# taz.de -- Essay Osteuropa: Einfach mal hinfahren | |
> Viele Deutsche wissen zu wenig über osteuropäische Gesellschaften. Sie | |
> haben es bisher nicht geschafft, die Länder als gleichberechtigt | |
> wahrzunehmen. | |
Bild: Frauen demonstrieren in Gdansk für die Wiederwahl von Donald Tusk als Eu… | |
Als mein Arbeitgeber 1998 beschloss, mich nach Polen zu versetzen, begann | |
für mich ein politisches Bildungserlebnis, das 16 Jahre dauern und mich zu | |
einem zeitweiligen Bürger von Krakau, später von Bratislava, Tbilissi und | |
Minsk machen sollte. Es ist für meine Generation eher untypisch. Meine | |
neuen Freunde und Freundinnen übernahmen es, mich, das in die Jahre | |
gekommene Kind von Marx und Coca-Cola, zu einem überzeugten Westler, | |
Atlantiker und American liberal umzuarbeiten. | |
In Polen trat mir die bürgerliche Demokratie (eine Staatsform, die für mich | |
jahrzehntelang wie Horst Ehmke oder Helmut Kohl ausgesehen hatte) in | |
Gestalt des ehemaligen Dissidenten und heutigen Verlegers und elder | |
statesman Adam Michnik entgegen, einer der coolsten Menschen, die mir je | |
begegnet sind. | |
Auch die Europäische Union sieht für mich cooler aus, seit ich im | |
verschneiten Januar 1999 nach Krakau gekommen bin. Ich sehe sie nun mit | |
mitteleuropäischen Augen. Wenn ich meine eigene Skepsis von der | |
Notwendigkeit der EU überzeugen will, führe ich mir nicht den | |
politisch-ästhetischen Habitus von Ska Keller, Martin Schulz oder Robert | |
Menasse vor Augen. | |
Ich denke auch nicht an die autoritären Kleptokraten, die in einigen | |
östlichen Nachbarstaaten derzeit Wahlerfolge erzielen. Wert und Wichtigkeit | |
der EU erscheinen mir in der literarischen Imago von romantischen Dichtern | |
und Revolutionären wie Adam Mickiewicz oder Tadeusz Kościuszko. Oder in der | |
Gestalt des Nobelpreisträgers Czesław Miłosz, der Schriftsteller Ryszard | |
Krynicki und Adam Zagajewski, der Literaturwissenschaftlerin Maria Janion. | |
## Immer ging es um die Freiheit | |
Es ist nicht ausgemacht, dass die EU nicht bald wieder so aussehen wird wie | |
diese polnischen Mentoren und Idealfiguren meiner Westbindung. | |
Mittelosteuropa ist die Weltgegend der longue durée de la démocratie. „Für | |
unsere Freiheit und eure!“ Der Slogan aus dem neunzehnten Jahrhundert | |
könnte in den nächsten Jahren ein Bündnis der EU mit den vielerorts sehr | |
starken liberalen Zivilgesellschaften in Mittelosteuropa inspirieren. | |
Diesem Bündnis würden auch die autoritären Kleptokraten auf Dauer nicht | |
standhalten. | |
Es gibt genügend historische Beispiele für ein solches Bündnis. Die | |
romantisch erfolglosen Aufstände der polnischen Nation gegen das | |
autokratische Zarenreich sind in den „Polenliedern“ Herweghs, Platens, | |
Freiligraths, Uhlands ebenso wie in den poetischen Selbstbeschreibungen der | |
Polen als ein mythischer Opfergang zur Erlösung ganz Europas gefeiert | |
worden. | |
Auch bei der Achtziger-Jahre-Begeisterung für „Mitteleuropa“ ging es immer | |
um die Freiheit des ganzen Kontinents. „Die mitteleuropäische Idee bedeutet | |
die blühende Vielfalt der Bestandteile, des Selbstbewusstseins der | |
Diversität“, schrieb György Konrád 1985. „Der Weg zu Europa und zur weit… | |
Welt führt über Mitteleuropa.“ | |
Für diese östliche Sicht auf Europa sind westdeutsche Linke und Liberale | |
unglücklicherweise blind, weil sie die derzeitigen Regierungen Polens oder | |
Ungarns für das eigentliche, sein wahres Gesicht zeigende Mittelosteuropa | |
halten (als könnten die Polen und Ungarn diese Regierungen nicht auch | |
wieder abwählen). Und weil ihnen das Gefühl dafür fehlt, dass die | |
osteuropäische Demokratie nicht erst seit gestern bedroht ist – vor allem | |
durch den übermächtigen russischen Nachbarn. | |
## Die Ukraine als instabile Gesteinsformation | |
Menschen, die vor Jahrzehnten für die antiimperialistische Revolution und | |
den Sieg im Volkskrieg in Kambodscha, Laos und Vietnam auf die Straße | |
gingen, sind ohne Sensibilität dafür, dass in Kiew 2013/14 eine | |
antiimperialistische Revolution stattgefunden hat – die weltgeschichtlich | |
erste unter der blauen Europafahne – und dass der [1][Krieg im Donbass] für | |
die Ukrainer ein Volkskrieg ist, für den in Lemberg auf den Straßen Geld | |
gesammelt wird und für den Freiwillige in Kiew ihr Studium an den Nagel | |
hängen. | |
Wie in den Jahren der Solidarność ist die linke und liberale Empathie in | |
Deutschland oft eher auf der russischen als auf der mittelosteuropäischen | |
Seite. Ein verbreitetes Narrativ im Westen erklärt die spätestens seit dem | |
Krieg gegen Georgien 2008 unübersehbare weltpolitische Aggressivität der | |
Russischen Föderation mit einer angeblichen Provokation durch die | |
Nato-Osterweiterung. Mit der verbalen Unterstützung des Euromaidan 2013/14 | |
