# taz.de -- Essay zur EU-Wahl: Die verratene Generation | |
> Will Europa überleben, muss es sich von der Logik des Alten lösen. | |
> Beispielsweise mit einer Jugendquote und Wahlrecht schon ab 12 Jahren. | |
Bild: Warum sollten sie nicht mitbestimmen? Kinder beim Klimastreik in Lissabon | |
Ein Riss geht durch Europa, und dieser Riss prägt immer stärker die | |
Konflikte des Kontinents, politisch, ökonomisch, kulturell, technologisch, | |
sozial. Er widersetzt sich der Logik der etablierten Parteien, | |
Interessenverbände, Allianzen und schafft neue Bündnisse, Bewegungen, | |
politische Realitäten: Es ist die Konfrontation von Jung und Alt oder Jung | |
und Mittelalt, und die Art und Weise, wie diese Konfrontation ausgetragen | |
wird oder nicht, wird darüber entscheiden, wie offen, progressiv und | |
letztlich erfolgreich Europa sein wird in den kommenden Jahren und | |
Jahrzehnten. | |
Die Ausgangslage ist klar: Europa hat eine Geschichte, die sich gerade vor | |
den [1][Europawahlen] auf die EU verengt. Diese Geschichte ist damit eine | |
der Väter und Mütter und vor allem der Großväter und Großmütter. Es ist d… | |
Geschichte von Krieg und Wiederaufbau, es ist die Geschichte einer | |
Wirtschaftsunion, die auf Kohle und Stahl und einen gemeinsamen Markt | |
aufbaute und daraus so etwas wie ein gemeinsames europäisches Bewusstsein | |
ableitete, die 30 Jahre Wachstum und Wohlstand produzierte, der allerdings | |
auch wiederum seit etwa 30 Jahren stagniert. | |
Die Väter und Mütter machen noch mit, sie sind oft fast reflexhaft für | |
Europa, das für sie so sehr Teil ihres Lebens ist, Eurovision, Fall der | |
Mauer, mit Air Berlin nach Mallorca. Aber die Kinder? Sie sehen eine andere | |
Welt, die nicht mehr von den Problemen des 20. Jahrhunderts geprägt ist, | |
aus denen heraus und als Antwort auf die jenes Europa entstanden ist, das | |
sie nun als wertvoll erachten sollen. | |
Ihr Bewusstsein ist differenzierter, so scheint es, es ist weniger | |
kontinental und mehr global (oder im Fall der jungen Rechten und | |
Identitären dezidiert national, nationalistisch, rassistisch, also wiederum | |
das krasse und entschiedene Gegenteil des Kontinentalen), es ist von der | |
ökologischen Krise geprägt und von der Möglichkeit des Endes der ganzen | |
Spezies. Was für eine Rolle spielt dabei Europa? Und vor allem ein Europa, | |
in dem sie keine Repräsentation haben? | |
## Umgedrehter Zeitstrahl | |
Tatsache ist: Das Durchschnittsalter der EU-Abgeordneten lag 2018 bei 54 | |
Jahren, von 751 waren damals nur 83 jünger als 40 Jahre. Das war noch nie | |
gut. Aber jetzt, wo sich in gewisser Weise die Zeit oder die Zukunft als | |
politische Komponente erweisen, weil die Folgen des Klimawandels die Jungen | |
viel mehr betreffen als die Alten; jetzt, wo sich Fragen von Erfahrung, | |
Existenz und Einfluss anders stellen sollten und das Lebensalter einer | |
Person mehr durch noch zu lebendes Leben als durch gelebtes Leben bestimmt | |
ist; jetzt, wo die notwendigen Veränderungen der Gegenwart dezidiert vor | |
dem Hintergrund der zukünftigen Folgen aus betrachtet werden müssen und | |
sich der Zeitstrahl in gewisser Weise umgedreht hat – jetzt ist dieses | |
Repräsentationsproblem fast schicksalhaft. | |
Dabei überlagern sich, wie fast in allen Feldern, politische und | |
technologische Faktoren. Die Jugend ist Vernetzung gewöhnt und mit der | |
Verfügbarkeit von Informationen und damit den Veränderungen von | |
Öffentlichkeit und Privatsphäre und den Konsequenzen für Gesellschaft und | |
