# taz.de -- Wie Europas Jugend abstimmte: Die junge Union | |
> In Deutschland wählten junge Menschen vor allem die Grünen. In anderen | |
> Ländern spielte Klimapolitik eine kleinere Rolle. | |
Bild: Hinter dem Vorhang haben die jungen Wähler unterschiedlich abgestimmt | |
## Polen – rechts | |
Polens jungen Wählern ist die Zukunft Europas wie auch des eigenen Landes | |
ziemlich egal. Am letzten Sonntag blieben über 72 Prozent der 18- bis | |
29-Jährigen zu Hause. Dabei erfreuten sich die Wahlen zum Europäischen | |
Parlament mit knapp 46 Prozent Wahlbeteiligung eines Rekordinteresses im | |
Vergleich zu den bisherigen EU-Wahlen. „Ich habe einfach keine Zeit, mich | |
auch noch um Politik zu kümmern“, versucht sich die 27-jährige | |
Sportlehrerin Danuta S. aus Warschau zu rechtfertigen. „Wenn ich nach einem | |
anstrengenden Arbeitstag nach Hause komme, muss ich mich erst um Mann und | |
Kind kümmern, dann den Haushalt machen und Papierkram erledigen.“ Wenn noch | |
Zeit sei, schaue sie sich zusammen mit der Familie einen schönen Film im | |
Fernsehen an. | |
„Nachrichten gucken wir eigentlich nie“, erklärt sie. „Das ist uns zu | |
anstrengend. Und für den Kleinen sind die vielen Unfall- und | |
Katastrophenbilder einfach zu brutal.“ Außerdem seien ihr Mann und sie | |
überzeugt, dass ihre Stimmen unter Millionen anderen sowieso nicht zählen | |
würden. „Wir haben andere Prioritäten“, sagt sie. | |
Diejenigen, die doch wählen gingen, entschieden sich mit 29 Prozent zumeist | |
für [1][die nationalpopulistische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS)], | |
die seit 2015 mit absoluter Mehrheit im Parlament regieren kann. Direkt | |
danach platzierte sich mit 27 Prozent der Erstwählerstimmen das | |
liberalkonservative Parteienbündnis Europäische Koalition. Großen Erfolg | |
bei den jungen Wählern – und hier insbesondere den jungen Männern – konnte | |
mit 18,6 Prozent der Stimmen die rechtsradikale Konföderation verbuchen, | |
die letztendlich aber unter der 5-Prozent-Hürde blieb. Für die | |
linksalternative Partei Wiosna (Frühling) stimmten gerade mal 13,8 Prozent | |
der Erstwähler, wobei sich von dieser Partei insbesondere junge Frauen | |
angesprochen fühlten. [2][Gabriele Lesser] | |
## Schweden – konservativ | |
[3][In der Heimat von Greta Thunberg] gab es nicht nur keinen Erdrutschsieg | |
für die Grünen. Auch bei den ErstwählerInnen konnte die grüne | |
„Miljöpartiet“ nicht punkten. Nur 16 Prozent aus dieser Gruppe stimmten f�… | |
sie. Klarer Favorit bei den 18- bis 21-Jährigen wurden laut einer | |
Wahluntersuchung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens SVT mit 21 Prozent | |
vielmehr die konservativen „Moderaten“, die am Ende 16,8 Prozent aller | |
Stimmen bekam. | |
„Erstwähler sind eher experimentell eingestellt“, sagt der Göteborger | |
Soziologieprofesser Henrik Ekengren Oscarsson, da könnten | |
Oppositionsparteien grundsätzlich anziehender als Regierungsparteien sein. | |
Viele Medienkommentare führen das gute Abschneiden der „Moderaten“ aber vor | |
allem auf die Schwächen der anderen Parteien zurück. Die Sozialdemokraten | |
hätten es schon immer schwer gehabt, junge WählerInnen anzusprechen, und | |
die Grünen, die seit fünf Jahren Regierungspartei sind, hätten eben viele | |
enttäuscht. | |
Womit auch der 21-jährige Fredrik Carlsson seine Stimme für die „Moderaten�… | |
begründet, selbst wenn man bei denen Klimapolitik „mit der Lupe suchen“ | |
müsse. „Linke und Schwedendemokraten kommen für mich nicht infrage, und die | |
Grünen haben nicht geliefert.“ Für ihn sei die Wahl eine Personenwahl | |
gewesen und da habe ihn die 32-jährige konservative Kandidatin Arba | |
Kokalari überzeugt. Diese – nun tatsächlich gewählt – habe sich für Br�… | |
konkrete Ziele gesetzt, wie mehr Geldmittel für das | |
Studentenaustauschprogramm Erasmus oder den Kampf gegen die | |
