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# taz.de -- Nahrung in Laos: Die Grenzen des Essbaren
> Rohe Vogelspinnen, Ratte, Salat aus lebenden Shrimps – all das kann man
> in Laos essen. Wer entscheidet, was normal, gesund und ethisch okay ist?
Bild: Schmeckt gegrillt besser als roh, findet unser Autor: Vogelspinne
Es ist für mich durchaus eine Überwindung, die große, haarige Spinne zu
essen. Zumal roh. Aber die Dorfälteste Mae Yai sagt, dass ihr die
Vogelspinnen so am besten schmecken. Also will ich es auch probieren.
Als wir zunächst die Beine des Tieres in den Mund nehmen, fotografieren uns
die mitgereisten Ethnologie-Studierenden aus Bangkok wie wild. Einige von
ihnen reagieren viel angewiderter als ich, der deutsche Soziologiestudent.
Vielleicht wollen sie sich auch abgrenzen von den „primitiven“ Sitten der
thailändischen Landbevölkerung.
So lässig wie Mae Yai bin aber auch ich keineswegs, und rohe Vogelspinne
nehme ich nicht in die Liste meiner Lieblingsspeisen auf. Gegrillt hingegen
schmeckt sie mir vorzüglich. Der herzhafte Hinterleib ist mehlig-weich, die
Beine sind knusprig und der Vorderkörper enthält helles Fleisch, das mich
an Hummer erinnert.
Vor einigen Jahren reiste ich nach Laos und ins kulturell verwandte
Nordostthailand, um allerlei Insekten und anderes für mich Ungewohntes zu
essen – im Namen der Wissenschaft, ich erforschte Nahrungstabus für meine
Bachelorarbeit.
## Ekel kommt bei der Ratte
Als Westeuropäer kann man den Eindruck bekommen, dass die Leute hier vor
nichts zurückschrecken. Von gegrillten Fischen isst man oft als erstes die
intensiv und etwas schlammig schmeckenden Augen. Innereien wie Magenwand
oder auch geronnenes Blut können in vielen Nudelsuppen „auftauchen“. Daran
gewöhne ich mich relativ schnell.
Als ich aber eine Ratte essen will, meldet sich mein ansozialisierter Ekel
zurück, obwohl ich weiß, dass nur „saubere“, in freier Natur aufgewachsene
Tiere gegessen werden. Am Ende freundet sich mein Gaumen halbwegs mit der
Ratte an. Was mich eher stört, ist das bittere Gemüse, in dem wir sie
gekocht haben.
Ebenfalls bitter schmeckt phia. Als ein junger Laote mir und einem Kumpel
diese bräunlich-grüne Sauce anbietet, probieren wir neugierig und fragen,
was das ist. „Young shit from bull“, antwortet er. Wir verstehen nicht
gleich, weil es für uns etwas Undenkbares ist: Es handelt sich tatsächlich
um Dünndarminhalt vom Rind.
## Dancing shrimps direkt aus dem Fluss
Selbst lebendige Tiere werden gegessen. Nördlich der Hauptstadt Vientiane
gibt es ein Ausflugslokal, dessen Sitzflächen sich auf Booten inmitten
eines Flusses befinden. Man kann dort kung ten bestellen. Als ich die
Glocke vorsichtig vom Teller hebe, springen plötzlich kleine Garnelen
heraus und zappeln auf dem Tisch umher. Die fast durchsichtigen „dancing
shrimps“ werden als Salat mit frischen Kräutern, scharfem Chili, Glutamat
und Limettensaft serviert. Kein Wunder, dass sie so panisch sind – das muss
ganz schön brennen. Schnell wieder die Glocke drauf.
Die Sprungkraft lässt mit der Zeit nach, bis der feurig-frische Salat
schließlich zur Ruhe kommt. Endlich kann ich entspannt essen – rein
geschmacklich sehr zu empfehlen. Wenn man es schafft, die Grausamkeit der
Szene zu verdrängen. Auch die rohen Vogelspinnen tötet man übrigens nicht
richtig, sondern reißt ihnen nur die Giftklauen heraus. Sie zucken
teilweise noch beim Verzehr.
Der Blick auf ferne Länder lädt natürlich zum Exotisieren und Moralisieren
ein. Doch wer entscheidet eigentlich, was normal, gesund und ethisch okay
ist – und nach welchen Kriterien?
