| # taz.de -- Nachhaltigkeit und Klimapolitik: Geplatzte Seifenblase | |
| > Technologie oder die CO2-Steuer lösen nicht das Klimaproblem. Der | |
| > ökologische Ernstfall verlangt eine Neujustierung der persönlichen | |
| > Freiheiten. | |
| Bild: Welke Welt? | |
| Was sich derzeit abspielt, entspricht jener lebensbedrohlichen Eskalation, | |
| die alle aufgeklärten Kräfte seit Jahrzehnten verhindern wollten: Der | |
| Klimawandel, die Flut an Plastik- und Elektroabfällen, das [1][Insekten-, | |
| Singvogel- und sonstige Artensterben], die Natur- und | |
| Landschaftszerstörung, die chemische Verseuchung und Entwertung von Böden, | |
| die Strahlen- und Lärmbelastung, der Lichtsmog und so weiter. Es lässt sich | |
| kein ökologisch relevantes Handlungsfeld benennen, in dem die Summe der | |
| bekannten und neuen Schäden nicht permanent neue Rekorde erzielt hätte. | |
| Das propagierte und bequemste aller problemlösenden Regulative, nämlich ein | |
| technischer Wandel der Versorgungssysteme, versprach ein auf ständiges | |
| Wachstum angewiesenes Wohlstandsmodell von ökologischer Zerstörung zu | |
| entkoppeln. Dieser Irrweg ist nun selbst dort gescheitert, wo akribisch | |
| versucht wird, wenigstens kleine Entlastungserfolge herauszurechnen, | |
| [2][etwa bei der Energiewende]. Technischer Umweltschutz war nie etwas | |
| anderes und kann nie etwas anderes sein als eine räumliche, stoffliche, | |
| zeitliche oder systemische Problemverlagerung. It’s the thermodynamics, | |
| stupid! | |
| Auch der zweite Hebel, nämlich eine kollektive Verständigung auf | |
| Rahmenbedingungen mit Anreiz-, Lenkungs- oder nötigenfalls Sanktionswirkung | |
| – [3][die aktuell durchs Dorf getriebene Sau heißt CO2-Steuer] – versagt | |
| vollends. Deren Befürworter haben einen epochalen Wendepunkt übersehen: | |
| Wenn nämlich die technische Entkopplung des Wohlstandes systematisch | |
| misslingt, verändern sich nicht einfach nur Ziele und Mittel einer dann | |
| noch adäquaten Nachhaltigkeitskonzeption, sondern mehr noch die | |
| Möglichkeiten einer demokratischen Regulierung des ökologischen Problems. | |
| Genauer: Sie entfallen! | |
| Was die Energiewende politisch attraktiv werden ließ, war das Versprechen, | |
| mittels technischer Innovationen lediglich die Umrandung, aber nicht das | |
| Innere des Wohlstandskorpus umzubauen. [4][Liebgewonnener Konsum- und | |
| Mobilitätskomfort] sollte weiter bestehen und wachsen dürfen, nur eben | |
| ersetzt durch grünere Substitute mit serienmäßig eingebauter | |
| Gewissensberuhigung. Kein Wunder, dass damit Wahlen zu gewinnen waren. | |
| Nun ist diese grüne Seifenblase geplatzt. Das bedeutet, die einzig wirksame | |
| politische Steuerung kann nur noch darin bestehen, den von der | |
| Bevölkerungsmehrheit zunehmend praktizierten ökologischen Vandalismus, sein | |
| Kosename lautet „individuelle Freiheit“, radikal einzuschränken. Dumm nur, | |
| dass dafür demokratische Mehrheiten nötig wären. | |
| ## Unwahrscheinlicher als eine Begegnung mit dem Osterhasen | |
| Im Klartext: Die Mehrheit müsste ihren eigenen Lebensstil abwählen, sich | |
| quasi um 180 Grad wenden, nämlich plötzlich befürworten, was seit dem | |
| Zweiten Weltkrieg jede gesellschaftliche Modernisierung auszumerzen | |
| versucht hat: Genügsamkeit, Selbstbegrenzung, Entsagung. Also Suffizienz. | |
| Ein solches politisches Wunder dürfte unwahrscheinlicher sein als eine | |
| Begegnung mit dem leibhaftigen Osterhasen. | |
| Dieses Dilemma kulminiert in einer Doppelmoral, die längst zum | |
| Normalzustand geronnen ist. Einerseits dröhnt ein unüberhörbarer | |
