# taz.de -- Essay zum neuen Öko-Kulturkampf: Die fetten Jahre sind vorbei | |
> Über die „Fridays for Future“-Schüler wird gestritten. Die einen | |
> bezeichnen sie als Helden, andere als Verblendete. Erst wenn das aufhört, | |
> ist Politik möglich. | |
Bild: Luisa Neubauer (re.) spricht gemeinsam mit Greta Thunberg vor Tausenden i… | |
BERLIN taz | An einem Freitag im Frühjahr steht Luisa Neubauer auf der | |
Bühne am Brandenburger Tor. Mit Bommelmütze und der Kollegin Greta | |
Thunberg. „Wer uns fragt, wie lange wir noch streiken wollen“, ruft sie, | |
„dem sagen wir: Geht zur Politik und fragt, wie lange sie die Klimakrise | |
noch ignoriert.“ Dann trifft sich Neubauer mit Potsdamer | |
Klimawissenschaftlern, sie bespricht in einem „Inner Circle“ der Grünen | |
deren neues Grundsatzprogramm, sie streitet bei „Lanz“ mit Christian | |
Lindner, sie referiert beim taz lab. Fast immer trägt sie Schwarz. | |
Und jetzt sitzt sie ohne Bommelmütze und nicht schwarz gekleidet in einem | |
Café in Berlin-Mitte und wundert sich, dass davon gesprochen wird, eine | |
„Öko-Apo“ sei im Entstehen, so wie 1968 die Jungen gegen ihre Eltern auf | |
die Straße zogen. | |
Neubauer, 22, ist das Gesicht dieser Bewegung, und tatsächlich hat sie mit | |
zwei anderen vor etwa vier Monaten den Schülerstreik in Berlin erfunden und | |
groß gemacht. „Wir sind keine Öko-Apo, wir sind da schon eher Mainstream“, | |
sagt sie. | |
Nun gut: Sie ist faktisch aus dem grünen Kreisverband Göttingen, auch wenn | |
sie da nie hingeht. Aber in den mittlerweile 400 Ortsgruppen von Fridays | |
for Future sind auch jede Menge Leute, die sich gerade erst politisieren. | |
Oder, wie Neubauer sagt: „Wir erreichen die Instagramer, die nicht seit | |
zehn Jahren in einem Grünen-Büro rumhängen.“ | |
Es handelt sich allerdings nicht um die Jungen. So wie Daniel Cohn-Bendit | |
und Rudi Dutschke 1968 nicht für alle jungen Leute auf den Barrikaden | |
standen. Es gibt auch Studenten, die keine Zeit für Proteste gegen das | |
Fehlen einer Zukunftspolitik haben. Weil sie gerade in der Welt | |
herumfliegen. Andere junge Leute demonstrieren für Dieselautos. Wieder | |
andere, etwa von der Jungen Union, sind für den Erhalt der bestehenden | |
Wirtschafts- und Machtstrukturen. | |
Will sie panic, wie die Schwedin Thunberg, ein Begriff, der einige empört, | |
die den Jugendprotest kritisch sehen? Neubauer überlegt. „Greta will nicht, | |
dass man nach Hilfe schreit, sondern dass man sich der Krise bewusst wird.“ | |
Sie hat wie Thunberg den Eindruck, dass vielen Leuten nicht klar ist, wie | |
schnell und wie radikal gehandelt werden muss. Das wollen sie ihnen jetzt | |
klarmachen. Sie sucht nach einem besseren Wort als „Panik“, das nicht | |
lähmt, sondern Handeln auslöst. „Konstruktive Angst“, sagt sie irgendwann. | |
Was will diese Bewegung sonst noch? Sie will keine linke Räterepublik, | |
keine sexuelle Revolution, sie will eine Klimapolitik durchzusetzen, die | |
Menschen, deren Lebensspanne an das 22. Jahrhundert heranreicht, eine | |
Zukunft ermöglicht. In dieser Woche hat Fridays for Future ein | |
Forderungspapier vorgestellt, in dem die Bewegung Bundes-, Landes- und | |
Kommunalregierungen auffordert, alles Erforderliche zu tun, um das Pariser | |
Abkommen zur Begrenzung der Erderhitzung auf 1,5 Grad einzuhalten. Noch | |
knapper kann man sagen: Sie wollen eine Bundesregierung, die die Politik | |
macht, die Union und SPD versprochen haben. | |
Konkrete Forderungen sind: Die Energieerzeugung bis 2035 komplett | |
erneuerbar machen und den CO2-Ausstoß auf null bringen. Als politische | |
