# taz.de -- Komplizierte Beziehungsgeschichte: Das Schwein auf Augenhöhe | |
> Schweine sind die einzigen Tiere, die wir halten, bloß um sie zu essen. | |
> Sie haben keine Namen. Dabei sind sie uns näher als andere Tiere. | |
Bild: Ist nicht nur unsichtbar, sondern oft auch ein Tabu: das Schwein. | |
Hamburg taz | Mein erstes Schwein sah ich vor zwei Jahren in einem | |
Freilichtmuseum. Vorher habe ich Flachland-Tapire und Nasenbären gesehen, | |
mexikanische Nackthunde im Bus getroffen und Papageien auf den Schultern | |
älterer Damen. Aber keine Schweine. Ich bin damit keine Ausnahme, niemand | |
von uns begegnet heutzutage Schweinen anders als portioniert in einer | |
Kühltheke. Das Schwein ist das unsichtbarste und fremdeste Tier in einer | |
Gesellschaft, die Exoten als Haustiere hält und ihre Nutztiere in die | |
Hinterzimmer abgeschoben hat. Das Schwein behandelt man dort, vielleicht | |
noch auf einer Stufe mit den Hühnern, am erbärmlichsten. Warum? Weil es | |
geht. | |
„Schweine lassen sich zusammenpferchen“, sagt Ulrich von Bonin, der auf dem | |
Arpshof am Rand der Lüneburger Heide für die Schweine zuständig ist. | |
Schweine, sagt Bonin, brauchen weniger Platz für sich allein, sie sind | |
geselliger als etwa Kühe es sind, und wenn er ein Schwein von der Gruppe | |
trennen muss, gibt er ihm immer eines zur Gesellschaft hinzu. | |
Die Leute vom Arpshof haben den Schweinestall selbst gebaut, ein | |
holzverkleideter Bau, an der Seite ist ein überdachter Auslauf, in dem die | |
Schweine im Boden wühlen. Man kann sie schnauben hören in der kalten | |
Wintersonne. Bonin erinnert sich an eines, das sich den Röhrenknochen an | |
der Hüfte gebrochen hatte. „Es hatte solch einen Lebenswillen, dass es zum | |
Futter gerobbt ist“, sagt er. | |
Man steht neben ihm, betrachtet die Schweine und sollte sich dabei sagen: | |
Das ist nicht normal, es ist alles andere als normal. Einen Auslauf auf | |
Erdboden, in dem die Schweine wühlen können, schreiben nicht einmal die | |
strengen, tierwohlfreundlichen Demeter-Richtlinien vor, nach denen die | |
Menschen auf dem Arpshof wirtschaften. Normal wäre es, das deutsche | |
Edelschwein oder die deutsche Landrasse zu sehen, nicht die hintenrum | |
schwarzen Angler Sattelschweine und die schwarz gefleckten Bunten | |
Bentheimer – alte Rassen, die nahezu ausgestorben sind, weil ihr Fleisch | |
den Verbrauchern zu fett wurde. | |
Normal wäre ein Stall, in dem dieser hier nahezu verschwände – „unsere 80 | |
Schweine im Jahr, das ist für die anderen Kindergeburtstag; wir leben nicht | |
von ihnen allein“, sagt Ulrich von Bonin – normal wäre ein Stall, den man | |
nur mit Schutzkleidung betreten dürfte, weil die Tiere optimiert sind: so | |
schnell wachsend wie möglich, der Fettanteil dem aktuellen | |
Verbraucherfetisch folgend, die Stress- und Krankheitsresistenz gerade so | |
hoch, dass sie das Lagerleben bis zur Schlachtung aushalten. Aber, | |
realistisch betrachtet: Auch mit Schutzkleidung kommt man nicht hinein in | |
diese Ställe. Das will aber auch niemand in diesem System, in dem man sich | |
auf Unsichtbarkeit verständigt hat. | |
Es ist sonderbar, selbst der Mann, der ein kulturwissenschaftliches Porträt | |
des Schweins verfasst hat, Thomas Macho, schreibt bereits im Vorwort, dass | |
er nie einen modernen Schlachthof betreten hat. Schweine, so seine These, | |
sind uns zugleich näher und ferner als alle anderen Nutztiere. Macho | |
zitiert Winston Churchill, der gesagt hat: „Ich mag Schweine. Hunde schauen | |
zu uns auf, Katzen schauen auf uns herab. Schweine begegnen uns auf | |
Augenhöhe.“ | |
Was ist uns nahe am Schwein? Sie sind klug, gehören zu den intelligentesten | |
Säugetieren, und in Texten, die zu ihrer Rehabilitierung verfasst werden, | |
kann man lesen, dass sie mehr Kommandos lernen können als Hunde, was | |
