| # taz.de -- Debatte Sprache und Paragraph 219a: Es gibt kein „ungeborenes Leb… | |
| > Die Sprache von Abtreibungsgegner*innen reduziert Frauen zum Container | |
| > des Embryos. So gerät ihr Recht auf Selbstbestimmung in Gefahr. | |
| Bild: Für ihre Selbstbestimmung müssen Frauen immer noch demonstrieren | |
| Sie sind am Gewinnen. Gegner*innen des Schwangerschaftsabbruchs sind am | |
| Gewinnen. Nicht nur bleibt ihnen, [1][wie die Abstimmung im Kabinett am | |
| Mittwoch zeigte], wohl der unsägliche Paragraf 219a erhalten, es sei denn | |
| die Sozialdemokrat*innen ignorieren den Fraktionszwang. Sonst wird Paragraf | |
| 219a weiterhin dafür sorgen, dass Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch | |
| brauchen, von Pontius zu Pilatus rennen müssen, nur um adäquate | |
| Informationen zum Abbruch zu bekommen. Und auch die Abtreibungsgegner*innen | |
| können ihn weiterhin benutzen, um Ärzte und Ärztinnen, die Abbrüche | |
| anbieten, anzuzeigen. | |
| Nicht nur das also haben die Abtreibungsgegner*innen erreicht, vielmehr | |
| können sie sich auch auf die Fahnen schreiben, dass ihre Phrasen in den | |
| Sprachgebrauch hineingewachsen sind wie Schimmelpilz. | |
| Der Begriff „ungeborenes Leben“ hat sich breit gemacht. Die Wörter | |
| „Lebensschutz“ und „Lebensschützer“ wiederum sind für anderes als die | |
| Abtreibungsdebatte nicht mehr zu gebrauchen. Keine Talk-Show zum Thema, in | |
| der solche Wörter nicht fallen. Leute jeglicher Couleur benutzen sie, ohne | |
| die Hände in die Luft zu strecken und mit Zeige- und Mittelfinger zwei | |
| Häkchen zu machen, soll heißen: alles nur in Anführungsstrichen, jetzt | |
| werden die Abtreibungsgegner*innen selbst zitiert. Auch wird nicht mehr so | |
| oft wie früher das „sogenannt“ vorangestellt. Stattdessen werden die | |
| Begriffe einfach dahergesagt; sie sind griffig, eingängig, anschaulich | |
| auch. | |
| Hier ein paar Beispiele neueren Datums aus deutschen Leitmedien: | |
| – „Wie viel Schutz braucht ungeborenes Leben?“ lautete der Titel [2][einer | |
| Sendung in der ARD.] | |
| – „Hadern Sie manchmal mit der Tatsache, dass Sie bei einem Abbruch ein | |
| ungeborenes Leben beenden?“ [3][fragte ein Journalist auf Spiegel Online | |
| eine Frauenärztin]. | |
| – „Vor allem das Hormon Progesteron sorgt dafür, dass die Schleimhaut und | |
| das ungeborene Leben, das darin (in der Gebärmutter) nistet, nicht | |
| abgestoßen werden“ steht [4][in einem Artikel auf zeit.de, der über | |
| medikamentöse Abbrüche informiert]. | |
| – „Mehr Schutz für ungeborenes Leben?“ [5][titelte die FAZ in einem Arti… | |
| über Pränataldiagnostik]. | |
| – [6][In der Frankfurter Rundschau wiederum war zu lesen]: „Ulle Schauws, | |
| Bundestagsabgeordnete der Grünen, nannte den Marsch eine | |
| „Anti-Choice-Bewegung“ und bezweifelte gar, dass es dabei wirklich um | |
| Lebensschutz gehe“. (Mit Marsch ist der sogenannte „Marsch fürs Leben“ | |
| gemeint, den die Abtreibungsgegner*innen jährlich, riesige Kreuze tragend, | |
| in unterschiedlichen Städten veranstalten.) | |
| – Bei der [7][Talk-Show von Anne Will] zum Paragrafen 219a am vorigen | |
| Sonntag, 3. Februar, benutzten vier von fünf Teilnehmer*innen die Begriffe | |
