# taz.de -- Jahrestag des G20-Gipfels in Hamburg: Jugendliche am Pranger | |
> Zwei Jahre nach dem G20-Gipfel läuft die Fahndung weiter auf Hochtouren. | |
> Bislang wurde keine Anklage gegen Polizisten erhoben. | |
Bild: Egal wie alt die Verdächtigen sind – ihre Fotos, allerdings ohne Augen… | |
HAMBURG taz|Brennende Autos, Plündereien, Straßenschlachten zwischen | |
DemonstrantInnen und der Polizei: Die Bilder der G20-Chaostage im Juli 2017 | |
haben sich in das kollektive Gedächtnis Hamburgs eingefressen. | |
Schuldzuweisungen, Großermittlungen und ein parlamentarischer | |
Sonderausschuss folgten. Zwei Jahre nach dem Gipfel zieht die taz Bilanz. | |
Die Öffentlichkeitsfahndung: Kernpunkt der Ermittlungen gegen | |
G20-RandaliererInnen ist die Öffentlichkeitsfahndung – die größte in der | |
Geschichte der Bundesrepublik. Mit Fotos von insgesamt 413 Personen, die | |
auch viele Medien bereitwillig publizierten, versuchte die Polizei, | |
Verdächtige zu identifizieren, was bei einem Drittel, genau in 133 Fällen | |
gelang. Zuletzt stellte die Polizei Anfang Juli erneut Fotos 13 unbekannter | |
Verdächtiger ins Netz. | |
Die Fahndung ist ethisch und rechtlich höchst umstritten, da auch nach | |
vielen Minderjährigen gefahndet wurde und wird. Der taz sind mehrere Fälle | |
bekannt, in denen Fahndungsfotos von unter 16-Jährigen publiziert wurden. | |
Eine Öffentlichkeitsfahndung darf ohnehin nur als das letzte Mittel bei | |
besonders schweren Straftaten angewendet werden. Das Jugendstrafrecht | |
schützt jugendliche Verdächtige zudem vor der Öffentlichkeit. | |
Nach wie vor weigert sich die Polizei beharrlich, die von Medien und der | |
parlamentarischen Opposition gestellte Frage zu beantworten, wie viele der | |
133 Identifizierten unter 21, unter 18 oder gar jünger als 16 Jahre waren. | |
Die Begründung: Es gebe darüber keine Statistik, der Aufwand, die 133 Akten | |
zu sichten, sei nicht zu bewältigen. | |
Die weiteren Ermittlungen: Laut Polizei wurden nach dem G20-Gipfel | |
insgesamt 3.567 Strafverfahren gegen mutmaßliche Gewalttäter eröffnet. Es | |
geht dabei meist um die Delikte schwerer Landfriedensbruch, tätlicher | |
Angriff auf Vollstreckungsbeamte, gefährliche Körperverletzung und | |
Sachbeschädigung. 1.228 Beschuldigte sollen bislang identifiziert sein. | |
Auch wenn die Soko „Schwarzer Block“ inzwischen aufgelöst wurde, sind heute | |
noch immer 30 ErmittlerInnen mit der Fahndung nach Verdächtigen | |
beschäftigt. | |
Die Urteile: 310 Anklagen wurden gegen mutmaßliche Randalierer erhoben. In | |
147 Fällen kam es bislang zu einer Verurteilung der Angeklagten. Dazu | |
kommen diverse Strafbefehle, deren Zahl nicht erfasst wurde. Dem stehen 15 | |
Freisprüche gegenüber. 19 Verfahren wurden eingestellt. Ex-Bürgermeister | |
Olaf Scholz (SPD) forderte nach dem Gipfel „harte Urteile“ gegen die | |
Gewalttäter und bekam sie. Die Anwälte der Angeklagten weisen durch die | |
Bank darauf hin, dass in der Vergangenheit bei vergleichbaren Delikten auf | |
Demonstrationen – etwa Flaschenwürfen gegen PolizistInnen – wesentlich | |
milder geurteilt wurde. Statistische Auswertungen gibt es darüber | |
allerdings nicht. | |
Das härteste Urteil erging erst vergangenen Montag: Amtsrichter Johann | |
Krieten verurteilte einen 36-Jährigen wegen Körperverletzung zu einer | |
Freiheitsstrafe von vier Jahren mit der Begründung; „Damit es keine | |
weiteren Gewaltorgien gibt, müssen klare Ansagen gemacht werden.“ Krieten | |
ist auch für zwei weitere der härtesten G20-Urteile verantwortlich: Er | |
verhängte einmal zwei Jahre und sieben Monate und einmal dreieinhalb Jahre | |
Haft gegen zwei Beschuldigte. In beiden Fällen korrigierte die | |
Berufungsinstanz die Urteile deutlich nach unten. | |
Politische Aufarbeitung: Ein parlamentarischer Sonderausschuss zur | |
