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# taz.de -- Mit Rindern reden: Wer ist hier der Boss?
> Beim Kuhflüstern lassen sich angeblich natürliche Autorität und
> Führungsqualitäten trainieren. Unser Autor hat es probiert.
Bild: Ob sie auf dieser Weide funktioniert, die „wertschätzende Ansprache au…
Rinder sind wunderbare Tiere. „Alle guten Dinge“, erkannte 1878 schon
Friedrich Nietzsche in einem seiner philosophischen Werke, „haben etwas
Lässiges und liegen wie Kühe auf der Wiese.“ Allerdings fläzen die über
hundert Angusrinder, mit denen ich es an diesem Nachmittag zu tun bekomme,
gerade gar nicht friedlich im Gras. Sie stehen breitbeinig in der
Landschaft und strecken mir den Hintern entgegen. Ob ich als Kuhflüsterer
scheitern werde?
Immerhin hat mich ein Vollprofi auf diese Situation vorbereitet. Wilhelm
Schäkel, ein hochgewachsener Mann Mitte 50, ist kein Stadtmensch wie ich,
sondern auf einem Bauernhof aufgewachsen. 15 Semester Philosophie hat er
studiert – fünfmal länger als ich. Seine Doktorarbeit verfasste er aber in
Agrarwissenschaften. Und seit mehr als zwei Jahrzehnten züchtet er auf der
Bio Ranch in Zempow, knapp 100 Kilometer nordwestlich von Berlin,
Angusrinder. Hirten besuchen seine Workshops ebenso wie Bauern – und
fachfremde Leute wie Managerinnen, Abteilungsleiter sowie andere gestresste
Städter. Schäkel wundert das nicht. „Beim Umgang mit Kühen kann man sehr
viel lernen“, sagt er. Nicht zuletzt über sich selbst.
Wilhelm Schäkel war einer der ersten Kuhflüsterer im deutschsprachigen
Raum. Manchmal wird diese Kunst auch als „Kuh-Kommunikation“ bezeichnet,
vereinzelte Bauern bieten sogar „Kuhkuscheln“ an. Schäkels Workshops sind
von der Methode „Low Stress Stockmanship“ („stressreduzierter Umgang mit
Rindern“) inspiriert, die der US-amerikanische Viehzüchter Bud Williams
entwickelt hat. Williams soll seine Rinder so gut im Griff gehabt haben,
dass er sogar auf Weidezäune verzichten konnte. Bei diesem Ansatz gehe es
nicht nur um das Tierwohl, betont Schäkel. Kuhflüstern diene auch der
Persönlichkeitsbildung: der Entwicklung von Präsenz, natürlicher Autorität
und Führungsqualitäten. „Viele Teilnehmer entdecken verborgene Talente.“
Oft unterrichtet Meister Schäkel Gruppen von etwa zehn Personen. Für diesen
Nachmittag aber war Starkregen vorhergesagt, und so sind wir nur zu dritt:
Schäkel selbst, die Biochemiestudentin Maria aus Leipzig und ich. Zuerst
büffeln wir im Seminarraum Theorie. Schäkel spricht von René Descartes,
dessen philosophisches Erbe seit dem 17. Jahrhundert zu einer „übertrieben
starken Gewichtung des Intellekts“ geführt habe. „Ungünstig für das
Kuhflüstern“, sagt er. Denn dabei sei die sinnliche Wahrnehmung wichtig.
Ums Kuscheln gehe es jedoch nicht, stellt Schäkel klar. „Ihr müsst den
Rindern signalisieren, wer der Boss ist.“ Ziel des Workshops sei „eine
wertschätzende Ansprache, aus der Chefposition heraus“.
## Kühe stoßen mit Vorliebe in die Magengrube
Schäkel skizziert am Flipchart eine Kuh. Die Tiere seien weniger stark auf
optische Signale fixiert als wir, umso wichtiger sei für sie etwa das
Gehör. „Wenn das Ohr einer Kuh zu wackeln beginnt, nimmt sie Kontakt auf.“
Dass Rinder nicht gerade super sehen, wusste ich bereits aus dem Fachbuch
„Kühe verstehen“: Auf visueller Ebene registrieren sie vor allem einfache
Grundmuster, heißt es da. „Ein Stier besteigt ein vor ihm ruhendes
Rechteck, egal ob es ein Gummibock in der Besamungsstation oder eine vor
ihm stehende Kuh ist.“ Es sei daher leichtsinnig, sich vor einem Stier zu
bücken oder den Kopf einzuziehen.