| Klimaschutz- und Nachhaltigkeitsfuror, andererseits wird mit Zähnen und | |
| Klauen eine digitale, kosmopolitische und konsumorientierte Lebensform | |
| verteidigt, die ökologisch suizidaler nicht sein könnte. | |
| Um diese Widersprüchlichkeit zu verarbeiten, hat sich im Zusammenspiel | |
| zwischen gesellschaftlicher Mehrheit und Politikvertretern ein Zustand | |
| stabilisiert, der dem katholischen Ablasshandel ähnelt. Während sich die | |
| Lebens- und Wirtschaftsform immer nachhaltigkeitsdefizitärer entwickelt, | |
| [5][werden zugleich – wohlgemerkt additiv – grüne Produkte] (vegane, | |
| ökologische Speisen, faire Smartphones, erneuerbarer Strom etc.), | |
| Technologien (Elektromobilität, Power-to-Gas etc.) und simulierte | |
| Nachhaltigkeitsbemühungen (Verbot von Plastikstrohhalmen, Gebot von | |
| PV-Anlagen auf Neubauten etc.) befördert, die bestenfalls an der | |
| Problemoberfläche kratzen. | |
| Oder sie ergießen sich in rituelle Forderungen, die abstrakt und | |
| unverbindlich genug sind, sodass sie einerseits nicht falsch sein können, | |
| aber andererseits ihre technische oder politische Realisierung in so | |
| unerreichbarer Ferne liegt (etwa eine CO2-neutrale Wirtschaft), dass keine | |
| absehbaren Konsequenzen für die eigene Lebensführung zu befürchten sind. | |
| Damit erfolgt eine rein symbolische Kompensation, die das „Weiter so“ | |
| legitimiert, weil damit sowohl kognitive Dissonanzen therapiert werden | |
| können wie auch der Schein moralischer Korrektheit gewahrt bleiben kann. | |
| Dieser rasende Stillstand ebnet den Weg zum Abgrund. Er ließe sich nur | |
| mittels eines dritten Regulativs durchbrechen, das angesichts des | |
| kläglichen Scheiterns aller Technik- und Institutionenklempnerei auf einer | |
| anderen, nämlich zwischenmenschlichen Ebene verortet sein müsste. Gemeint | |
| ist eine Mischung aus reaktivierter, aber demokratischer Streitkultur und | |
| einem Aufstand der konkret Handelnden, die sich dem Steigerungswahn | |
| verweigern. | |
| ## Unterschied zwischen Bedürfnissen und Dekadenz | |
| Dieses soziale Regulativ gründet darauf, dass kein Menschenrecht auf | |
| ökologische Zerstörung bestehen kann – außer es lassen sich dafür | |
| akzeptable Gründe anführen. Aber genau das wäre dialogisch zu klären. Dies | |
| kann und darf nicht willkürlich erfolgen, sondern nach Maßgabe der | |
| Verhältnismäßigkeit. Hierzu bedarf es einer Unterscheidung zwischen | |
| essenziellen Bedürfnissen und spätrömischer Dekadenz. Nichts könnte | |
| sozialpolitisch plausibler sein, als dort die dringend nötigen Reduktionen | |
| einzufordern, wo Handlungen galaxienweit von einer Befriedigung basaler | |
| Grundbedürfnisse entfernt sind. Es entspricht überdies jeder ökonomischen | |
| Logik, die knappeste aller Ressourcen, nämlich die Nutzung der Ökosphäre, | |
| zuvörderst dort einzusetzen, wo sie die eklatanteste Not lindert. | |
| Wer wollte ernsthaft eine würdige Unterkunft, Elektrizität, notwendigen | |
| Berufsverkehr, eine Konsumausstattung, die auch maßvoll über den reinen | |
| Grundbedarf hinausreichen kann, Zugang zu maximaler Gesundheitsversorgung | |
| und Bildung sowie einen ökologisch verantwortbaren Urlaub kritisieren? Aber | |
| umgekehrt ist noch niemand erfroren, verhungert oder erkrankt, wenn er/sie | |
| keine Kreuzfahrt, keine Flugreise, keinen SUV, keine maßlose Neuanschaffung | |
| an Elektronik und anderen Konsumgütern oder keine 100 Quadratmeter | |
| Wohnfläche pro Kopf etc. in Anspruch nehmen konnte. | |
| Wenn nackte Gewalt gegen die menschliche Zivilisation gerichtet wird, und | |
| zwar ohne erkennbare Not, entspricht es aufgeklärtem und durchaus liberalem | |
