# taz.de -- Kolumne Der rote Faden: Rentner, gebt das Wahlrecht ab! | |
> Und den Führerschein gleich mit. Denn für beides gilt: Die Alten | |
> gefährden die Jungen. Was wir brauchen, ist eine Epistokratie der Jugend. | |
Bild: Liebe Babyboomer, wir unter 30 hätten ja auch gerne was von diesem Wohls… | |
„Seniorin kracht in Schaufenster“, „Rentner fährt in Menschenmenge“. W… | |
alle kennen diese Unfallmeldungen, es gab sie auch in dieser Woche. | |
Immerhin müssen Führerscheine in der EU inzwischen alle 15 Jahre neu | |
beantragt werden. Aber verpflichtende Fahrtauglichkeitstests? Och nö. | |
In Deutschland, einig Fahrerland, wollen wir uns nicht nur die Freiheit | |
erhalten, [1][mit 222 Stundenkilometern über die A100 zu brettern] (das war | |
allerdings ein 20-Jähriger), sondern auch jene, die Automatiklimousine | |
durch die Fußgängerzone zu steuern, und wenn dann das Gaspedal plötzlich | |
dort sitzt, wo eigentlich gerade noch die Bremse war, tja, dann. „Ich setze | |
auf Eigenverantwortung“, sagt niedlich Bundesverkehrsminister Scheuer, | |
unterstützt vom ADAC, während die vielen Experten, die unermüdlich darauf | |
hinweisen, dass im Alter nicht nur das Sehvermögen, sondern auch die | |
Selbsteinschätzung schlechter werde, still verzweifeln. | |
Anderer Leben gefährden ist das eine. Das andere: anderer Zukunft | |
gefährden. Am Sonntagabend, als die Europawahl-Hochrechnungen kamen, zeigte | |
sich: Unter 60 wurde hierzulande mit Blick auf die Straße gewählt, über 60 | |
mit Blick in den Rückspiegel. Die Zustimmung für die Grünen – die bei den | |
unter 60-Jährigen vorne lagen und bei den Erstwähler*innen so viele Stimmen | |
holten wie Union und SPD zusammen – sank antiproportional zum Alter der | |
Wählenden. Bei der CDU verhielt es sich genau andersherum. | |
Nun finde ich das nicht etwa deshalb bedenklich, weil die Grünen | |
prinzipiell überaus toll wären. Man kann gute Gründe haben, sie nicht zu | |
wählen, und die Aufmerksamkeit für das Thema Klima ist weit weniger ihnen | |
zu verdanken als den Kids, die seit Monaten auf die Straße gehen. | |
## Zugemüllt mit Kohlekraftwerken und Plastiktüten | |
Umso erschreckender ist die Deutlichkeit dieses Stimmungsbilds: Wer jung | |
ist, wählt die Grünen, weil er*sie ein Bewusstsein für den Klimawandel | |
überhaupt nur bei diesen sieht. Weil er*sie weiß, was auf dem Spiel steht. | |
Und vor allem: Weil er*sie selbst davon betroffen ist. Ein bis zwei | |
Generationen davor rennen dagegen dem Narrativ der Union hinterher: | |
[2][Alles Panikmache, geht mal lieber anständig auch zur Schule, es geht | |
hier schließlich um unseren WOHLSTAND] (das | |
CDU-Lieblingswahlkampfbuzzword). | |
Liebe Mitwählende über 60, wir unter 30 hätten ja auch gerne was von diesem | |
Wohlstand, nicht zuletzt weil wir schon jetzt ärmer sind, als unsere | |
Elterngeneration es je war, uns von Befristung zu Befristung hangeln und | |
eigentlich nie so richtig freihaben, weil wir unsere Wochenenden damit | |
verbringen, die letzte noch bezahlbare Wohnung zu finden (eure Renten | |
finanzieren wir natürlich trotzdem gerne). | |
[3][Leider habt ihr uns aber nicht nur eine prekäre Arbeitswelt | |
hinterlassen und ein Europa mit kollektiver Identitätskrise und | |
Nationalismusproblem], sondern auch den Planeten zugemüllt mit | |
Kohlekraftwerken und Plastiktüten. Und ihr wollt über unsere Zukunft | |
bestimmen? | |
Sie merken, ich steigere mich da in etwas hinein. Ich mach’s also kurz: | |
Führerscheine sollte man im Alter abgeben. Warum nicht auch das Wahlrecht? | |
Ja, ich weiß – ein Menschenrecht. Aber es sollte doch auch für uns Junge | |
ein Menschenrecht darauf geben, mindestens Ende siebzig zu werden wie der | |
durchschnittliche Mensch in Europa heute, und das, ohne abwechselnd von | |
Sturmfluten und Waldbränden heimgesucht zu werden. | |
## Rasern, Rentnern und Klimawandel | |
Was wir brauchen, ist eine Epistokratie der Jugend: das Wahlalter | |
herabsenken und nach oben begrenzen – oder zumindest deutliche Anreize | |
dafür setzen, die eigene Stimme an Jüngere zu delegieren. Zugespitzt hieße | |
das, Unschuldige vor einer in fundamentalen Fragen inkompetenten | |
Wählerklientel zu schützen. Das kann man jetzt demokratiefeindlich finden, | |
ich finde es nur vernünftig, sich darüber zumindest mal Gedanken zu machen. | |
Am Ende gibt es natürlich auch einen Zusammenhang zwischen Rasern, Rentnern | |
und Klimawandel. Im Hamburger Stadtteil Groß Flottbek – wenn man das | |
googelt, erscheinen fast ausschließlich Bilder von prächtigen Villen und | |
schnieken Gärten – passierten in ein und derselben Einkaufsstraße schon 20 | |
(in Worten: zwanzig) solcher Schaufensterunfälle. | |
Polizei und Bezirksamt haben am Mittwoch einen Krisengipfel einberufen und | |
wollen nun an einer Stelle das „Schrägparken“ verbieten. Das [4][Hamburger | |
Abendblatt] macht sich derweil ans Ermitteln. Und findet heraus: „Fast alle | |
Unfallverursacher waren ältere Menschen, die neuwertige, | |
automatikgetriebene Autos mit relativ hoher PS-Zahl fuhren, darunter SUV | |
und schwere Limousinen.“ | |
Zu – laut einem Experten des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf – | |
nachlassender Sehfähigkeit und beginnender Demenz mancher Unfallverursacher | |
komme noch „das Unvermögen, die modernen, mitunter hoch technisierten Autos | |
korrekt zu bedienen.“ Dann hoffen wir mal, dass die digitale Demokratie | |
Deutschlands Wahlkabinen nicht allzu schnell erreicht. | |
1 Jun 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2019/05/raser-berlin-stadtautobahn-22… | |
[2] https://twitter.com/Thomas_Bareiss/status/1132868211949559808 | |
[3] /Essay-zur-EU-Wahl/!5595048 | |
[4] https://www.abendblatt.de/hamburg/elbvororte/article225886053/Waitzstrasse-… | |
## AUTOREN | |
Johanna Roth | |
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