Werkzeuge schlagen sie vor: eine CO2-Steuer. Ein Viertel der deutschen | |
Kohlekraftwerke noch in diesem Jahr abschalten. Kohleausstieg bis 2030 und | |
nicht erst 2038. Umerziehungsmaßnahmen, Gebote oder Verbote sind nirgends | |
zu entdecken. | |
Dennoch werden speziell Thunberg und Neubauer bereits auf die alten | |
Revolutionsfolien projiziert: Die einen malen Ikonenbilder, die Zweiten | |
streicheln ihnen altväterlich übers Haar, die Dritten murren, dass Neubauer | |
„nicht radikal genug“ sei – so, wie sie selbst früher angeblich waren. U… | |
die Vierten rufen nach der Polizei, wahlweise wegen Schulschwänzen, | |
Verbalradikalismus, Scheinheiligkeit, Religionsstiftung, Tugendwahn, | |
Gefährdung des Wirtschaftsstandorts … | |
Die mediengesellschaftliche Diskussion wird in Deutschland traditionell von | |
den Alarmrändern bestimmt, früher war das von links, neuerdings von rechts, | |
aber stets wird alles in moralischen Höhen verhandelt: Nazikeule, | |
Gutmenschkeule, Freiheitsberaubungskeule, Elitenverschwörungskeule, | |
Bioelitenkeule, Umerziehungskeule. Ökomoralkeule. | |
Allzu oft geht es dabei aber nur darum, das öffentliche Gespräch zu | |
Bullshit zu erklären. Und damit ist man unweigerlich bei dem | |
grundsätzlichen Versuch der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, | |
des FDP-Chefs Christian Lindner und anderer, das Problem eines | |
vertragswidrigen Fehlens von Klimaschutz in Deutschland zu ignorieren, | |
dafür einen Pseudokonflikt zu entfachen und einen guten alten Charakter als | |
Pappkameraden wieder ins Spiel zu bringen: Den „calvinistischen Öko“, den | |
„linksideologischen Grünen“ (Lindner), der unter Instrumentalisierung von | |
gehirngewaschenen Jugendlichen den Deutschen ihre rechtmäßige Kultur und | |
Lebensweise verbieten will, die offenbar aus Autofahren, | |
Industriefleischverzehr und einer bipolaren Aufteilung in Männer- und | |
Frauenklos besteht. | |
Das sind die neuen Moralisten. Sie drehen die alten Vorwürfe um, indem sie | |
die Minderheit der Veganer oder klitzekleine Umweltverbände wie die | |
Deutsche Umwelthilfe als riesige Gefahren für das gute Leben stilisieren. | |
Es ist eine Schizophrenie, die erstens davon ablenkt, dass die | |
ökopolitischen und geschlechterpolitischen Beschlüsse der vergangenen Jahre | |
von CDU, CSU und SPD durchgesetzt oder zumindest unterschrieben wurden. | |
Beim Paris-Abkommen zur Begrenzung der Erderhitzung wird das besonders | |
deutlich: Dieselben Parteifreunde, die das Abkommen unterschrieben haben, | |
stigmatisieren es nun. Bezeichnen ihre eigenen Umsetzungsmaßnahmen, wie | |
etwa Verkehrsminister Scheuer, als „gegen den gesunden Menschenverstand“ | |
gerichtet. | |
Das zeigt einerseits, dass diese Gesellschaft einen weiten Weg gegangen | |
ist. Ihre Parameter haben sich umgedreht. Der Mainstream ist jetzt nicht | |
mehr muffig wie zu 68er-Zeiten, er ist europäisch und gesellschaftsliberal. | |
Dabei aber nur bedingt sozialökologisch, das hat man in der Fixierung auf | |
das Soziale und das Identitätspolitische vernachlässigt. Daran hat | |
Kanzlerin Merkel ihre Politik orientiert. Doch da seit 2015 die schönen | |
Jahre mit Merkel vorbei sind, ist die große Frage: Und nun? Vorwärts oder | |
zurück? Und da sehen wir sowohl bei der implodierenden SPD,als auch bei der | |
verunsicherten Union klare Rückwärtsbewegungen. | |
Kramp-Karrenbauer, die derzeitige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles und | |
interessanterweise auch der als innovativ gelabelte Lindner versuchen, die | |