Politik aufgewachsen. Sie hat nach der Wirtschafts- und Finanzkrise in | |
Europa erlebt, wie Verteilungsfragen zu ihren Ungunsten ausgetragen wurden | |
und in Ländern wie Spanien oder Griechenland, wo die | |
Jugendarbeitslosenquote teilweise 50 Prozent betrug, eine ganze Generation | |
auf dem Altar einer Sparpolitik geopfert wurde, die nach den politischen | |
und ökonomischen Prinzipien und Interessen einer anderen Generation | |
ausgerichtet war, denen der Babyboomer, die in den Wohlstandsjahren des | |
Westens groß geworden sind und von dieser Logik, von diesem Anspruch, von | |
dieser Macht nicht lassen wollen. | |
Der konservative Historiker Niall Ferguson hat das gerade zusammen mit | |
einem, wie es im Text heißt, liberal denkenden Graduate Student, Eyck | |
Freymann, in einem bemerkenswerten [2][Essay für die Zeitschrift The | |
Atlantic] beschrieben, das den Titel „Der kommende Generationenkrieg“ | |
trägt: Für die Politik in den USA, sagen die beiden, könnte die Kluft von | |
Jung und Alt wichtiger werden als die eher traditionellen Kämpfe um „race“ | |
oder „class“ – die Folge könnte eine grundsätzliche Neuordnung der | |
amerikanischen Politik werden, ein Linksschwenk in der Zukunft, während die | |
Gegenwart das Gegenteil erlebt, einen Gerontokraten-Battle zwischen Trump | |
auf der einen und möglicherweise dem 76-jährigen Joe Biden oder dem | |
77-jährigen Bernie Sanders auf der anderen Seite. | |
In Europa könnte die Kombination aus einer alternden Gesellschaft und einer | |
Politik, die die Jugend diskriminiert, ähnlich dramatische Konsequenzen | |
haben. Sie könnte mehr als die inhaltlichen Zuschreibungen der Parteien | |
verändern, die Jugend immer noch ganz unten einsortieren, weil diese sich | |
hochdienen muss zu einer Vernunft, von der am Ende nur jemand wie Christian | |
Lindner weiß, wie sie aussieht. Die sehr viel grundsätzlicheren Folgen der | |
demografischen Veränderungen hat vor Kurzem der Politikwissenschaftler | |
David Runciman von der Cambridge University beschrieben: Die repräsentative | |
Demokratie im antiken Athen und in ihrer Logik bis heute, so Runciman, ist | |
gegründet auf die dreifache Angst der reichen Eliten vor den Armen, den | |
Ungebildeten und den Jungen. Alles drei, so argumentiert er, hat sich heute | |
verschoben, die Armen sind weniger arm, die Ungebildeten informierter, die | |
Jungen nicht mehr in der Mehrheit und damit auch weniger eine Bedrohung – | |
und gleichzeitig sehen sie die Ungerechtigkeit eines Systems deutlicher, | |
was ihre Wut auf die Generation, die dafür verantwortlich ist, dass der | |
Planet stirbt, noch anheizt. | |
## Jugendquote für alle EU-Institutionen | |
Das erklärt übrigens auch die Wucht und die Wirkung der [3][„Zerstörung der | |
CDU“ durch den YouTuber Rezo]. Was passiert aber nun und was bedeutet es | |
für Europa, wenn nicht nur metaphorisch, sondern sehr direkt genau die | |
Geschichte, die Zugehörigkeit und Orientierung liefern soll, in ihrem Kern | |
zum Problem wird? Die Kohle jedenfalls, die am Beginn der EU stand, ist für | |
den Teil der heutigen Jugend, die sich mit dem Klimawandel auskennt, ganz | |
klar der Feind. Oder anders gefragt: Wie schafft es Europa, die klima-, | |
sozial- und wirtschaftspolitischen und auch die demokratietheoretischen | |
Ansätze aufzunehmen, die im Green New Deal angelegt sind, ein echtes | |
generationelles Zukunftspapier? | |
Es wird sich mehr verändern müssen als nur die inhaltliche Debatte von | |