nebenbei gesagt als Grundlage für eine Hommage ein wenig trostlos ist. Sie | |
sind kontaktfreudig und verspielt, gelegentlich werden sie sogar als | |
Therapietiere verwandt. | |
Die Autorin Cora Stephan vermutet in ihren „Memoiren einer | |
Schweinezüchterin“, dass gerade die Ähnlichkeit zwischen Mensch und Schwein | |
zu „erbitterter Feindschaft“ geführt hat, statt Grundlage einer engen | |
Freundschaft zu werden. Drastischer hat es Christopher Hitchens in seiner | |
Abrechnung mit den Weltreligionen formuliert: „Das Aussehen des Schweins, | |
der Geschmack des Schweins, die Todesschreie des Schweins erinnerten allzu | |
unangenehm an den Menschen.“ Worauf für Hitchens folgt: „Die Parcophobie �… | |
und die Porcophilie – hat demnach wahrscheinlich ihren Ursprung in der | |
düsteren Zeit der Menschenopfer und sogar des Kannibalismus.“ | |
## Das Schwein ist dem Menschen bloßes Fleisch | |
Aber ist es tatsächlich die Ähnlichkeit? Das Schwein ist das einzige Tier, | |
das der Mensch allein als Nahrungsreserve um sich hat, anders als Pferde, | |
Rinder, Schafe und Hühner, die ihm als Arbeitstiere oder durch die Produkte | |
wertvoll sind, die sie ihm zu ihren Lebzeiten liefern. Das Schwein ist dem | |
Menschen bloßes Fleisch, geboren, um getötet zu werden. Kein Wunder, dass | |
er ihm alles abspricht, was über seine Materialität hinausgeht. Und | |
konsequent, dass er all das, was ihn an seiner eigenen Körperlichkeit | |
beunruhigt, potenziert und vergröbert auf das Schwein projiziert. Das | |
Schwein ist somit Fleisch gewordener Exzess, maßlos in seinem Begehren von | |
Nahrung und Sex. | |
„Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“, hat der Dichter | |
Gottfried Benn geschrieben, da schwingt sie mit, die Selbstverachtung des | |
Menschen in seinem Blick aufs Schwein. Es ist das Tier, das wie kein | |
anderes für Unreinheit steht. Auf einer praktischen Ebene als schmutziges | |
Tier, was der Wirklichkeit nicht standhält – Schweine halten Toilette und | |
Schlafplatz säuberlich getrennt und der Schlammmantel auf ihrer Haut dient | |
als Schutz gegen die Sonne. | |
Doch gerade die Hartnäckigkeit der Zuschreibung zeigt, dass es nicht um | |
Beobachtung, sondern um das Bedürfnis nach Kategorisierung geht. Wer einmal | |
einen Adler dabei gesehen hat, wie er seine Beute in quälender Langsamkeit | |
zu Tode bringt, könnte abrücken vom Bild eines König der Lüfte. | |
Zuschreibungen sagen, das ist nichts Neues, in der Regel mehr über den | |
Zuschreibenden als über das Objekt der Zuschreibung. | |
Viel grundsätzlicher ist die Distanzierung vom Schwein aus religiösen | |
Gründen: Es ist nicht nur das Schlechte, es soll nicht sein. Für jüdische | |
und muslimische Gläubige ist der Verzehr von Schweinefleisch tabu. Die | |
Vorschriften dazu finden sich im 3. Buch Mose: „Ihr sollt für unrein halten | |
das Wildschwein, weil es zwar gespaltene Klauen hat und Paarzeher ist, aber | |
nicht wiederkäut“, und in der 5. Sure des Korans: „Verboten ist euch (der | |
Genuss von) Verendetem, Blut, Schweinefleisch“, begründet wird dies in der | |
6. Sure damit, dass das Schweinefleisch „tatsächlich schmutzig“ sei. | |
Die Versuche, den Speisevorschriften nachträglich eine gesundheitliche | |
Begründung zu liefern, sind eher unergiebig. Im 19. Jahrhundert entdeckte | |
man zwar, dass Trichinose durch den Verzehr von unzureichend gegartem | |
Schweinefleisch hervorgerufen wird. Doch andere Fleischarten bergen | |
vergleichbare oder sogar größere gesundheitliche Risiken: den Bandwurm im | |
ungaren Rindfleisch oder der über Rinder, Schafe und Ziegen übertragene | |
Milzbrand, der vor Einführung des Impfstoffes oft tödlich verlief. | |
## Das Schwein als Tabu | |
Der Anthropologe Marvin Harris hat eine sozialökonomische Begründung für | |
die Speiseverbote entwickelt: Das Schwein sei nicht für das Leben in der | |
heißen Steppe angelegt und daher nicht als Tier für die Nomadenvölker | |