Zeit anzuhalten und dem sozialökologischen Jahrhundert durch Rückzug zu | |
entkommen. Konkret, indem sie das Problem in den vorpolitischen, | |
kulturellen Bereich verlagern und Menschenrechte auf Schwenkgrillen oder | |
Stickoxide propagieren. Nicht weil ihnen das Problem nicht klar wäre, | |
sondern weil sie keine Lösungen haben. Weil sie im Moment nicht glauben, | |
Lösungen finden zu können und/oder in der Lage zu sein, Mehrheiten dafür zu | |
gewinnen. | |
Was ist das grundsätzliche Problem? Die fortschreitende Erhitzung der Erde | |
entsteht durch Treibhausgasemissionen, die vor allem durch fossile | |
Brennstoffe verursacht werden, auf denen unsere Art zu wirtschaften | |
basiert. Folgen sind unter anderem Landverlust, Kriege, Hungersnöte, | |
Abermillionen Klimaflüchtlinge. Es geht also nicht um die „Umwelt“, sondern | |
um eine gute Zukunft der Menschen. Eine zentrale Lösung besteht darin, das | |
Verbrennen fossiler Energie zügig einzustellen und auf erneuerbare Energien | |
umzusteigen. Das ist die große Herausforderung unserer Zeit: eine | |
demokratische Mehrheit für sozialökologische Politik und Wirtschaft zu | |
gewinnen. Keiner weiß, wie das geht. | |
Es geht jedenfalls nicht, indem man das Zeitalter des persönlichen | |
Verzichts und der menschlichen Mäßigung für gekommen erklärt. Das ist die | |
Überzeugung von Ralf Fücks, einem führenden Ökointellektuellen des Landes | |
und langjährigen Vorstand der grünennahen Böll-Stiftung. Fücks, 67, warnt | |
vehement vor einem „Ökocalvinismus“, der im Namen der Weltrettung Verzicht | |
und Selbstbegrenzung predigt und gegen den sich dann all jene formieren | |
können, die sich nicht vorschreiben lassen wollen, wie sie leben. An diesem | |
Tag sitzt er in Berlin-Mitte, nahe Bahnhof Friedrichstraße, in den Räumen | |
der Liberalen Moderne. Das ist der Thinktank, mit dem er die ökologische | |
Modernisierung der Wirtschaft von einem grünen Nischenprojekt ins Zentrum | |
der Gesellschaft rücken will. Wie immer trägt er Schwarz und den Kopf | |
haarfrei. | |
„Die Privatisierung der Klimafrage ist falsch“, sagt er. Fücks ist | |
allergisch gegen die Vorstellung, es sei Aufgabe der Politik, Menschen | |
umzuerziehen. Er hat sich auf die ganz harte Tour in den Siebzigern in | |
einer westdeutschen kommunistischen Sekte vom Gegenteil überzeugt. | |
„Wenn ich die Leidenschaft auf Twitter für Lebensstilfragen wie Essen oder | |
Autos sehe, das steht in keinem Verhältnis zu Lösungen, die in eine | |
nachhaltige Ökonomie führen“, sagt er. Tatsächlich scheint die | |
„Leidenschaft“ für ökologische Modernisierung wirklich noch unterentwicke… | |
zu sein. Es ist unklar, ob Fücks das traurig oder wütend macht. | |
Und man hat ja wirklich diese linksliberalen oder linksgrünen Freunde, die | |
bei Identitätsfragen durch die Decke gehen, engagiert über Fleischessen und | |
Porschefahren schimpfen können, aber sofort einschlafen, wenn die Worte | |
„ökologische Modernisierung der Wirtschaft“ fallen. | |
Fücks sieht im Moment zwei Linien, auf denen um Hoheit gerungen wird. Die | |
erste ist die alte Linie von Ökonomie und Ökologie, also die fossilen | |
Geschäftsmodelle von heute gegen die postfossilen Geschäftsmodelle. Da wird | |
als Hauptargument immer gesagt: Klimaschutz ist schon okay, darf aber nie | |
der Wirtschaft in die Quere kommen, also Wachstum (Union, FDP) und | |
Arbeitsplätze (SPD) gefährden. Dass sich die Probleme aus der | |
selbstzerstörerischen Art des Wirtschaftens ergeben haben und deshalb nicht | |
mit einer Beibehaltung oder Intensivierung zu lösen sind, ist in diesem | |