## Kaum ein Nahrungstabu ist universell gültig
Forscher*innen haben versucht, die krassen Unterschiede zwischen den
Esskulturen theoretisch zu erklären. Von ordinärem Kannibalismus mal
abgesehen, gibt es kaum ein Nahrungstabu, das universell ist. Gleichzeitig
aber wird nirgendwo alles verspeist, was dem Grunde nach essbar ist. Auch
in Thailand und Laos gibt es Grenzen. Beispielsweise sind besonders
bedrohte Arten wie Tiger und Elefanten zunehmend tabu. Viele Laot*innen
finden Käse ekelhaft: Für sie ist das schlecht gewordene Milch.
Der Kulturmaterialist Marvin Harris behauptet, langfristig formten sich
Ernährungsregeln aufgrund ökonomischer und ökologischer Notwendigkeiten. So
erklärt er die Heiligkeit von Kühen in Indien damit, dass die
Überbevölkerung dort langfristig zum sparsameren Vegetarismus zwingt.
Essen Laot*innen demnach Innereien, Fledermäuse und Insekten, weil sie arm
sind? So wie man auch in Deutschland früher jeden Teil eines Tieres
verwertet und auch Insekten und Hund gegessen hat? Ökonomische Faktoren
spielen durchaus eine Rolle. Die Erzählung von den „armen Allesfressern“
ist aber auch ein westliches Vorurteil. Zwar leisten Ameisen, Wasserwanzen
oder Ratten ihren Beitrag zur Nahrungssicherheit in Laos. Aber vor allem
schmecken sie den Leuten einfach. Teilweise handelt es sich sogar um teure
Delikatessen.
Strukturalisten wie Claude Levi-Strauss meinen, dass jede Kultur ihr
eigenes symbolisches Ordnungssystem hat, von dem sich die jeweiligen
Ernährungsregeln ableiten. Edmund Leach argumentiert, dass uns manche Tiere
zu verbunden sind, andere zu fremd – und beide deswegen tabu. Um als essbar
zu gelten, muss ein Lebewesen also die richtige „gefühlte Distanz“ zum
Menschen haben. Und die ist überall anders: Bei uns ist ein Meerschweinchen
niedliches Haustier, in Peru normales Fleisch.
## Mistkäfer isst keiner mehr
Sind Nahrungstabus letztlich willkürlich? Das wäre wohl auch zu einfach.
Kultur und materielle Realität scheinen eher in einem sich stetig
wandelnden Wechselverhältnis zu stehen. So ist Mae Yai die einzige in der
Gegend, die Vogelspinnen noch roh isst. Und sie erzählt, wie sie in
Kindertagen Mistkäfer aß, die von menschlichem Kot leben. Toiletten gab es
noch nicht, man ging in den Wald und gestattete sich dabei gelegentlich
einen Snack. Geschadet hat ihr das nicht. Aber die thailändischen
Ethnolog*innen und Mae Yais Enkel finden die Vorstellung genauso abstoßend
wie ich.
Immer mehr Menschen in dem Dorf essen Spinnen, Mistkäfer oder andere
Insekten heute gar nicht mehr. In Thailand gibt es inzwischen an fast jeder
Ecke Supermärkte, Fast Food wird immer beliebter. Das kann man positiv oder
auch kritisch sehen. Einerseits mag man begrüßen, dass sich moderne Normen
und Hygienestandards durchsetzen. Andererseits wird beklagt, dass die
traditionelle Esskultur verschwindet. Dabei ist Nahrungsglobalisierung
nichts Neues: Chili, für viele Inbegriff asiatischer Küche, wurde erst vor
ein paar Hundert Jahren aus Südamerika importiert.
Eines habe ich bei meinen Forschungen auf jeden Fall gelernt: Wenn ich
etwas ekelhaft oder skurril finde, wirft das vor allem ein Licht auf meine
eigene Esskultur. Denn auch die steckt voller Widersprüche und Tabus. Dass
in Deutschland Schweine in rauen Mengen gegessen werden, der Verzehr von
Hundefleisch aber illegal ist, kann man kaum als logisch bezeichnen.
10 Apr 2019
## AUTOREN
Andrew Müller
## TAGS
Laos
Nahrungstabus
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Ernährung
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Archäologie
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Schweine
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