geeignet gewesen. Letzten Endes bleibt aber unklar, warum Koran und Thora | |
das Schweinefleisch mit solchem Nachdruck als unrein brandmarken. | |
Eindeutig ist, wie stark sich das Verbot in das Leben der Gläubigen | |
eingeschrieben hat. Allein die Vorstellung, Fett aus dem Körper des | |
Schweins zu berühren, wird zum Tabu – und der Streit darum zum politischen | |
Kampf. So weigerten sich im 19. Jahrhundert muslimische Soldaten in der | |
britischen Armee in Indien, eine Munition zu verwenden, die angeblich mit | |
Schweinefett eingeschmiert war. Die Meuterei führte zu einem Krieg mit | |
Tausenden von Toten. | |
Aus Perspektive des Schweines könnte man fragen, was besser ist: gar nicht | |
zu existieren, weil keine Nachfrage nach dem Fleisch besteht oder sechs | |
Monate in einem Mastbetrieb zu vegetieren. Die Geringschätzung des Schweins | |
hat ihre Spuren selbst in der landwirtschaftlichen Bürokratie hinterlassen. | |
Der Arpshof-Bauer Ulrich von Bonin begleitet seine Tiere beim Schlachten, | |
er sieht das als Teil seiner Verantwortung für sie. „Der Metzger fragt nach | |
ihrem Namen“, sagt er und man hört, dass das für ihn ein Zeichen | |
ordentlicher Arbeit ist. Aber dann stellt sich heraus, dass es die Rinder | |
sind, die Namen tragen, die Schweine haben nur Nummern. | |
Wenn man dann beim Veterinäramt nachfragt, bestätigt der Mitarbeiter, dass | |
es jährlich ein Schlüsselverzeichnis mit Namensvorschlägen für Kuh- und | |
Bullennamen gibt, nicht aber für die Schweine. Warum? Nur die Eber hießen | |
über Generationen hinweg Paul, sagt der Mann vom Veterinäramt, aber warum | |
es Namen für die Rinder, nicht aber für Schweine gibt, das weiß er auch | |
nicht. Das Schwein verbringt weniger Zeit beim Menschen als das Rind, bevor | |
es geschlachtet wird, sechs Monate statt achtzehn oder zwanzig wie ein | |
Mastbulle. Wenig Zeit also für das Schwein, um auf jene Augenhöhe zu | |
kommen, an die Churchill glaubte. | |
Wahrscheinlich ist es nur folgerichtig, dass in den letzten Jahren parallel | |
zum Verschwinden des Schweins aus der öffentlichen Sicht die Gegenbewegung | |
eingesetzt hat: Einige Biobetriebe setzen auf eine direkte Verbindung | |
zwischen Konsument und Schwein. Die KundInnen können ein Schwein kaufen, so | |
seine artgerechte Haltung finanzieren und nach der Schlachtung erhalten sie | |
das Fleisch. „Meine kleine Farm“, eine Online-Schlachterei aus Berlin, | |
trägt die Idee im Werbeslogan mit sich: „Wir geben Fleisch ein Gesicht“, | |
heißt es auf der Internetseite, daneben steht ein Herz mit Ringelschwanz. | |
Das neueste Projekt heißt „Famous five“ und bietet Interessenten an, für | |
999 Euro eines von fünf Schweinen zu kaufen. Ein Jahr lang erhält man | |
regelmäßig Fotos vom Tier, die Möglichkeit, es auf dem Acker zu besuchen | |
und schließlich das Fleisch sowie „individuell gestaltete Schweinesticker, | |
die deiner Wurst ein Gesicht geben“. | |
## Das Bedürfnis, sich zu informieren | |
„Unser Anspruch ist so viel Transparenz wie möglich“, sagt Pierre Johannes, | |
Politikwissenschaftler, Bauernsohn und derjenige, der das Tagesgeschäft von | |
„Meine kleine Farm“ organisiert. Und: „Es ist ein pädagogisches | |
Pionierstück.“ Es gibt Menschen, die bei ihnen anrufen, weil sie bei einer | |
Schlachtung dabei sein wollen. Nicht aus Voyeurismus, und auch nicht aus | |
Anteilnahme für das Tier, sondern schlicht aus dem Bedürfnis heraus, sich | |
zu informieren, zu wissen, was da vor sich geht, wenn ein Schwein getötet | |
wird. | |
Man kann es erst einmal befremdlich finden, Fotos des Schweins zu sammeln, | |
das man einmal essen wird, ebenso wie das Bedürfnis, zu sehen, zu hören und | |
zu riechen, was Schlachten bedeutet. Die Fotos siedeln in einem | |
Graubereich, wo Marketing, Exklusivität und Pädagogik sich treffen. Und das | |