G20-Aufarbeitung verlief weitgehend ergebnislos. Viele Zeugen mauerten, | |
neue Erkenntnisse gab es kaum, einen gemeinsamen Abschlussbericht überhaupt | |
nicht. | |
Mitgegangen, mitgehangen: Eine veränderte Rechtsprechung versucht die | |
Hamburger Staatsanwaltschaft im Prozess um die Ausschreitungen in der | |
Elbchaussee durchzusetzen. Sie fordert hohe Haftstrafen ohne Bewährung für | |
fünf junge Männer, die nachweislich keine Gewalttaten und | |
Sachbeschädigungen begangen haben. Ihr Rechtskonstrukt: Der Aufmarsch an | |
der Elbchaussee sei keine Demo gewesen, aus der heraus Straftaten begangen | |
wurden, sondern eine Verabredung sämtlicher TeilnehmerInnen, schwere | |
Straftaten zu begehen. | |
Dies sei arbeitsteilig geschehen: Einige Personen hätten geplündert und | |
gebrandschatzt, der Rest der Menge habe sie durch seine Anwesenheit | |
geschützt. Deshalb seien allen Teilnehmerinnen der Versammlung sämtliche | |
Straftaten zuzuordnen, die aus der Versammlung heraus begangen wurden – | |
auch denen, die die Versammlung schon nach wenigen Minuten verließen. | |
Kann die Staatsanwaltschaft diese Rechtssicht im laufenden Verfahren | |
durchsetzen, sehen kritische Juristen, etwa der Republikanische | |
Anwaltsverein, das Demonstrations- und Versammlungsrecht grundlegend in | |
Gefahr. | |
Die politisch Verantwortlichen: Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) wurde von | |
vielen HamburgerInnen für das Gipfeldebakel politisch verantwortlich | |
gemacht. Er verlor in Meinungsumfragen drastisch und verabschiedete sich | |
nach Berlin, wo er als Vizekanzler nun Seit an Seit mit Angela Merkel (CDU) | |
regiert, mit der er zusammen den Gipfel nach Hamburg geholt hatte. | |
Innensenator Andy Grote (SPD) ging im Windschatten von Scholz nahezu | |
unbeschadet aus dem Gipfeldesaster hervor. | |
Polizeieinsatzleiter Hartmut Dudde stieg zum Leiter der Schutzpolizei auf | |
und damit zum Chef aller 5.000 uniformierten PolizistInnen Hamburgs. Die | |
Innenbehörde genehmigte ihm die Besoldung B3 auf Lebenszeit: mehr als 7.600 | |
Euro brutto im Monat. Dudde ist nun der drittmächtigste Polizist der Stadt. | |
Die andere Seite: Politisch mitverantwortlich für die militanten | |
Ausschreitungen machten sämtliche Parteien außer der Linken in den Tagen | |
nach dem Gipfel die Rote Flora und forderten Konsequenzen für das autonome | |
Zentrum am Schulterblatt. Inzwischen haben die Ermittlungen von | |
Staatsanwaltschaft und Polizei die Flora weitgehend rehabilitiert – sie sei | |
kein Kommunikationsknotenpunkt im Rahmen der Ausschreitungen und auch kein | |
Ausgangspunkt von Straftaten gewesen. Während SPD und Grüne sich aus ihrer | |
Das-muss-Konsequenzen-haben-Rhetorik herausgeschlichen haben, fordern die | |
CDU und vor allem die AfD noch immer mit Verweis auf die Gipfeltage die | |
Schließung. | |
Prozesse gegen Polizistinnen: Insgesamt gab es 156 Ermittlungsverfahren | |
gegen Polizisten, die während des Einsatzes rechtswidrig Gewalt ausgeübt | |
haben sollen. 96 dieser Verfahren wurden bereits eingestellt, bislang ist | |
es zu keiner einzigen Anklage, geschweige denn zu einer Verurteilung | |
gekommen. In 43 Fällen sah die Staatsanwaltschaft keinen dringenden | |
Tatverdacht, 53-mal konnte der beschuldige Beamte nicht ermittelt werden. | |
Auch deshalb wird Hamburg nun die Kennzeichnungspflicht für Polizisten | |
einführen. | |
Urteile über den Polizeivollzug gab es hingegen in mehreren | |
Zivilprozessen. Das Hamburger Verwaltungsgericht erklärte diverse | |
Verhaftungen von G20-GegnerInnen und deren Behandlung in der | |
Gefangenen-Sammelstelle für eindeutig rechtswidrig. | |
16 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Marco Carini | |
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