# taz.de -- Kommentar Stichwahl Ukraine: Schluss mit lustig | |
> In der Ukraine geht es um mehr als das Rennen zwischen einem Komiker und | |
> einem Oligarchen. Es geht um Demokratie. | |
Bild: Kiew, 31. März. Aus dieser Wahl gingen Selenski und Amtsinhaber Porosche… | |
In der Ukraine könnte am 21. April 2019 Schluss mit lustig sein. Dann | |
treffen in der [1][Stichwahl] für den Posten des Präsidenten der TV-Komiker | |
Wolodimir Selenski und Amtsinhaber Petro Poroschenko aufeinander. | |
Angesichts der Möglichkeit, dass bald ein politischer Quereinsteiger an der | |
Spitze des Staates stehen könnte, reicht die Bandbreite der Reaktionen im | |
In- und Ausland von ungläubigem Staunen bis zu blankem Entsetzen. | |
Wilde Spekulationen vieler Kommentatoren lassen vielfach in den Hintergrund | |
treten, unter welchen erschwerten Bedingungen diese Wahlen stattfinden. | |
Über die 2014 von Russland annektierte Halbinsel Krim redet auf | |
internationalem Parkett fast niemand mehr. Das Minsk-II-Abkommen, das den | |
Weg zu einer friedlichen Lösung des Konflikts im Donbass ebnen sollte, ist | |
mausetot. Stattdessen sind in dem Krieg um die von prorussischen Kämpfern | |
kontrollierten Gebiete Donezk und Lugansk, der nach Angaben der UNO bislang | |
fast 13.000 Menschen das Leben gekostet hat, fast täglich weitere Opfer zu | |
beklagen. | |
Doch so schwierig dieser Kontext auch ist, so wenig taugt er als | |
Rechtfertigung für die zahlreichen Defizite, die auch für diesen | |
Abstimmungsprozess charakteristisch waren. Wieder einmal wurde das sattsam | |
bekannte Programm abgespult: Plumpe Wahlfälschungsversuche, Fake-Bewerber | |
auf den Wahllisten, Missbrauch administrativer Ressourcen durch Poroschenko | |
sowie die fragwürdige Rolle von Medien in Oligarchenhand. | |
Besonders schwer wiegt, dass viele der 1,8 Millionen Binnenflüchtlinge von | |
ihrem Stimmrecht aufgrund bürokratischer Hindernisse keinen Gebrauch machen | |
konnten. Genauso wenig, wie die über zwei Millionen UkrainerInnen in | |
Russland, weil Kiew dafür gesorgt hatte, dass für sie dort keine Wahllokale | |
verfügbar waren. Und dennoch: Die UkrainerInnen haben eine Wahl. | |
## Vorbild Ukraine | |
Das ist, wie ein Blick in die Nachbarländer Weißrussland und Russland | |
zeigt, in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion keineswegs | |
selbstverständlich. Unter der Überschrift „Wir wollen so etwas wie in der | |
Ukraine“, sinnierte der russische Journalist Wladimir Ruwinski in der | |
Zeitung Wedomosti über die TV-Debatten zwischen Kandidaten, die es, anders | |
als in der Ukraine, in Russland nicht gebe. Denn dort stehe der Sieger | |
schon vorher fest. „In der Ukraine gibt es einen echten Wettbewerb“, | |
schreibt Ruwinski. 2017 hat Präsident Wladimir Putin seinen Landsleuten die | |
Frage gestellt: Wollen wir, dass Russland so wie die Ukraine ist? „2019 | |
wäre die Antwort wohl ein überwältigendes Ja.“ | |
Mindestens genauso bemerkenswert wie der Umstand echter Alternativen ist | |
jedoch das Votum der UkrainerInnen. Nehmen wir Noch-Präsident Petro | |
Poroschenko. 2014 hatte er mit 54,7 Prozent der Stimmen bereits im ersten | |
Wahlgang alles klargemacht, am 31. März kam er lediglich auf 16,6 Prozent. | |
Dieses Ergebnis ist ein klare Absage an ein korruptes Oligarchensystem in | |
der Ukraine, für das eben auch Poroschenko steht. Perfekt dazu passte kurz | |