Informationsbedürfnis, kann man denken, wäre auch an anderen Orten gut | |
aufgehoben: Im Alten- oder Behindertenheim etwa, da wissen auch die | |
wenigsten, was vor sich geht. Aber ist es nicht genau das, was die | |
Mastbetriebe besser sichert als jede Absperrung und jedes Schloss – der | |
Unwille, hinzusehen? | |
Die „Famous five“ waren schnell verkauft. Johannes sagt, dass es einen | |
Markt gibt für Produkte wie ihre: Fleisch von artgerecht gehaltenen Tieren, | |
das seinen Preis hat. Bei ihnen bestellen junge urbane Leute, junge | |
Familien, aber auch ältere Leute, für die die Würste mit Kümmel oder die | |
Mettwurst von „Meiner kleinen Farm“ den Geschmack ihrer Kindheit wachruft. | |
Und doch: „Wir arbeiten in einer Nische“, das sagt Johannes gleich | |
mehrmals. Auf der Internetseite ist zu lesen, dass das Unternehmen nur eine | |
hauptamtliche Stelle trägt – der Rest ist Überzeugungstäterschaft. | |
Weniger als zwei Prozent des in Deutschland gegessenen Schweinefleischs | |
stammt aus Bio-Haltung, die Zahl stagniert. Das normale Schwein bleibt | |
unsichtbar. Aber gelegentlich gelingt ihm die Flucht nach draußen: Es gibt | |
inzwischen wieder Bäuerinnen und Bauern, die ihre Schweine draußen im Wald | |
oder auf dem Feld weiden lassen – so wie es bis in die Moderne hinein | |
üblich war. Die Wahrscheinlichkeit, einen Flachland-Tapir zu sehen, mag | |
größer sein. Aber wer so etwas sieht, wird es nicht vergessen: ein Schwein | |
auf Augenhöhe. | |
24 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
## TAGS | |
Schweine | |
Kulturgeschichte | |
Wurst | |
Tierhaltung | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
Rinder | |
Laos | |
taz.gazete | |
Tierschutz | |
Schweine | |
Landwirtschaft | |
Tierquälerei | |
Tierschutz | |
Landwirtschaft | |
Schweinemast | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Mit Rindern reden: Wer ist hier der Boss? | |
Beim Kuhflüstern lassen sich angeblich natürliche Autorität und | |
Führungsqualitäten trainieren. Unser Autor hat es probiert. | |
Nahrung in Laos: Die Grenzen des Essbaren | |
Rohe Vogelspinnen, Ratte, Salat aus lebenden Shrimps – all das kann man in | |
Laos essen. Wer entscheidet, was normal, gesund und ethisch okay ist? | |
Warum wir lästern: Der Affe im Menschen | |
Üble Nachrede ist beliebt. Sie stärkt den Zusammenhalt und bedient die | |
niederen Instinkte. Glücklich macht das nicht, aber es entspannt das | |
Gehirn. | |
Zu enge Einzelkäfige für Schweine: Lasst die Sau raus! | |
Viele Tiere werden monatelang auf kleinstem Raum eingesperrt. Die | |
zuständigen Landkreise schauen über diesen Rechtsbruch einfach hinweg. | |
Tierschützer über Schweineställe: „Ferkel wurden tot getreten“ | |
Günther Meyer ist Tierschutzaktivist und filmt nachts heimlich die Zustände | |
in Schweineställen. Er glaubt, dass Veterinäre die Augen verschließen. | |
Kommentar Lebewesen und Wurst: Arme Schweine | |
Sauen harren in Kastenständen aus und stehen in Scheißebergen. Daran sind | |
Bauern und Verbraucher beide Schuld, weil sie so ignorant sind. | |
Spanischer Fleischproduzent El Pozo: Wurst von gequälten Schweinen | |
Riesige Abszesse und infizierte Geschwüre: Nach Skandalbildern aus einem | |
spanischem Stall nimmt Rewe die Produkte aus dem Regal. | |
Ringelschwanzprämie auf dem Prüfstand: Arme Schweine | |
In Niedersachsen bekommen Landwirte eine Prämie für Schweine, deren | |
Schwänze weder kupiert noch von Artgenossen abgekaut wurden. Hilft das? | |
Zwang zur Veränderung: Das Sterben der Höfe | |
Die Zahl der Bauernhöfe in Deutschland sinkt stetig – 5.400 weniger waren | |
es im letzten Jahr. Was bedeutet es für die Bauern, wenn sie aufgeben | |
müssen? | |
Schweinemast in Ostbrandenburg: Vorwurf der Tierquälerei | |
Videos der Tierrechtsorganisation Peta zeigen Kadaver und amputierte | |
Ringelschwänze in Güllebecken. Auch das Landesveterinäramt wird kritisiert. |