Politikframe nicht denk- und nicht verhandelbar. Das ist ein Teil der | |
Blockade. | |
Fücks sieht den „ökologischen Calvinismus“ aber eben nicht nur als | |
Pappkameraden, den interessierte Politiker und Medien aufstellen, sondern | |
seit dem Club of Rome in der Ökodebatte angelegt. Dessen Klassiker, | |
„Grenzen des Wachstums“, war vor knapp 50 Jahren der Beginn der | |
ökologischen Frage und zielte stark auf Kontrolle von Produktion, Konsum | |
und sogar Fortpflanzung. Fücks befürchtet, dass eine Öko-Apo mit | |
Endzeitstimmung und Verzichtsrhetorik den Kulturkampf manifestiert und | |
Fortschritt verhindert. | |
Er hat ein Buch mit dem Titel „Intelligent wachsen – die grüne Revolution�… | |
geschrieben. Darin geht es um ein grünes Wirtschaftswunder statt um | |
Mäßigung und Verzicht. Er wünscht sich auch bei den Jungen, die jetzt auf | |
die Straße gehen, „mehr Futurismus“ statt Endzeitstimmung. „Ist das eine | |
Bewegung für ein Grünes Wirtschaftswunder?“, fragt er, ganz offenbar | |
rhetorisch. Denn von Technologien, Innovationen, Unternehmertum ist bei | |
Fridays for Future bisher nicht die Rede. | |
Eine moralisierende Bewegung sei nicht realitäts- und lösungsorientiert, | |
wenn man die globalen Wachstumsschübe sieht. Sie liefe hinaus auf den | |
sinnlosen Clash mit einer moralischen Gegenbewegung, deren Hauptziel in | |
ebenjenem moralischen Clash besteht, der dann politisches Handeln weiter | |
hinausschieben soll. Fücks’ Punkt ist daher die Überwindung des alten | |
linken und grünen Defizits: vom richtigen Sprechen zu einer gelebten Kultur | |
unternehmerischer und politischer Mündigkeit zu kommen. | |
## Wie eine Mehrheit für Zukunftspolitik gewinnen? | |
Er plädiert für Einbeziehung der Zukunftskosten in die Preise („ökologische | |
Wahrheit“). Er findet auch fleischfreies Essen oder Eigenstromproduktion | |
gut als Ausdruck individueller Freiheit. Aber: „Ohne grüne Revolution | |
werden wir den Wettlauf mit dem Klimawandel nicht gewinnen.“ | |
Also weder Radikalisierung einer moralischen Umkehrbewegung noch ein | |
trotziges „Weiter so!“, sondern etwas Drittes: eine fundamentale | |
Veränderung der industriellen Produktionsweise, „eine neue Synthese | |
zwischen Natur und Technik“, wie er sagt. Seine Formel: Sonnenenergie mal | |
menschliche Kreativität, mit Ordnungspolitik als Steuerungsinstrument. | |
Aber noch mal: Woher kommt eine neue Mehrheit für eine solche ernsthafte | |
Zukunftspolitik? | |
Ein paar hundert Meter entfernt vom Büro der Liberalen Moderne betritt am | |
nächsten Tag Bernd Ulrich ein Café am Hackeschen Markt. Trägt Freizeitlook. | |
Sieht entspannt aus, vielleicht weil er gerade vom Yoga kommt, aber das | |
könnte auch Einbildung sein. Der Politikchef und stellvertretende | |
Chefredakteur der Wochenzeitung Zeit hat in einem außergewöhnlichen Move | |
vor etwa anderthalb Jahren Öko ins Zentrum seiner politischen | |
Berichterstattung gerückt. Vorher waren dort auch die Ökos für Öko | |
zuständig, vorne liefen die beliebten Was-Merkel-sich-so-denkt-Stücke. | |
## Von der moralischen auf die politische Ebene | |
Ulrich, 58, ist politisch später sozialisiert als Fücks, er sieht | |
menschliche Entwicklung generell als wichtiges Moment einer Veränderung. Er | |
selbst hat sich auch verändert, unter anderem ist er seit einem Jahr | |
Veganer. In einem sehr politischen Leitessay hat er jüngst auch folgenden | |
Satz geschrieben: „Es geht um den Kampf zwischen dem inneren Schweinehund | |
in den meisten von uns und dem besseren Engel unserer selbst.“ Einig ist er | |
