# taz.de -- Präsidentschaftswahl in der Ukraine: Jetzt ist alles möglich | |
> Mit einem überragenden Wahlergebnis gewinnt der unerfahrene Komiker | |
> Wolodimir Selenski. Und verbreitet Euphorie und Hoffnung auf Wandel. | |
Bild: Erst Komiker, bald Präsident: Wolodimir Selenski | |
Kiew taz | „Wer wird nun Chef der Komikergruppe Quartal 95?“, fragt eine | |
Frau ihre Nachbarin. Sie sorgt sich um die Truppe, denn ihr bisheriger | |
Chef, Wolodimir Selenski, könne ja als Präsident des Landes nicht mehr in | |
der Show auftreten. | |
Es ist Sonntagnachmittag, nur wenige Hundert Meter vom ukrainischen | |
Parlament in Kiew entfernt. Hier, ins Kongresszentrum Parkowi, auf dessen | |
Dach der ehemalige Präsident Janukowitsch einst für sich einen | |
Hubschrauberlandeplatz hatte bauen lassen und das seitdem Symbol korrupter | |
Herrschaft ist, hat der Stab von Präsidentschaftskandidat Wolodimir | |
Selenski Journalisten und Freunde zur Wahlparty eingeladen. Niemand in | |
diesem Raum zweifelt jetzt, wenige Stunden vor Schließung der Wahllokale, | |
an einem Sieg von „ZE“, wie sie Selenski nennen. | |
Kurz vor 20 Uhr öffnet sich die Tür eines Seiteneingangs, und eine Gruppe | |
sportlicher Männer bahnt sich schnellen Schrittes den Weg zur Bühne. In | |
ihrer Mitte ein kleiner, schmächtiger Mann: Präsidentschaftskandidat | |
Selenski. Er ist sich seines Sieges sicher, sonst hätte er den Saal, in | |
dem bei stickiger Luft, kostenlosem Rotwein und anderen Getränken, Anhänger | |
und Journalisten auf ihn warten, nicht schon vor Schließung der Wahllokale | |
betreten. Wenige Sekunden vor 20 Uhr wird es plötzlich ganz still im Saal. | |
Man wartet gespannt auf die ersten Hochrechnungen. Und dann die erlösende | |
Zahl: 73 Prozent für den Kandidaten Selenski. Die meisten jubeln, viele | |
Journalisten vergessen ihre Neutralitätspflicht, klatschen ebenfalls mit. | |
In einer kurzen Rede bedankt sich [1][der frisch gewählte Präsident] der | |
Ukraine bei seiner Familie. „Ich verspreche euch, euch alle niemals zu | |
betrügen“, fährt Selenski fort. „Und solange ich noch nicht offiziell | |
Präsident der Ukraine bin, kann ich allen Bürgern der ehemaligen | |
Sowjetrepubliken sagen: Schaut auf uns – alles ist möglich.“ | |
## Liberal und demokratisch eingestellt | |
Einer der geladenen Gäste ist Ilja Ponomarjow. Er ist russischer | |
Staatsbürger und war 2014 der einzige Abgeordnete im russischen Parlament, | |
der gegen die Annexion der Krim gestimmt hat. Er stimmt Selenski zu: „Die | |
Abwahl eines Vertreters der alten Elite, das hat es bisher nur in Georgien, | |
in Armenien und im Baltikum gegeben. Doch diese Länder sind klein im | |
Vergleich zur Ukraine. Das wird eine große Auswirkung auf die anderen | |
Republiken der früheren Sowjetunion haben. Was wir heute sehen, ist eine | |
sehr erfreuliche Entwicklung.“ | |
Es sei nicht klar, wie der neue Präsident ohne eigene Hausmacht im | |
Parlament mit diesem zusammenarbeiten wird. „Doch die Niederlage von | |
Poroschenko war so vernichtend, dass nun das gesamte politische Leben | |
erneuert wird.“ Das gesamte Umfeld von Poroschenko sei dadurch | |
demoralisiert. Die „Volksfront“, derzeit noch Regierungspartei, werde nach | |
