutz stark. 2015 schmuggelt sie den Begriff
„Dekarbonisierung“ in das Abschlussdokument der G7 beim Gipfel in Elmau,
das sich dann im Pariser Klima-Abkommen wiederfindet. Im gleichen Jahr
bestellt sie bei der OECD ein dickes Gutachten darüber, wie gut Klimaschutz
für die Wirtschaft ist. Und: Deutschland ist immer ein verlässlicher
Partner, wenn es um Finanzen für den weltweiten Klimaschutz geht.
„Wenn der Druck zu groß wird und sie etwas tun muss, legt sie bislang
entweder Geld oder ein Langfristziel auf den Tisch“, sagt Martin Kaiser.
Der knorrige Franke mit dem lauten Lachen ist inzwischen Geschäftsführer
von Greenpeace Deutschland. Lange hat er die Klimapolitik der Regierung eng
begleitet und kritisiert. Er ist mehr der Typ Fleecejacke und Protestplakat
als mit Schlips und Smalltalk beim Häppchen-Empfang. Kaiser war stets auf
Distanz zur Kanzlerin. Für ihn hat sie „immer die deutsche Industrie
geschützt“. Klima „war für sie nur eines von vielen Themen, das man manag…
muss“, widerspricht Kaiser denen, die das eine „Herzenssache“ bei ihr
nennen. „Sie wollte in den letzten zehn Jahren nicht mehr erreichen, sonst
hätte sie das gekonnt.“
## Auch für Merkel gilt: Deutschland zuerst
Für Berater und Mitarbeiter dagegen ist das eine Frage der Organisation:
„Jeder Kanzler ist darauf angewiesen, dass sein Apparat strategisch solche
Ziele verfolgt“, sagt einer. „Das war beim Klima nie der Fall. Die denken
da nur taktisch, nicht strategisch“ Aus dem Bundeskanzleramt sei keine
Strategie gekommen, keine gemeinsamen Vorgaben an die Ministerien, keine
Führung. „Beim Klima hat sie keine Leadership gezeigt“, meint ein anderer
Berater. Dafür sei die Kanzlerschaft aber da: „Führerschaft heißt ja auch,
das Umfeld zu schaffen, in dem man weitergehen kann“, sagt auch CDU-Mann
Klaus Töpfer, einst Kohls Umweltminister und Chef des UN-Umweltprogramms
Unep.
Auch in Europa ist die Bilanz gespalten. „Merkel hat mitgeholfen, den
Klimaschutz durchzusetzen, solange keine deutschen vitalen Interessen
betroffen waren“, erinnert sich Claude Turmes, Umweltstaatssekretär von
Luxemburg und lange Jahre Energieexperte der Grünen im Europaparlament. Er
hat Merkel oft in Brüsseler Verhandlungsrunden erlebt. „Sie konnte auch in
letzter Minute Kompromisse umwerfen, wenn die Energie- oder Autoindustrie
interveniert hat“.
Praktisch alles, was in der deutschen Klimapolitik heute funktioniert,
kommt inzwischen aus Brüssel: Der Emissionshandel, die CO2-Grenzwerte für
Autos. Vor allem aber die Regeln zu den Bereichen Verkehr, Gebäude und
Landwirtschaft. Hier sind die Ziele ab 2021 so streng formuliert, dass
Deutschland entweder tiefe Einschnitte beim CO2 machen oder viel Geld
zahlen muss.
## Endlich eine Welle, die sie reiten kann
Diese Regel wurde ursprünglich 2014 beschlossen, 2018 konkretisiert. In
Berlin hat man sie lange ignoriert. Im Sommer 2018 warnen die ersten
Gutachten: Da kommen bis 2030 Strafzahlungen von vielleicht 60 Milliarden
Euro auf Deutschland zu. Das Finanzministerium und der Haushaltsausschuss
des Bundestages können damals dazu nichts sagen. Auch im Kanzleramt löst
die EU-Regelung erst 2019 „einen Schock“ aus, sagt ein Mitglied der
Regierung. Merkel lässt sich darüber genau informieren. Sie gründet das
„Klimakabinett“. Schön, sagt der Ökonom Ottmar Edenhofer, „aber das hä…
wir schon viel früher gebraucht.“ Es hätte vielleicht die „irrsinnige
Entscheidung verhindert, ab 2011 noch zehn neue Kohlekraftwerke in
Deutschland zu bauen“.
Zwei heiße Sommer, die Stärke der Grünen, verlorene Wahlen in Bayern,
Hessen und Europa, jedes Wochenende zigtausende
Fridays-for-Future-Demonstranten in den Straßen, dazu die Drohungen aus
Brüssel. Im März lobt Merkel in ihrem Podcast: „Ich unterstütze sehr, dass
Schülerinnen und Schüler für den Klimaschutz auf die Straße gehen und dafür
kämpfen“ – dabei demonstriert die Jugend auch gegen sie. Im Juni fordert
sie von ihrer Fraktion „Schluss mit Pillepalle“ beim Klimaschutz. Sie lässt
sich am PIK zwei Stunden lang in kleiner Runde über die neuesten
Horrordaten informieren. Selbst der bayerische CSU-Ministerpräsident Markus
Söder überschlägt sich inzwischen mit Öko-Vorschlägen. Die Frontlinie hei�…
jetzt: Merkel mit den „Fridays“, den wenigen Ökos in der Union und den
SPD-Ministern für Umwelt und Finanzen gegen ihre eigene Fraktion und
Partei. Überraschende Allianzen.
Hinter der Kanzlerin hat sich eine grüne Welle aufgebaut, auf der sie nun
reiten will. „Die Zeit ist für sie einfach reif“, hofft ein hoher Beamter.
„Die Leute erwarten, dass wir etwas tun“, sagt der CDU-Abgeordnete Andreas
Jung, der plötzlich als Fachmann für Umwelt und Finanzen in der CDU wieder
gefragt ist. Wenn es ihre Strategie war, den Druck von außen so stark
werden zu lassen, dass sie nun endlich trotz Widerständen im eigenen Lager
handeln muss, war diese Strategie vielleicht genial. Vielleicht wird Angela
Merkel aber nun einfach von ihrem Tun – und Nichttun – eingeholt.
20 Sep 2019
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## AUTOREN
Bernhard Pötter
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