sich aber mit Fücks in einem zentralen Punkt: Das Thema muss von der | |
moralischen und der kulturellen auf die politische Ebene gehoben werden. | |
Nur wie? | |
Moral und Apokalyptik seien vor 30 Jahren die stärkste Waffe der | |
Ökobewegung gewesen, um gehört zu werden und den Graben zwischen der | |
damaligen Gegenwart und einem Problem zu überwinden, das in der Zukunft | |
lag. Manche Ökos hingen heute noch in der Moralisierung drin, weil sie das | |
so gelernt haben. „Aber jetzt ist der Klimawandel da, also braucht es | |
keinen Altruismus, sondern intelligenten Egoismus als Antrieb“, sagt | |
Ulrich. | |
Für ihn ist die zunehmende Härte aller Diskussionen eine Folge der | |
zunehmenden Unruhe der Gesellschaft, und diese wiederum speist sich aus dem | |
zumindest unterbewusst realisierten Defizit an Zukunftspolitik. Das | |
Abwarten und Nichthandeln dieser Regierung in allen Fragen, vor allem der | |
ökologischen, sei „beispiellos.“ | |
Beispiellos, tatsächlich? | |
„Ja, gemessen daran, was sie sich vorgenommen haben. Sie haben in Paris | |
eine Revolution unterschrieben, dann verheimlicht und wenn sie jetzt | |
umgesetzt werden muss, beschimpfen sie die Grünen, als hätten die 13 Jahre | |
eine Ökodiktatur veranstaltet.“ | |
Ulrich sieht hier den Übergang von der „Wattierung“ der Probleme durch | |
Kanzlerin Merkel zur Moralisierung von Kramp-Karrenbauer. Weil sie ebenjene | |
attackiere, die darauf bestehen, dass nun endlich Zukunftspolitik gemacht | |
wird. Die SPD spielt bezeichnenderweise auch in der Klimadiskussion keine | |
Rolle. | |
Vielleicht kann man ja das übliche AKK-Portfolio (Frau, sozialkatholisch, | |
gesellschaftsliberal, rückschrittlich) zum jetzigen Zeitpunkt vergessen und | |
sich auf diesen Punkt konzentrieren: Merkel war verbale Akzeptanz und | |
gleichzeitige Einhüllung des Problems, Kramp-Karrenbauer könnte der Schritt | |
zurück sein, wenn sie wirklich weiterhin das Problem ignoriert und | |
stattdessen jene, die es lösen wollen, als Bedrohung stigmatisiert. | |
Aber genau dieses Verdrängen funktioniert nicht mehr lange, sagt Ulrich. | |
„Die Verdrängungsenergie, die eine Gesellschaft aufbringen muss, um | |
bestimmte Probleme nicht zu sehen, ist genauso groß wie das zu | |
Verdrängende. Das neurotisiert diese Gesellschaft und jeden Einzelnen.“ | |
## Handelt es sich um unfassbares Moralgeschwätz ohne Wert? | |
Nun haben wir aber nicht nur das Problem, dass „die anderen“ verdrängen, | |
auch wir selbst kommen nicht klar mit den Widersprüchen unseres Lebens. | |
Oder wie ist es zu erklären, dass ökologisch aufgeklärte Menschen ständig | |
darüber räsonieren, was für ein perverser Wahnsinn das mit den | |
Billigflugtickets sei, während sie selbst welche in der Hand halten, so | |
billig, dass sie ja praktisch gar nicht anders konnten, als schnell | |
irgendwo hin zu fliegen? | |
Trifft also der Vorwurf der Gegenmoral zu, nach dem es sich in unserem Fall | |
um unfassbares Moralgeschwätz ohne Wert handelt? Na ja, sagt Ulrich, | |
erstens gelte der Spruch von Max Weber: Heuchelei ist die Verbeugung des | |
Lasters vor der Tugend. Zweitens könne nur dort Heuchelei sein, wo Menschen | |
sich etwas vornehmen. „Deshalb ist der Nachweis, dass es Ökoheuchler gibt, | |
völlig unwichtig.“ | |
Die Privatisierung von Ökopolitik meint: Luisa Neubauer und die bayerische | |
Grünen-Politikerin Katharina Schulze werden als Vielfliegerinnen | |
„entlarvt“ – um damit Zukunftspolitik zu desavouieren und zu verhindern. | |
Dahinter steht aber das Grunddilemma des Problems: Unsere politische | |