Copyrightrichtlinie. | |
„Junge Wähler wollen Resultate sehen und dass Politiker ihre Versprechen | |
halten“, kommentiert Andreas Gustavsson, Chefredakteur der linken | |
Tageszeitung ETC. Sonst sei das Vertrauen schnell weg. „Eine falsche | |
Antwort kann eine verlorene Stimme bedeuten.“ [4][Reinhard Wolff] | |
## Dänemark – grün | |
Bei den 18- bis 29-Jährigen in Dänemark konnte die „Socialistisk | |
Folkeparti“ (Sozialistische Volkspartei) erfolgreicher als jede andere | |
Partei abschneiden. Laut einer Untersuchung des Instituts „Megafon“ haben | |
16 Prozent der Wahlberechtigen aus dieser Altersgruppe der rot-grünen | |
Partei ihre Stimme gegeben. Dicht gefolgt von der „Alternativet“ | |
(„Alternative“), einer weiteren der insgesamt vier zur EU-Wahl angetretenen | |
gelb- und rot-grünen Parteien in Dänemark. Zusammen sind sie auf nicht | |
weniger als 32 Prozent aller Stimmen gekommen. | |
Damit habe Dänemarks politische Landschaft neben einem roten und einem | |
blauen nun auch einen grünen Block, meint die Tageszeitung Politiken. Der | |
Soziologe Rune Stubager von der Universität Aarhus spricht sogar bereits | |
von einer „grünen Generation“, die er mit der „roten“ 68er Generation | |
vergleicht. | |
Einer aus dieser „grünen Generation“ ist der 18-jährige Christian Bronum, | |
der bei der dänischen Parlamentswahl am kommenden Mittwoch zwar für die | |
sozialliberalen „Radikalen“ stimmen will, sich bei der Europawahl aber | |
wegen der Klimapolitik für die „Alternative“ entschied, weil diese „als | |
Einzige mit wirklich konkreten Vorschlägen kam, wie man das Klima retten | |
kann“. Auch die 19-jährige Agneta Jensen „splittet“ wegen des Klimathema… | |
Bei der Europawahl stimmte sie für eine „Klimapartei“, bei der nationalen | |
Wahl soll es eine Partei werden, die ihr in den Bereichen Bildung und | |
Sozialpolitik am nächsten steht. | |
Für die Sozialistische Volkspartei bedeutet das gute Abschneiden, dass sie | |
im EU-Parlament einen Rekord aufstellen wird: Als eine ihrer beiden | |
Abgeordneten und jüngste EU-Abgeordnete aller Zeiten wurde die 21-jährige | |
Studentin Kira Marie Peter-Hansen gewählt. [5][Reinhard Wolff] | |
## Ungarn – liberal | |
In Ungarn gibt es keine auf das Wahlalter bezogenen Erhebungen, deshalb | |
sind Aussagen über das Wahlverhalten der Jugendlichen schwierig und müssen | |
aus den Umfragen im Land abgeleitet werden. In diesem Zusammenhang ist | |
interessant, wie viele Stimmen die neu gegründete Partei Momentum erhalten | |
hat. | |
[6][Neben Viktor Orbáns Partei Fidesz], die – Ironie der Geschichte – für | |
die Abkürzung Bund Junger Demokraten steht, hat sich in den letzten Monaten | |
die neue politische Partei etabliert. Ihre Kernforderungen: Künftig sollen | |
EU-Gelder nur noch für Gesundheit, Bildung und die Schaffung von | |
Arbeitsplätzen ausgegeben werden. Derzeit fließt das Geld vorwiegend in die | |
Infrastruktur und Prestigebauten. | |
Momentum erhielt aus dem Stand 10 Prozent der Stimmen bei der Wahl zum | |
Europäischen Parlament. Zwei junge Frauen ziehen damit nach Brüssel, Anna | |
Donárh ist 32, Katalin Cseh 30 Jahre alt. | |
Der Erfolg der Newcomer dürfte zu einem großen Teil den jungen Wählerinnen | |
und Wählern zu verdanken sein. Denn unter den Studierenden, das geht aus | |
einer Umfrage im Vorfeld der Wahlen hervor, sympathisierte ein Drittel mit | |
ihnen. | |
Wie einst Fidesz, so ist auch Momentum liberal ausgerichtet, die Partei | |
gehört der Gruppe ALDE an, verbündet sich also mit der Partei Macrons und | |
der FDP. | |
Momentum konnte auch deshalb so schnell wachsen, weil es neutral genug ist, | |
den moderaten Teil der rechtsextremen Jobbik für sich zu gewinnen. Das sagt | |
deren Parteichef András Fekete-Győr selbst. | |
Bei der Europawahl hat Momentum zudem viele Stimmen von den älteren Wählern | |