vor dem ersten Wahlgang das Bekanntwerden einer Schmuggel-Affäre um | |
russische Waffen, in die ein enger Vertrauter Poroschenkos verwickelt sein | |
soll. | |
Das magere Ergebnis des Amtsinhabers zeigt aber auch die Unzufriedenheit | |
der WählerInnen mit ihrer wirtschaftlichen Situation, verschleppten | |
Reformen und mit den sich häufenden Angriffen auf Aktivisten und kritische | |
Journalisten. Poroschenkos Wahlslogan lautete „Armee! Sprache! Glaube!“ Der | |
Dreiklang zielte auf die Modernisierung der Streitkräfte, die | |
Privilegierung der ukrainischen Sprache im öffentlichen Raum sowie die | |
Anerkennung der ukrainisch-orthodoxen Kirche durch das ökumenische | |
Patriarchat in Istanbul. Doch die Anbiederung bei den nationalistisch | |
eingestellten WählerInnen verfing nicht. | |
## Mehrheit für EU- und Nato-Beitritt | |
Vielleicht hätte Poroschenko einmal aktuelle Umfragen lesen sollen. Laut | |
einer Erhebung des Internationalen Soziologischen Instituts in Kiew von | |
Mitte März haben 57 Prozent der Befragten eine positive Einstellung | |
gegenüber Russland und 77 Prozent gegenüber den RussInnen. Nur 7,8 Prozent | |
finden, dass die russische Sprache aus dem Bildungssystem verbannt werden | |
soll und 53,5 Prozent lehnen die Entscheidung der Kiewer Regierung ab, | |
russische Medien in der Ukraine zu verbieten. Diese Werte sind nicht nur ob | |
des andauernden Konflikts mit Russland erstaunlich, sondern auch, weil die | |
Mehrheit der Ukrainer für einen Beitritt zur EU und Nato ist. | |
Nicht zuletzt dieser Trend mag eine mögliche Erklärung für den unerwartet | |
klaren Erfolg des Komikers Wolodimir Selenski in der ersten Runde sein. Als | |
frisch, unverbraucht und neues Gesicht in der Politik wahrgenommen, | |
punktete er in allen Landesteilen. Bislang hat der 41-Jährige kein klares | |
Programm, er selbst ist Programm. Doch klar ist, worauf er nicht setzt: auf | |
die „zwei Ukrainen“ – die traditionelle Umschreibung für den angeblich | |
unversöhnlichen Gegensatz zwischen West- und Russlandfixierung – sowie die | |
Dämonisierung äußerer und innerer Feinde der Ukraine. | |
Anstatt die Möglichkeit, in der Gesellschaft Brücken zu bauen, als Chance | |
zu erkennen, arbeiten sich Beobachter in endlosen Risikoanalysen lieber an | |
Selenskis politischer Unerfahrenheit ab. Warum, fragt man sich, soll hier | |
der Grundsatz „learning by doing“ eigentlich nicht gelten? | |
## Die Entwicklung bleibt unvorhersehbar | |
Hinzu kommt, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen Präsident und | |
Parlament seit einer Verfassungsänderung 2014 zugunsten der | |
Abgeordnetenkammer und der Regierung verschoben hat. Dadurch geraten nolens | |
volens die Parlamentswahlen im kommenden Herbst in den Blick. Ihr Ausgang | |
wird maßgeblich mit darüber entscheiden, wie die Weichen in der Ukraine | |
gestellt werden. | |
Und darüber, inwieweit Selenski, der bislang noch über keinen Rückhalt | |
durch eine eigene Partei verfügt, Politik wird gestalten können. Die | |
Entwicklung in der Ukraine bleibt unvorhersehbar. Ist nicht allein schon | |
das ein kleiner Sieg auf dem Weg hin zu einer Demokratie? | |
17 Apr 2019 | |
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[1] /Praesidentschaftswahl-in-der-Ukraine/!5584417 | |
## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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