Einstellung ist mit einem gelebten Weltbürgertum nicht zu vereinen. In | |
ökologischer Hinsicht verhalten wir uns so, als ob wir uns als Feministen | |
bezeichnen, aber zu Frauen immer noch „Schlampe“ sagen würden. Das tiefer | |
liegende Problem ist für Bernd Ulrich aber noch mal ein anderes: Er sieht | |
die deutsche Gesellschaft feststecken in einer „Maß-und-Mitte-Orthodoxie“. | |
Es gebe ein „deutsches Radikalitätsverbot“. | |
Heißt: Es tönt mal halb links und mal halb rechts, aber letztlich trifft | |
man sich in der Mitte. Dieses westdeutsche Schmidt-, Kohl-, Schröder-, | |
Merkel-Prinzip des 20. Jahrhunderts gilt weiter und ungeachtet der | |
Radikalität der Probleme. Die AfD sammelt den Protest dagegen mit dem | |
Angebot eines radikalen Rückzugs in eine Welt ohne Klimawandel. Das Problem | |
der Erderhitzung ist aber halt auch nicht im bloßen Widerstand gegen die | |
AfD zu lösen. Als erster Politiker, sagt Ulrich, habe der | |
Grünen-Vorsitzende Robert Habeck das deutsche Radikalitätsverbot für sich | |
abgelehnt, „allerdings ohne es bisher jemals gebrochen zu haben“. | |
## Kretschmann haut's aus den Schuhen | |
Tatsächlich sagt Habeck seit einiger Zeit ab und an, dass den radikalen | |
Problemen der Realität nur mit radikalen Lösungen begegnet werden könne. | |
Nur radikal sei daher realistisch. Das ist im Grunde die Ulrich-These. | |
Den Grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg haut’s bei solchen | |
Sätzen immer fast aus dem Schaukelstuhl. „Maß und Mitte“ ist Winfried | |
Kretschmanns zentraler politischer Leitstern, damit steht er morgens auf | |
und geht abends zu Bett und damit ist er (allein) zur führenden Partei von | |
Baden-Württemberg geworden. Kretschmann ist ohne jeden Zweifel ein | |
Hardcore-Öko und Hardcore-Demokrat. Er hat als Person eine | |
Zweidrittelmehrheit hinter sich, als Partei eine einfache Mehrheit. Aber er | |
scheint nicht richtig daran zu glauben, dass er sie für sozialökologischen | |
Wandel bekommen hat. | |
„Ich würde meinen radikal-realistischen Ansatz sofort einpacken, wenn die | |
herrschende Politik noch die Menschen beruhigen würde“, sagt Ulrich. „Aber | |
das tut sie ja nicht.“ Deshalb glaube er, dass die Zeit der | |
Merkel-plus-SPD-Politik vorbei sei, in der die Kanzlerin und ihr damaliger | |
Umweltminister Gabriel vor Eisschollen posierten und viele das tatsächlich | |
für Handeln hielten. „Alles wird anders“, heißt sein neues Buch, das im | |
Herbst „das Zeitalter der Ökologie“ ausruft. | |
Ulrich sieht aber auch die erste Generation Grünenpolitiker mit | |
sozialistischer oder kommunistischer Phase am Ende, weil „verhext von ihrer | |
Vergangenheit, einer Kombination aus einem wahnsinnigen Trauma und einer | |
noch wahnsinnigeren Erfolgsgeschichte. Die Heilung und Anpassung haben sich | |
zu tief in ihre Biografien eingegraben, als dass man noch mal über die | |
Frage reden darf, wie der Mensch eigentlich lebt.“ Deshalb könnten sie die | |
ökologische Frage nicht mehr lösen. | |
Auch Ulrich sagt: „Wir bewegen uns in einen Generationenkonflikt hinein, | |
gegen den 1968 ein Kindergeburtstag war.“ Je länger nichts getan werde, | |
desto größer werde der Graben zwischen den Alten und den Jungen, deren | |
Perspektive immer kleiner wird. | |
## „Massives Aufklärungsversagen der Grünen“ | |
Das ist der objektive Interessenkonflikt in der Gesellschaft. Und er | |
betrifft eben nicht nur die von Kramp-Karrenbauer repräsentierte | |
Erwachsenenteilgesellschaft, sondern auch den Teil der Grünen, der Tränen | |
