# taz.de -- Zulage an Brennpunkt-Schulen in Berlin: An der Realität vorbei | |
> Lehrer*innen in Neukölln-Britz protestieren gegen die Brennpunktzulage | |
> des Senats, weil ihre Schule trotz vieler Gewaltvorfälle leer ausgeht | |
Bild: Am der sportbetonten Oberschule Otto-Hahn lernte etwa Fußballnationalspi… | |
Berlin taz | Ab dem 1. März bekommen Lehrer*innen und Erzieher*innen an | |
sogenannten Brennpunktschulen erstmals mehr Geld. 300 Euro monatlich | |
rückwirkend bis August 2018 gibt der Senat zusätzlich aus – auch damit mehr | |
voll ausgebildete Lehrkräfte sich für Jobs an Schulen mit vielfältigen | |
Problemen entscheiden. Nur leider erreicht die Senatsverwaltung für Bildung | |
von Sandra Scheeres (SPD) in der jetzigen Ausgestaltung der | |
„Brennpunktzulage“ teilweise das Gegenteil. Das wird deutlich, wenn man | |
sich anschaut, wie die Zulage in der Neuköllner Realität ankommt. | |
Die Otto-Hahn-Schule in Britz, an der viel befahrenen Buschkrugallee, passt | |
eigentlich ins Anforderungsprofil: Es ist eine Sekundarschule, an der | |
Schüler*innen alle Abschlüsse machen können. In der Realität klappt das | |
nicht immer so gut: Im vergangenen Schuljahr haben dort laut Kollegium 15 | |
von 135 Schüler*innen die Berufsschulreife (den qualifizierten | |
Hauptschulabschluss) geschafft – eine Quote von elf Prozent. | |
Lehrer*innen berichten von überdurchschnittlich vielen Gewaltvorfällen, die | |
regelmäßig Jahrgangskonferenzen und Disziplinarmaßnahmen nach sich ziehen. | |
Vor Kurzem sei einer Lehrerin zweimal ins Gesicht geschlagen worden, | |
nachdem sie ein Handy einkassieren wollte. Der Definition nach ist die | |
Otto-Hahn also eine Schule, die in jedem Fall von der Zulage profitieren | |
muss. Oder? | |
Tut sie aber nicht. Denn ob eine Schule die Zulage bekommt, hängt nicht von | |
der [1][öffentlich einsehbaren Abschlussquote] ab oder der Anzahl der | |
Gewaltvorfälle, sondern allein von der Berlin-Pass-Quote – also der Anzahl | |
der Schüler*innen, die eine Lernmittelbefreiung haben und alle drei Monate | |
ihre Karten dafür beim Jobcenter verlängern und sie dann brav in der Schule | |
vorzeigen. Erst bei einer Schülerschaft, die zu über 80 Prozent von | |
Zuzahlungen bei Lernmaterialien befreit ist, zahlt der Senat. | |
## Doppelbestrafung für Otto-Hahn | |
Gerade an Schulen wie der Otto-Hahn ist das aber nicht so einfach mit dem | |
Berlin-Pass. Einige Eltern seien nicht zu erreichen und erschienen nicht | |
mal zum Elternsprechtag, wie Lehrer*innen berichten. Die Quote sei also für | |
die Otto-Hahn nicht unbedingt aussagekräftig. Schüler brächten auch nach | |
der fünften und sechsten Aufforderung den Berlin-Pass nicht in die Schule | |
mit. Kurzum kommt die Otto-Hahn-Schule „nur“ auf eine Quote von etwa 75 | |
Prozent. | |
So wird die eigentlich gut gemeinte Zulage zur Doppelbestrafung für die | |
Otto-Hahn. Denn das nahe gelegene Ernst-Abbe-Gymnasium mit einer höheren | |
Berlin-Pass-Quote, aber deutlich besseren Abschlussstatistiken ([2][96 | |
Prozent haben 2018 ihr Abitur dort geschafft]) bekommt sie. Das heißt für | |
das Kollegium der Otto-Hahn zum einen, dass neue engagierte Lehrer*innen, | |
die sich bewusst entscheiden, an einer herausfordernden Schule in Neukölln | |
zu arbeiten, sich im Zweifel wohl für 300 Euro mehr und das Gymnasium | |
entscheiden als für die Otto-Hahn-Schule. | |
Im Kollegium der Otto-Hahn rumort es, seitdem die geplante Umsetzung | |
bekannt ist. Einen Brief des Kollegiums ließ die Behörde unbeantwortet. | |
Daraufhin haben nun große Teile des Kollegiums [3][aus Protest ihre | |
Versetzung beantragt] – an ein richtiges „Brennpunktgymnasium“. | |