| immer mal wieder. Die einen, weil man sie eben so sagt, und einer, „der | |
| Lebensschützer“, weil er sie so sagen will. | |
| „Ungeborenes Leben“ wird synonym für Fötus, für Embryo benutzt. Wer die | |
| Phrase verwendet, verwischt Gegensätze. Geboren. Ungeboren. Alles gleich. | |
| Zudem wird das Wort „Leben“ in dem Zusammenhang, in den Abtreibungsgegner | |
| es stellen, nur für Menschen gemeint. Die selbsternannten „Lebensschützer“ | |
| setzen sich demnach exklusiv für den Homo sapiens ein. Am liebsten den | |
| ungeborenen. | |
| ## Phrase ohne biologische Grundlage | |
| Nicht nur ihr Lebensbegriff ist begrenzt, ihr Schutzbegriff auch. Der ist | |
| eine Lobbyveranstaltung für eine einzige Lebensform: die Embryos im Uterus | |
| der Frau. Als „Speziesismus“ bezeichnet die Humanbiologin Marianne Christel | |
| diese enge Verwendung des Begriffes Leben. „Sie betreiben den Ausschluss | |
| der Kosmologie, den Ausschluss der Komplexität des Lebens“, sagt sie am | |
| Telefon. | |
| Werden Worte wie „Lebensschutz“ aber erst einmal nur noch auf Föten | |
| bezogen, was sollen jene dann sagen, die offenere Vorstellungen von Leben | |
| haben, das es zu schützen gilt? | |
| Gegner*innen von Schwangerschaftsabbrüchen haben auch das schon im Blick, | |
| wenn sie Leute, die „Lebensschutz“ als umfassenderes Konzept verstehen, | |
| anfeinden: „Wenn es um das Leben von Tieren geht, da sind einige, die jetzt | |
| für Abtreibungen werben wollen, kompromisslos. Aber in der Debatte wird | |
| manchmal gar nicht mehr berücksichtigt, dass es um ungeborenes menschliches | |
| Leben geht.“ Wer das sagte? Jens Spahn, der Gesundheitsminister. Was er | |
| meinte: Tierschützer, die die staatliche Gängelung beim | |
| Schwangerschaftsabbruch abgeschafft sehen wollen, sind Scheinheilige. | |
| (Unklar, wie er gerade auf Tierschützer kommt. Vielleicht meinte er | |
| Umweltschützer und zielte damit auf die Grünen.) | |
| Wie aber konnte es passieren, dass diese Phrase „ungeborenes Leben“ so | |
| ungefiltert ins Sprachbewusstsein gewandert ist, wo doch noch nicht einmal | |
| die Biologie eine verbindliche Erklärung für „Leben“ hat? | |
| „Eine eindeutige, allgemein akzeptierte Definition des Lebens gibt es | |
| nicht“, steht in einem Artikel der Max-Planck-Gesellschaft zur | |
| Synthetischen Biologie. Es werden darin allerdings Schlüsselmerkmale | |
| genannt, die Leben kennzeichnen. Lebewesen müssen unter anderem aus | |
| mindestens einer umschlossenen Zelle bestehen, in der biochemische | |
| Lebensvorgänge stattfinden, wie etwa ein genetischer Bauplan mit Programm, | |
| sie müssen einen Stoffwechsel haben, Energie verbrauchen, sich vermehren | |
| und wachsen. | |
| ## „Wer die Begriffe besetzt, besetzt die Köpfe.“ | |
| Sind Krebszellen also Leben? Sind Spermien Leben? Die Humanbiologin | |
| Marianne Christel sagt zuerst ja. Und dann nein. Die Pressesprecherin der | |
| Max-Planck-Gesellschaft sagt, „wenn man es gegen einen Stein setzt, ist es | |
| Leben. Aber niemand würde sich in der Max-Planck-Gesellschaft eine | |
| Definitionshoheit anmaßen.“ | |
| Der Historikerin Barbara Duden ist schon vor 30 Jahren aufgefallen, dass | |