der Rührung in den Augen hat, wenn Neubauer zu ihnen redet. Die Ablehnung, | |
das Schulterklopfen und auch die Rührung gilt der Moral, je radikaler desto | |
besser, denn dann kann man sich besser fühlen. | |
Aber auch die gerührten Grünen versaufen im Moment nicht nur das kleine | |
Häuschen der Oma, sondern das ihrer Kinder. Das hat Neubauer ihnen bei | |
ihrer Rede zu sagen versucht. Es gebe ein „massives Aufklärungsversagen“, | |
speziell der Grünen, sagt sie auch in dem Berliner Café. Aber wie kriegt | |
man eine Mehrheit für ökologische Zukunftspolitik? | |
„Nicht, indem man vorher Konflikte unter den Teppich kehrt. Sondern mit | |
Ehrlichkeit. Einerseits muss auf den Tisch gelegt werden, wie krass wir | |
unserem Planeten in den letzten 100 Jahren geschadet haben und was das | |
für unsere Lebensumstände in der Zukunft bedeutet. Und andererseits braucht | |
es Ehrlichkeit im Bezug auf die anstehenden Veränderungen für Gesellschaft | |
und Wirtschaft. Die Überwindung des ‚Klimaschutz gefährdet | |
Wohlstand‘-Paradigmas. Das zeugt vor allem davon, dass die politische Elite | |
sich nicht traut, mit den Menschen Klartext zu sprechen. Denn, ja, es sind | |
radikale Maßnahmen notwendig, das wird unbequem – für alle.“ | |
Ist Neubauer ein typisches Protestprodukt eines linksgrünen Bürgertums? Sie | |
kommt aus Hamburg-Iserbrook, einem bürgerlichen Stadtteil, sagt sie. Aber | |
nicht Blankenese-mäßig. Ihre Eltern sind Gründer eines kleinen | |
Altenpflegeheims. Ihre Mutter liest die taz, okay. Sie selbst hat mal einen | |
taz-Genossenschaftsanteil geschenkt bekommen. Aber sie fühlte sich nicht | |
vom Elternhaus politisch agitiert. | |
In die Grünen-Partei trat sie 2017 mit der „Habeck-Welle“ ein, wie sie | |
sagt: „Robert Habeck hat es für mich als einer der ersten Grünen Politiker | |
geschafft, den Eindruck zu vermitteln, dass grüne Politik anschlussfähig | |
ist, dass sie auf zwei Beinen steht und sich mit klugen Konzepten behaupten | |
kann – auch jenseits von Tierwohldebatten und einem Atomausstieg.“ | |
Es kam so ein bisschen eins zum anderen: Mit 18 wurde sie | |
Jugendbotschafterin für Afrika, sie machte ein Praktikum beim Greenpeace | |
Magazin. Währenddessen lernte sie Bill McKibben kennen, den Gründer der | |
Klimaschutzorganisation 350.org. Später arbeitete sie dort. | |
Lernte, wie man mit Politikern redet, wie man Bewegung organisiert, wie man | |
Medien interessiert. Anfangs rief sie an, jetzt klingelt dauernd ihr | |
Telefon, auch im Berliner Café. Im Grunde ist sie ein Vollprofi, wie | |
Christian Lindner es fordert. Eine, die im Gegensatz zu ihm auch von dem | |
französischen Präsidenten Macron empfangen wird. | |
Neubauer sieht die Entwicklung in der Tendenz wie Bernd Ulrich: Die | |
Merkel-Regierungen hätten ein bisschen Klimaschutz gemacht, aber an dem | |
Punkt aufgehört, an dem es hätte anfangen müssen, weil es unbequem wurde | |
und ja die Gesellschaft auch nicht darauf drängte. Und jetzt sind die | |
Merkel-Jahre vorbei – und die Jungen sind da. „Ja, jetzt sind wir da“, | |
bestätigt Luisa Neubauer. „Viele, viele Jahre zu spät.“ | |
Bernd Ulrich sagt, die junge Greta Thunberg und auch Luisa Neubauer seien | |
vergleichbar mit dem Kind in dem Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. In dem | |
Moment, da es in die Menschenmenge ruft, dass der Kaiser nackt ist, kann | |
plötzlich die ganze Bevölkerung sehen, was sie eigentlich die ganze Zeit | |
schon gewusst hat. Ab da ist alles anders. | |
15 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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