| Bürgersinn, dies im Rahmen direkter Kommunikation zu thematisieren, um | |
| Rechtfertigungsdruck aufzubauen. Dafür bieten sich viele Orte an: Schulen, | |
| Universitäten, Familien/Lebensgemeinschaften, Freundeskreise, | |
| Nachbarschaften, Wirtshäuser, Sportvereine, Partys, Nachbarschaften, | |
| öffentliche Veranstaltungen und natürlich die Medien. Insoweit es absehbar | |
| um die Überlebensfähigkeit geht, sollte es unter aufgeklärten Verhältnissen | |
| nötig und möglich sein, menschliche Freiheiten mit der Frage zu | |
| konfrontieren, wie sie sich gemäß einer Verhältnismäßigkeit zwischen | |
| Notwendigkeit und zerstörerischem Potenzial rechtfertigen lassen. | |
| Einen kritischen Dialog können glaubwürdig und wirksam nur Personen | |
| initiieren, die selbst eine verantwortbare Lebensführung praktizieren. Denn | |
| ein Analphabet kann einem anderen Analphabeten nicht lesen und schreiben | |
| beibringen, und jede Kritik oder Forderung entpuppt sich als Scharlatanerie | |
| und Anmaßung, wenn sie schon im Selbstversuch desjenigen scheitert, der sie | |
| erhebt. | |
| ## Obergrenze für materielle Freiheit | |
| Eine Neujustierung individueller Freiheit bedeutet weder Ökodiktatur noch | |
| Öko-Stasi. Wenn der Planet erstens physisch begrenzt ist, zweitens | |
| industrieller Wohlstand nicht von ökologischen Schäden entkoppelt werden | |
| kann, drittens die irdischen Lebensgrundlagen dauerhaft erhalten bleiben | |
| sollen und viertens globale Gerechtigkeit herrschen soll, muss eine | |
| Obergrenze der von einem einzelnen Individuum in Anspruch genommenen | |
| materiellen Freiheit existieren. | |
| Diese kann sich nur an der Gesamtbilanz aller ökologischen Handlungsfolgen | |
| bemessen, die ein einzelnes Individuum verursacht. Längst bekannt ist, dass | |
| allein die Einhaltung des 2-Grad-Klimaschutzziels für Mitteleuropa | |
| bedeutet, dass die CO2-Emissionen pro Kopf und Jahr von ca. 12 auf ca. 2 | |
| Tonnen zu senken wären. Genau daran wäre das soziale Regulativ zu | |
| orientieren, damit es nicht auf Willkür beruht. | |
| Wer weiter auf technologische oder politische Erlösung vertraut, steuert | |
| auf eine unvermeidliche Eskalation zu. Wenn Verteilungskonflikte entbrennen | |
| und für manche der Kampf um ein würdiges Dasein beginnt, wird sich niemand | |
| mehr für eine Demokratie einsetzen, die offenkundig am Minimum dessen | |
| gescheitert ist, was Humanität bedeutet: Überlebensfähigkeit. Wer also die | |
| Freiheit bewahren will, darf sie nicht im Übermaß beanspruchen, sondern | |
| muss sie vorsorglich und freiwillig begrenzen. | |
| Die hierzu nötige Suffizienz erweitert aber auch Handlungsfreiheiten, weil | |
| sie sich behindernder materieller sowie institutioneller Vorbedingungen | |
| entledigt. Ballast abzuwerfen, sich dem Steigerungswahn zu entziehen, | |
| verführerische Komfortangebote auch dann einfach links liegen zu lassen, | |
| wenn sie finanzierbar und legal sind, das Vorhandene als auskömmlich zu | |
| betrachten und gegen aufdringlichen Fortschritt zu verteidigen, gemeinsam | |
| mit anderen den Mut zum Unzeitgemäßen entwickeln – dies alles kostet | |
| nichts, bedarf keiner innovativen Erfindung, ist nicht von Mehrheiten | |
| abhängig, verstößt gegen kein Gesetz und benötigt vor allem keines. Ein | |
| friedlicher und fröhlicher Aufstand der sich Verweigernden – besser noch: | |
| ein maßvoller Wohlstands- und Technologieboykott – verbleibt als letzter | |
| Ausweg. Die Zeit der Ausreden ist vorbei. | |
| 28 Jul 2019 | |
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| Niko Paech | |
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