Mit Stieren werden wir es heute zum Glück nicht zu tun kriegen. Allerdings
kommt es auch mit Kühen jedes Jahr zu Tausenden Vorfällen. Einige verlaufen
tödlich. Meist werde es heikel, wenn Mutterkühe ihre Kälber beschützen
wollten. Und die Kühe auf der Trainingsweide haben Nachwuchs.
Zum Glück sind Angusrinder, wie Schäkel sie züchtet, hornlos. Doch der
Kursleiter hat eine schlechte Nachricht: „Das Gefährliche sind in der Regel
nicht die Hörner.“ Geraten Kühe in Rage, dann „stoßen sie mit der Stirn
zu“. Mit Vorliebe in die Magengrube. Beschleichen einen auf einer Kuhweide
Ängste, sei es außerdem – auch wenn kein Stier anwesend sei – wenig
vorteilhaft, sich klein zu machen. Zusammengekauert gleiche das menschliche
Erscheinungsbild aus Sicht der Kühe nämlich dem Körperschema eines Wolfs,
und generell, sagt Schäkel: „Meidet die Raubtiersprache!“ Wozu auch
Umherschleichen oder schnelle, abrupte Drehungen des Kopfes gehören. Kühe
wenden nämlich – anders als Raubtiere – wenn sie ihre Richtung ändern
wollen, in der Regel nicht anfangs nur ihren Kopf, sondern sofort den
ganzen Körper, erfahren wir.
## Gedanken zur Ruhe kommen lassen
Vielleicht am wichtigsten seien beim Kuhflüstern „geerdete, nonverbale
Impulse aus der Körpermitte“, erklärt Wilhelm Schäkel weiter. Gehe man
beispielsweise hinter einer Kuh, in mittlerer Distanz und im rechten Winkel
zu ihr, auf und ab, bedeute das: Bitte, mach ein paar Schritte vorwärts.
Dabei müssten aber Körper und Geist immer in Verbindung bleiben. „Das ganze
Individuum muss im Hier und Jetzt sein. So wie eine Kuh.“
Kühe würden spüren, ob auch wir präsent seien. „Pro Tag gehen Menschen bis
zu 70.000 Gedanken durch den Kopf“, sagt Schäkel. Ein Ziel sei es, diese
Gedanken zur Ruhe kommen zu lassen. Sobald man nämlich zu grübeln beginne,
sei die Präsenz dahin. „Dann verlieren die Tiere oft den Respekt“, sagt
Schäkel. Ende der Theoriestunde.
Zur Trainingsweide fahren wir im Jeep, vorbei an riesigen Getreidefeldern.
Auf einem seiner Workshops sei einer Städterin das Kunststück gelungen, mit
einer Kuh „eine Acht zu gehen“, mitten in der Herde, erzählt Schäkel. „…
anderen Tiere blieben völlig ruhig.“ Wow, denke ich. Das will ich auch
können!
Endlich erblicken wir in der Ferne die ersten Kühe. Meister Schäkel fährt
nun in Zeitlupentempo, kurbelt die Fensterscheibe herunter und ruft die
prächtigen, schwarz oder hellbraun gefärbten Tiere herbei. „Oheee!
Oheeeee!“ Bis auf wenige Meter kommen sie an den Jeep heran, einige muhen
fröhlich. Es sind lauter Mutterkühe mit Kalb, insgesamt rund 120 Tiere.
Beängstigend groß und kräftig. Mit etwas weichen Knien stehe ich kurz
darauf im Gras und blicke zu den halbwilden Kühen hinüber. Doch keine
scheint mir die Stirn in den Magen rammen zu wollen. Im Gegenteil. Sie
haben sich abgewendet und zeigen mir den Hintern. Frechheit.