Politik, ob im EU-Parlament oder im Deutschen Bundestag, so viel scheint | |
klar. Die Schüler, die den Protest auf die Straße getragen haben, was zu | |
zum Teil krassen und hässlichen Abwehrreaktionen von Teilen der Politik und | |
der Medien geführt hat, die mehr darüber aussagen, wie verzweifelt hier um | |
das eigene Überleben, sprich die eigene Karriere oder die Interessen, die | |
dahinter stehen, gekämpft wird – die Schüler sind jedenfalls geprägt von | |
einer anderen Welt, wie sie sie wahrnehmen, bedroht in ihrem Wesen, | |
erschaffen durch die Technologien, die sie benutzen. Das verändert Theorie | |
und Praxis von Politik, wie es etwa Fridays for Future zeigt. Es geht nun | |
darum, die Demokratie in Europa für das digitale Zeitalter und eine andere | |
Generation neu zu erfinden. | |
Der erste Schritt wäre hier eine Jugendquote für alle EU-Institutionen, 40 | |
Prozent unter 40 etwa, und eine Herabsetzung des Wahlalters auf 12 Jahre | |
oder jünger. Der zweite Schritt wäre eine Reflexion über die Position und | |
den Sinn Europas, das sich nicht als Wirtschaftsunion definieren kann, wenn | |
für viele junge Menschen diese Wirtschaft zum einen nicht funktioniert, | |
weil sie arbeitslos sind, und zum anderen dieses System von Industrie und | |
Wachstum genau für jene Klimakatastrophe verantwortlich ist, die längst zum | |
prägenden Teil ihrer eigenen Geschichte gehört. | |
Oder anders gesagt: Das Gerechtigkeitsversprechen Europas muss neu | |
definiert werden, wenn die Verteilungskämpfe der Vergangenheit in vielem | |
geschlagen sind oder sich anders definieren lassen – soziale Grundsicherung | |
oder ein bedingungsloses Grundeinkommen, eine europäische | |
Arbeitslosenversicherung, andere Gewerkschaftsformen oder das Konzept „Data | |
as labor“, all das sind mögliche Ansatzpunkte für einen anderen Diskurs | |
über Arbeit, Wohlstand, Wachstum in Europa und letztlich darüber hinaus. | |
Ein Europa, das sich von der Welt abgrenzt, wie im Konzept der „Festung | |
Europa“ gegen Migration, wird hier wenig Unterstützung finden. | |
Letztlich aber würde es darum gehen, ganz andere Formen von demokratischer | |
Praxis zu etablieren, die näher an der Logik einer Regierungsform des | |
ständigen Experiments sind: deliberative Demokratie etwa, also offene und | |
langgezogene und bodennahe Debattenprozesse, mehr lokale Verantwortung, | |
Dezentralisierung wesentlicher Entscheidungen, Einsatz von Technologie, um | |
die Demokratie transparenter und schneller zu machen, Abschied vom | |
Repräsentationsprinzip, dadurch eine andere parlamentarische Praxis. Das | |
alles wird schon verstreut diskutiert. Es ist aber wichtig, es unter der | |
Prämisse einer jungen Generation zu tun, die sich nicht der Demokratie | |
entfremdet hat, sondern umgekehrt: die von der Demokratie, wie sie sie | |
kennt, praktisch verraten wurde. | |
Die Wahlen zum EU-Parlament sind dabei nicht einmal ein erster Schritt, | |
weil sie nur die Logik des Alten reproduzieren. Es braucht, europaweit, | |
Diskussionen, Initiativen, Ideen, wie die Politik ganz konkret anders | |
gedacht und gestaltet werden kann. Nur dann wird Europa eine Realität auch | |
für die Jungen werden. | |
25 May 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-Europawahl/!t5533778 | |
[2] https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2019/05/coming-generation-war/588… | |
[3] /Kommentar-YouTuber-kritisiert-Union/!5594814 | |
## AUTOREN | |
Georg Diez | |
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