habe diese Provokationspolitik ihren Höhepunkt erlebt. | |
Der zu Beginn von Putins Amtszeit friedensbereite russische Bär sei durch | |
eine dichte Folge von Nadelstichen vom Westen dazu getrieben worden, die | |
Krim zu besetzen, in der Ostukraine mörderischen Unfrieden zu stiften und | |
20 Prozent des georgischen Staatsgebiets okkupiert zu halten. | |
„Eine rabiat antirussische Ukraine musste damit rechnen, dass am östlichen | |
und südlichen Rand etwas abbröckelt“, schrieb zum Beispiel der ehemalige | |
Bundesminister und langjährig führende SPD-Politiker Erhard Eppler 2015. | |
Imperiale Politik bekommt in dieser Sichtweise etwas erdgeschichtlich | |
Zwangsläufiges. Die Ukraine erscheint als eine instabile | |
Gesteinsformation. | |
Dieses Russland- und Mitteleuropanarrativ ist auf dem langen Marsch der | |
Achtundsechziger-Generation durch die politischen Institutionen entstanden. | |
Seine Exponenten verwechseln 2019 mit 1970. Sie missverstehen die | |
expansive, risikobereite Russische Föderation der Gegenwart als im Prinzip | |
dasselbe Land wie die Sowjetunion der späten sechziger und frühen siebziger | |
Jahre, die aber ein defensives, konservatives, an westlicher Kooperation | |
dringend interessiertes Staatswesen war. | |
Diese Verwechslung prägt noch Konzeptionen wie diejenige der FDP, die sich | |
auf das Erbe Genschers beruft, wenn sie den Krimkonflikt „einklammern“ | |
will. Es ist aber ein Unterschied, ob man einer zunehmend ratlosen | |
Großmacht vom Gipfel einer unhaltbar gewordenen Weltmachtstellung | |
herunterhelfen muss oder ob man einer aufstrebenden Regionalmacht ihre | |
völkerrechtswidrigen Übergiffe nachsieht und sie damit noch aggressiver | |
macht. | |
Viele an Politik interessierte Deutsche befinden sich innerlich noch in | |
ihrer heroisch politisierten Jugend, als die Verständigung mit der | |
Sowjetunion oder der Kampf gegen die Aufstellung westlicher | |
Mittelstreckenraketen die Parole des Tages waren. Auch gebildete | |
Zeitgenossen dieser Generation haben nur ganz nebelhafte Vorstellungen von | |
den Ländern und Gesellschaften zwischen Deutschland und Russland. | |
Dass es in allen mitteleuropäischen Ländern und auch in einigen | |
Sowjetrepubliken ein ausgeprägtes, kulturell reich kodiertes und noch aus | |
dem neunzehnten Jahrhundert stammendes nationales Freiheitsgefühl gibt, | |
konnte man in den siebziger Jahren im Westen nur als reaktionäre | |
Rückständigkeit lesen. Die Eppler-Fraktion hat es bis heute nicht gelernt. | |
Auch mich würde noch täglich das Murmeltier grüßen, wenn mich meine | |
mittelosteuropäischen Freunde und Freundinnen nicht eines Besseren belehrt | |
hätten. | |
## Der EU-müde Westen | |
Das politische Unbewusste meiner Generation hat es offenbar noch nicht | |
geschafft, Länder wie Polen, die Slowakei oder die Ukraine als | |
eigenständige, gleichberechtigte und politisch handlungsfähige Staaten | |
wahrzunehmen. Es fühlt politisch, ohne sich dessen bewusst zu sein, in den | |
Kategorien einer „Völkerrechtlichen Großraumordnung mit Interventionsverbot | |
für raumfremde Mächte“, wie ein Aufsatz Carl Schmitts von 1941 heißt. | |
Die Nato hat sich nicht Polen und das Baltikum einverleibt, sondern diese | |
Länder haben, vertreten durch ihre frei gewählten Regierungen, um Aufnahme | |
in das Verteidigungsbündnis ersucht und die für eine Aufnahme notwendigen | |
Bedingungen erfüllt. | |
Die Vorstellung, dass ihnen die Nato mit Rücksicht auf Russland eine | |
Mitgliedschaft hätte verweigern sollen, verkennt das grundlegende Prinzip | |
des demokratischen Völkerrechts, dass Länder ihre Bündniszugehörigkeit frei | |
wählen dürfen. Und dass sie schon Gründe dafür haben werden, Putins Projekt | |
einer Wiederherstellung der Sowjetunion in den Grenzen von 1989 zu | |
fürchten. | |
Wie kann sich der EU-müde Westen mit den mittelosteuropäischen | |
Freiheitstraditionen wieder in Kontakt bringen? Es würde schon helfen, | |
einfach mal hinzufahren. Oder eine oder einen der Zehntausenden von Polen, | |
Ungarinnen, Tschechen oder Georgierinnen, die in Deutschland leben, | |
persönlich kennenzulernen. | |
„Heute verbinden uns die zivilen Netze stärker als alle Abkommen, die Sie | |
hier in Brüssel aushandeln“, heißt es in Hans Magnus Enzensbergers | |
kritischer Ode an die EU. „Millionen von Fäden schaffen Interdependenzen, | |
die sich Ihrer Kontrolle entziehen und die Sie weder knüpfen noch zerreißen | |
können.“ Diese zivilgesellschaftlichen Rhizome kräftig über die unsichtbar | |
immer noch wirksame Oder-Neiße-Linie wuchern zu lassen – das ist 30 Jahre | |
nach 1989 immer noch die Aufgabe. | |
10 May 2019 | |
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## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
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