den nächsten Wahlen mit Sicherheit nicht mehr vertreten sein. „Ich weiß | |
nicht, was kommt. Aber eines ist sicher. Uns stehen radikale Veränderungen | |
ins Haus“, so Ponomarjow zur taz. „Einige Abgeordnete sind so liberal und | |
demokratisch eingestellt wie Wolodimir Selenski. Und mit diesen | |
Abgeordneten werden wir bald eine eigene Gruppe im Parlament haben“, gibt | |
sich Ruslan Rjaboschapka, ehemaliger stellvertretender Justizminister und | |
Weggefährte von Selenski, gegenüber der taz zuversichtlich. | |
In seiner ersten Pressekonferenz nach der Wahl erklärte Selenski auch, wie | |
er in Zukunft das Verhältnis der Ukraine zu Russland gestalten wolle. Man | |
müsse den Minsker Friedensprozess neu beleben. Dafür sei neues Personal | |
erforderlich. Oberste Priorität habe ein funktionierender Waffenstillstand | |
und die Freilassung aller ukrainischen Kriegsgefangenen. „Ich werde alles | |
dafür tun, dass unsere Seeleute wieder nach Hause kommen“, sagte er über | |
die am 25. November von Russland in der Meerenge von Kertsch festgenommenen | |
Seeleute. | |
Zur Beendigung des Krieges im Donbass kündigte Selenski einen „großen | |
Informationskrieg“ an. Man habe etwas vor, wofür man die Hilfe der Presse | |
brauche. Und dazu werde man alle ukrainischen Journalisten einladen, sagte | |
er. Und er gab eine Personalie bekannt: Generalstaatsanwalt Juri Luzenko | |
werde er entlassen. Als „Mann der alten Mannschaft“, wie es Selenski | |
formulierte, hatte Luzenko auf dem Nominierungsparteitag von Poroschenko | |
eine Rede gehalten und sich damit illegitimerweise in die Parteipolitik | |
eingemischt. | |
## Die Bürger stärker einbinden | |
Eine weitere Ankündigung, diesmal von Ruslan Stepantschuk, „Ideologe“ des | |
Selenski-Teams: Künftig solle das Volk in den Entscheidungsprozess stärker | |
einbezogen werden, so Stepantschuk gegenüber der taz. Man wolle auf diese | |
Weisre unter anderem die Durchführung von Referenden erleichtern. | |
Selenskis Wahlsieg waren erbitterte Tage vorangegangen. Wenige Tage vor dem | |
Sonntag war bekannt geworden, dass die Frau von Selenski, Elena Selenskaja, | |
in die Datenbank „Mirotworez“ eingetragen worden war, eine im Internet frei | |
zugängliche Liste von angeblichen Separatisten. Selenskaja hatte 2014 auf | |
Facebook ukrainische Truppenbewegungen veröffentlicht, weshalb sie nun | |
verdächtigt wird, Militärgeheimnisse verraten zu haben. Zwei der von | |
Mirotworez geführten „Separatisten“, Oles Busina und Oleg Kalaschnikow, | |
waren 2015 ermordet worden. | |
Und: Noch bis tief in die Nacht zum Sonntag verhandelte ein Kiewer Gericht | |
über die Klage des Anwalts Andrei Chilko. Dieser wollte Selenski von der | |
Wahlliste streichen lassen, habe dieser doch angeblich Eintrittskarten für | |
die Kandidatendebatte im Olympiastadion kostenlos ausgeben lassen. Am | |
frühen Morgen entschied das Gericht, Selenski nicht zu streichen. | |
Auf dem Maidan war es am späten Sonntagabend ruhig. Bei einem knappen | |
Ergebnis hätte es auch anders aussehen können. | |
22 Apr 2019 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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