| etwas mit dem Begriff „Leben“ in der Debatte um Schwangerschaftsabbruch und | |
| den § 218 nicht stimmt. In ihrem Buch „Der Frauenleib als öffentlicher Ort. | |
| Vom Mißbrauch des Begriffs Leben“ zeigt sie auf, dass noch im 18. | |
| Jahrhundert der Körper der Schwangeren als Einheit mit dem Embryo | |
| verstanden wurde und nicht als zwei getrennte Entitäten. Diese Aufspaltung | |
| konnte sich erst durchsetzen, seit der Fötus sichtbar gemacht werden kann. | |
| Aber anstatt dass wenigstens eine Dualität erkannt wird, wird die Frau aus | |
| Sicht von Kirche und Staat nur noch zum Container, zum „uterinen Umfeld“, | |
| wie Duden, die auch von der Schweizer Ethikkommission in diesen Fragen zu | |
| Rate gezogen wurde, an ihrem Berliner Küchentisch sitzend sagt. „Das | |
| substantive Leben“, sie meint, dass anstatt von einer Person von Leben | |
| gesprochen wird, „das ist eine Erfindung der 70er Jahre“. | |
| Die Phrase vom „ungeborenen Leben“ wiederum nennt sie ein „Medienemblem�… | |
| das etwas aussage „über die Verwüstungen der Sprachweisen, in denen wir | |
| über Menschen und hier insbesondere über Frauen sprechen“. Das | |
| Selbstbestimmungsrecht der Frau auszuspielen gegen ein Lebensrecht des | |
| Fötus, das unterwerfe Frauen, weil diese sowieso nichts bestimmen in | |
| unserer Gesellschaft. Schlimm genug sei dann aber, wenn sich im fünften | |
| oder sechsten Monat herausstelle, dass beim kommenden Kind eine Abweichung | |
| von der Norm identifiziert werden kann. Dann soll es beseitigt werden. | |
| Ihr Plädoyer: Die Frauen sollen laut und deutlich „Nein“ sagen, wenn sie | |
| kein Kind wollen. Denn kein Kind komme zur Welt, wenn die Frau es nicht | |
| wolle. | |
| Die Sprache der Abtreibungsgegner*innen schadet der zivilen Gesellschaft. | |
| Sie hilft, die durch Kirche und Staat eingeschränkte Freiheit der | |
| schwangeren Frau im Bewusstsein zu verankern. Zu vermuten ist, dass das | |
| beabsichtigt ist, denn ein Großteil der Abtreibungsgegner*innen hat eine | |
| Nähe zu konservativen und rechten Parteien, die einem patriarchalen | |
| Frauenbild anhängen. Diejenigen aber aus dem aufgeklärten Milieu, die sich | |
| deren Worthülsen zu eigen machen, verrichten beabsichtigt oder | |
| unbeabsichtigt damit das Werk derer, die Schwangerschaftsabbruch als Mord | |
| bezeichnen. Denn es gilt: „Wer die Begriffe besetzt, besetzt die Köpfe.“ | |
| Wer das gesagt hat? Heiner Geißler, der 2017 verstorbene, sich das Denken | |
| nicht vorschreiben lassen wollende Politiker der CDU. | |
| 10 Feb 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kompromissvorschlag-zu--219a/!5568629 | |
| [2] http://mediathek.daserste.de/Echtes-Leben/Wie-viel-Schutz-braucht-ungeboren… | |
| [3] http://www.spiegel.de/gesundheit/schwangerschaft/abtreibungen-hadern-sie-da… | |
| [4] https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2019-02/paragraf219a-kristina-haenel-… | |
| [5] https://www.faz.net/aktuell/wissen/faktencheck/faktencheck-praena-test-ausw… | |
| [6] https://www.fr.de/panorama/lebensschutz-rechten-namen-christi-10964059.html | |
| [7] /Aerztin-Kristina-Haenel-bei-Anne-Will/!5570082 | |
| ## AUTOREN | |
| Waltraud Schwab | |
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