## Übung macht den Meister
Ein korpulentes Rind mit schwarzem Fell und einem weißen Fleck an der Stirn
liegt etwas abseits. Vielleicht könnte ich mit dieser Kuh üben? So
selbstsicher ich kann, gehe ich hinter ihr auf und ab. Keine Reaktion.
Hm. Ich bleibe stehen, atme tief durch. Traue mich ein bisschen näher an
die Kuh heran, gehe nun kürzere Strecken hinter ihr hin und her: das
klassische Signal zum Aufbruch. Wieder nichts. Hoffentlich ist die Kuh
nicht „versaut“, denke ich. So bezeichnet Schäkel störrische Tiere, die
aufgrund schlechter Behandlung dazu neigen, mit den Hinterbeinen
auszuschlagen.
Noch näher bei der Kuh wage ich das Startsignal erneut – und sie erhebt
sich tatsächlich und spaziert vorwärts. Yes! Ich schmiede Pläne. Die
nächste Kuh soll nicht einfach nur losgehen, sondern sich umdrehen und in
die Gegenrichtung marschieren. Wie im Theorieunterricht besprochen,
versuche ich, dem Rindvieh geerdete Signale aus der Körpermitte zu geben.
Vergeblich. Auch als ich eindringlich mit den Armen rudere, versteht die
Kuh offensichtlich nur Bahnhof. Hilflos blicke ich zu Meister Schäkel
hinüber. „Du bist nur im Kopf“, flüstert er. „Versuch, erst einmal zu
spüren, was gerade passiert.“
## Paartänzer unter Kühen
Ich seufze, reibe mir die Augen, atme ein paar Mal tief durch. Als ich
wieder zu den Tieren gucke, sind sie plötzlich viel weiter weg, mindestens
15 Meter. Dabei hatte ich ihnen das gar nicht befohlen. Machen die einfach,
was sie wollen? „Du hast ein hohes Sicherheitsbedürfnis“, sagt Wilhelm
Schäkel. „Rinder spüren so etwas.“
Später steigt er selbst aus dem Jeep und demonstriert, wie man die Tiere
sanft über die Weide dirigiert. Er bewegt sich dabei wie ein Paartänzer,
denke ich, allerdings mit einigen Metern Abstand zwischen sich und der
jeweiligen Kuh.
Nächste Trainingsrunde: Ich gebe alles, aber Schäkel scheint unzufrieden.
„Selbstbewusster gehen“, raunt er mir vom Rand der Weide zu. „Nicht wieder
schleichen.“ Bei Richtungsänderungen den ganzen Körper zu drehen, sei ja
prima. Aber nicht wie ein Roboter! Ich solle entspannter gehen und den
Blick immer wieder in die Ferne schweifen lassen, über die Köpfe der Kühe
hinweg.
## Impulse aus der Körpermitte
Selbst meine Mitschülerin Maria, die auf mich einen schüchternen Eindruck
machte, kommt mit den Rindern tausendmal besser als ich zurecht und schafft
es, eine ganze Gruppe zielstrebig an den Waldrand zu treiben. Ich bin schon
froh, wenn keines der Tiere zum Kopfstoß ansetzt. Zwei weitere Rinder, die
träge am Rand der Herde im Gras fläzen, kann ich durch meine „Impulse aus
der Körpermitte“ zum Aufstehen bewegen. Wirklich stolz macht mich das
nicht. „Geduld“, sagt Schäkel. „Geduld.“ Zur Königsdisziplin – eine…
gehen mit einer Kuh, mitten in der Herde – trete ich gar nicht erst an.
Als wir zurückfahren, blicke ich aus dem Rückfenster auf die Weide.
Friedlich grasen die Angusrinder im Abendlicht, sogar die Tiere am Rand der
Herde haben nun ihre Ohren gesenkt. Ihre Aufmerksamkeit ist also nicht mehr
bei uns.
Es war ein spannender Tag auf dem Land, und das Wetter viel besser als
befürchtet. Doch habe ich verborgene Talente entdeckt? Um ehrlich zu sein:
Nein. Wahrscheinlich hatte ich ein erstaunlich gutes Gespür, als ich mich
einst für ein Studium der Geschichte entschied – und eben nicht für eine
Laufbahn als Cowboy oder Führungskraft.
30 Jun 2024
## AUTOREN
Till Hein
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