bekommen. „Die Jungen sollen es bitte richten“, ist deren Haltung. Momentum | |
indes muss noch zeigen, dass es mehr hat als nur den Willen zur Macht. | |
[7][Gergely Márton] | |
## Frankreich – grün | |
Dass in Frankreich die Grünen von Europe-Écologie (EELV) mit 13,5 Prozent | |
die drittstärkste Partei geworden sind, haben sie den jungen WählerInnen zu | |
verdanken. Von den 18- bis 24-Jährigen haben laut der Studie des | |
Meinungsforschungsinstituts Ipsos 25 Prozent und von den 25- bis | |
34-Jährigen sogar 28 Prozent die Klimapartei gewählt. Im Vergleich dazu | |
fanden die beiden Listen, die deutlich an der Spitze liegen, Macrons | |
Renaissance und Marine Le Pens Rassemblement national, bei den Jüngeren | |
weniger Anklang: Von den 18- bis 24-Jährigen stimmten 12 Prozent für Macron | |
und 15 Prozent für Le Pen. | |
Eine spontane Tendenzwende? Noch 2014 hatten 30 Prozent der 18- bis | |
34-Jährigen für die Rechtsextremisten gestimmt. Obwohl längst bekannt war, | |
dass die jüngeren Generation sich deutlich mehr Sorgen um die Umwelt, die | |
Biodiversität und den Klimawandel macht, hat das Ergebnis am Wahlabend | |
zunächst überrascht. Mit der stärkeren Beteiligung hatten die wenigsten | |
gerechnet. Neu ist nämlich, dass viel mehr junge Stimmberechtigte an dieser | |
EU-Wahl teilnahmen: Im Vergleich zu 2014 waren es bei den 18- bis | |
24-Jährigen 15 Prozent mehr. Sie haben für die Grünen den Ausschlag | |
gegeben. | |
Doch was wollen sie damit zum Ausdruck bringen? Der Politologe Daniel Boy | |
vom Forschungszentrum Cevipof meint, die Jungwähler*innen wählten grün, | |
weil sie sofortige Aktion wollen und das von den Grünen erwarten. Die | |
reinen Ideen und Ideologien interessierten sie weniger. Umweltideen haben | |
auch andere Parteien, aber von den Grünen erhoffen sie sich, dass die | |
wirklich etwas in dieser Richtung tun. [8][Rudolf Balmer] | |
## Italien – rechts | |
Die Europawahlen beschert Italien Innenministers Matteo Salvini einen | |
Erdrutschsieg. Seine rechtspopulistische, aggressiv nationalistische | |
(„Italiener zuerst!“) und fremdenfeindliche Lega erhielt insgesamt gut 34 | |
Prozent. Damit verdoppelte seine Partei ihren Stimmenanteil verglichen mit | |
den nationalen Parlamentswahlen vom März 2018. Verlierer dagegen sind | |
[9][Salvinis Koalitionspartner vom populistischen Movimento5Stelle] (M5S, | |
5-Sterne-Bewegung), die bei den Europawahlen bei nur noch 17 Prozent | |
landeten, während sie vor einem Jahr noch fast 33 Prozent geholt hatten. | |
Noch deutlicher fällt diese radikale Trendwende bei den Jungwählern aus. | |
Dem Meinungsforschungsinstitut SWG zufolge stimmten 38 Prozent der | |
Erstwähler für die Lega, die damit gegenüber den nationalen Wahlen von 2018 | |
bei Erstwählern um 21 Prozentpunkte zulegen konnte. Noch im letzten Jahr | |
hatten gerade die jüngsten Wähler den Fünf Sternen mit 41 Prozent einen | |
riesigen Erfolg beschert. Diese Mal dagegen stürzte das M5S auf 16 Prozent | |
ab. | |
Ansonsten war der Gewinner unter den jüngsten Wählern die Liste „+Europa“, | |
die mit ihrem emphatischen Bekenntnis zur EU immerhin 7 Prozent holen | |
konnte – unter der gesamten Wählerschaft dagegen reichte es bloß für 3 | |
Prozent, womit die Liste den Einzug ins Europaparlament verpasste. | |
Der Triumph der Lega unter Italiens jungen Menschen überrascht nicht: | |
Italiens Jugend ist die in Europa, die sich am wenigsten links | |
positioniert, egal ob es um Rechte für Homosexuelle oder um Migranten geht. | |
Nach einer Erhebung des Instituts PEW Research sehen zwischen 70 und 80 | |
Prozent der 18- bis 29-Jährigen in Frankreich, Spanien, Deutschland oder | |
Großbritannien Einwanderung positiv. In Italien dagegen sind es bloß 50 | |
Prozent. [10][Michael Braun] | |
1 Jun 2019 | |
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