Im Gespräch nach einem langen Schultag und einer Jahrgangskonferenz nach | |
dem jüngsten Gewaltvorfall bis in die Abendstunden finden drei Lehrer*innen | |
um halb sechs Uhr abends trotzdem noch Zeit für ein Treffen. „Die Umsetzung | |
der Brennpunktzulage ist wie ein Schlag ins Gesicht für alle, die an | |
unserer und anderen Schulen arbeiten, die kurz unter der Grenze liegen“, | |
sagt Rebecca Holewa, die Englisch und Französisch unterrichtet. Die | |
Festlegung auf die 80 Prozent sei willkürlich. | |
„Darüber hinaus finde ich es auch schwierig, Leute mit Berlin-Pass weiter | |
zu stigmatisieren“, sagt Holewa. „Die Schüler*innen wissen ohnehin um den | |
Ruf ihrer Schule, die kommen hier schon mit einem Päckchen an. Ich finde es | |
politisch problematisch, arme mit schwierigen Schüler*innen | |
gleichzusetzen.“ Eine Sozialstrukturanalyse oder zumindest mehrere | |
Variablen für eine Bedarfsprüfung wie Abschlussstatistiken oder | |
Gewaltvorfälle wären sinnvoll gewesen, so Holewa. | |
Trotz aller Schwierigkeiten unterrichten alle drei gerne hier: „Das | |
Arbeiten hier kann auch richtig schön sein. Wir kriechen jetzt nicht jeden | |
Morgen her, aber wir haben auch einzelne Schüler, die einem das Leben | |
schwermachen und besondere Herausforderungen an uns stellen“, sagt Deutsch- | |
und Politiklehrer Paul Kirschmann. | |
Obwohl sich die meisten Kolleg*innen zur Entlastung weniger | |
Unterrichtsstunden wünschten, hätten sie dennoch gerne die 300-Euro-Zulage | |
bekommen. Man könnte für das gleiche Gehalt zumindest zwei, drei | |
Unterrichtstunden reduzieren. „Dass ausgerechnet wir jetzt nicht von der | |
Zulage profitieren, fühlt sich an wie eine Bestrafung“, sagt auch Jakob | |
Köbner, Mathe- und Physiklehrer. | |
Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) [4][kritisiert die | |
Zulage]. Problematisch sei vor allem die Schaffung neuer Ungerechtigkeiten, | |
weil Quereinsteiger, die häufig an diesen Schulen arbeiteten, nicht | |
profitierten und auch bei Erzieher*innen die Zulage tariflich problematisch | |
sei. Laut GEW ist die Regelung nicht zu Ende gedacht – die Senatsverwaltung | |
scheine sich über die praktischen Konsequenzen dieser Zulage völlig unklar | |
gewesen zu sein. | |
## Harsche Antwort des Senats | |
Die Antworten der Senatsverwaltung für Bildung auf die Kritik klingen | |
harsch. „Egal für welche Grenze man sich entscheidet, es wird vermutlich | |
immer jemanden geben, der damit nicht einverstanden ist“, teilte die | |
Sprecherin von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD), Iris Brennberger, | |
mit. | |
Warum man überhaupt diese Quote zum Maßstab mache und nicht zusätzlich | |
genauere Kriterien heranziehe? „Man geht bei einem hohen Anteil von | |
Lernmittelbefreiten davon aus, dass diese Schülerinnen und Schüler | |
herausfordernder zu unterrichten und zu betreuen sind als andere.“ Ob man | |
die Grenze dann bei 75, 80 oder 85 ziehe, sei letztlich eine politische | |
Festsetzung. | |
Geld für eine niedrigere Quote sei zudem ohnehin nicht da: Weil die | |
„bereitgestellten Mittel nur für Lehrkräfte an Schulen mit dieser Quote | |
auskömmlich sind“, habe man die „Lernmittelbefreiungsquote bei ,mindestens | |
80 Prozent'“ angelegt. | |
20 Feb 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/berliner-schulen/schulverzeichnis/… | |
[2] https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/berliner-schulen/schulverzeichnis/… | |
[3] /Neukoellner-Otto-Hahn-Schule-wehrt-sich/!5567562 | |
[4] https://www.gew-berlin.de/20310_22067.php | |
## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
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