| # taz.de -- Kommentar Feminismus und Paragraf 218: Freiheit für Andersfühlende | |
| > Eine radikale Rhetorik beherrscht die Debatte um Abtreibungen – doch das | |
| > Leben ist komplizierter. Auch Feministinnen dürfen trauern. | |
| Bild: Eine Abtreibung kann Erleichterung verschaffen, aber zugleich Abschied be… | |
| Jens Spahn sorgt sich mal wieder um die Frauen des Landes. Der | |
| CDU-Politiker und Gesundheitsminister, der uns einst die luzide Erkenntnis | |
| präsentierte, die „Pille danach“ sei kein Smartie, will eine [1][Studie zu | |
| den seelischen Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen] durchführen lassen – | |
| sehr zum Nachteil aller Frauen. Denn nun haben ein paternalistischer | |
| Betonkopf und seine Vordenker*innen aus der „Pro Life“-Bewegung den Rahmen | |
| gesetzt, um über das psychische Wohlergehen nach Abtreibungen zu sprechen. | |
| Man kann annehmen, dass aus Spahns Forscherdrang eher politischer | |
| Profilierungswahn als echtes Interesse spricht. Schließlich gibt es längst | |
| Untersuchungen zu den Folgen von Abtreibungen; nur liefern die offenbar | |
| keine Ergebnisse, die Spahn in die Agenda passen: Eine 2015 veröffentlichte | |
| Studie der University of California besagt etwa, dass 95 Prozent der | |
| befragten Frauen den Eingriff nicht bereuen. Nicht direkt danach und auch | |
| nicht Jahre später. Schon blöd, wenn ein Gesundheitsminister so bockig den | |
| Stand der Forschung ignoriert. | |
| Auf Spahns Moral und die Mythen seiner Gleichgesinnten reagiert die | |
| Pro-Choice-Fraktion zu Recht mit radikaler Rhetorik. Zwei feministische | |
| Thesen lauten: Wenn Frauen nach Abtreibungen zu kämpfen haben, dann wegen | |
| der gesellschaftlichen Stigmatisierung. Und: Es sei auf keinen Fall | |
| ungeborenes Leben, das man da bis zur 12. Schwangerschaftswoche aus dem | |
| Uterus holt, sondern lediglich ein „Zellhaufen“. | |
| Beide Thesen sind aus medizinischer und wissenschaftlicher Sicht richtig – | |
| und doch ist es komplizierter. Denn: Doch, manche Frauen leiden nach | |
| Abtreibungen an mehr als den Strukturen. Und nein, es ist keine | |
| unumstößliche Wahrheit, dass Menschen, die [2][Paragraf 219a] abschaffen | |
| wollen, einen Fötus als „Zellhaufen“ betrachten müssen. | |
| ## So simpel der Eingriff, so widersprüchlich die Gefühle | |
| Fest steht zunächst: Besagte Studie aus Kalifornien kam zu dem Ergebnis, | |
| dass negative Gefühle direkt nach der Abtreibung meist im Zusammenhang mit | |
| der befürchteten oder erlebten Stigmatisierung stehen. Wer mit Frauen über | |
| das Thema Abtreibung spricht, bekommt zur Bestätigung viele Geschichten vom | |
| Versagen der Gesellschaft und der Institutionen zu hören: von unsensiblen | |
| Gynäkolog*innen, Mitarbeiter*innen in Beratungsstellen, die Frauen | |
| demütigend akribische Fragen zur „Familienplanung“ mit einem | |
| One-Night-Stand stellen, von Eltern, Partner*innen oder Freund*innen, die | |
| verständnislos und ignorant reagieren. Eine gerechtere Welt sähe anders | |
| aus. | |
| Aber Frauen erzählen eben auch Geschichten, die sich selbst in der | |
| gerechtesten aller Welten ereignen würden – weil eine Abtreibung | |
| Erleichterung verschaffen, aber zugleich Abschied bedeuten kann. Auch | |
| Frauen, die sich ihrer Sache völlig sicher sind, können traurig sein. Vor | |
| dem Abbruch und danach. Weil sie Verantwortungsgefühl für dieses Ding in | |
| ihrem Bauch entwickelt haben. Weil sie schwanger von einem Menschen sind, | |
| mit dem sie sich eine Familie vorstellen können – nur halt nicht jetzt. | |
| Weil ihr Wunschkind schwer behindert auf die Welt kommen würde und sie sich | |
| dieser Herausforderung nicht gewachsen fühlen. | |
| So simpel der Eingriff ist, so widersprüchlich kann sich eine Frau im | |
| Anschluss fühlen. Sie kann an neun von zehn Tagen froh sein, kein | |
| brüllendes Bündel in den Schlaf wiegen zu müssen. Und sich an Tag zehn | |
| fragen, ob das Bündel wohl schon krabbeln könnte. Sie kann in manchen | |
| Momenten sauer auf alle werden, die da so locker-rotzig von „Zellhaufen“ | |
| reden – und doch zugleich bereit sein, deren Position vor der | |
| Spahn-Fraktion zu verteidigen. Wie nennt man solche Gefühle? Reue | |
| jedenfalls nicht. | |
| Abtreibungen sind der häufigste chirurgische Eingriff in der Gynäkologie | |
| und gehören entkriminalisiert, denn sie sind, auf gesellschaftlicher Ebene, | |
| seit Jahrhunderten Normalität, Alltag, keine große Sache. Auf individueller | |
| Ebene kann das anders aussehen. Das ist ein gewaltiger Unterschied, der im | |
| Bestreben, die Argumente der Abtreibungsgegner*innen zu entkräften, oft | |
| untergeht. | |
| Unter unzähligen Frauen, für die der Eingriff undramatisch ist, sind immer | |
| auch Zweifelnde. Trauernde. Und die fühlen sich nicht besser, wenn sie nach | |
| konservativer Lesart tragische Sünderinnen sind und nach feministischer gar | |
| nicht existieren. Dass sich Frauen mit ambivalenten Gefühlen und | |
| Geschichten so selten zu Wort melden, ist kein Wunder: Wer nach einer | |
| Abtreibung eingesteht, beim Anblick von Babys nasse Augen zu kriegen, muss | |
| in Überschallgeschwindigkeit hinterhersetzen, trotzdem zu seiner | |
| Entscheidung zu stehen. Sonst kommt irgendein Jens und freut sich, mal | |
| wieder besser gewusst zu haben, was gut für die dummen Mädchen ist. | |
| Die Debatte braucht die drastische „Zellhaufen“-Rhetorik. Genauso dringend | |
| aber bräuchte sie andere, weiterführende feministische Erzählungen zum | |
| Thema Abtreibung. Nur weil die „Pro Life“-Fraktion von den „seelischen | |
| Folgen“ einer Abtreibung spricht, muss niemand die Worte zwangsläufig | |
| spöttisch in Anführungszeichen setzen. Man kann eine Abtreibung für einen | |
| großen Einschnitt im Leben halten – und dafür kämpfen, dass andere Frauen | |
| das nicht so sehen müssen. | |
| Es ist eine Krankheit der Zeit, Angst vor ambivalenten Positionen zu haben, | |
| weil die Gegenseite sie für ihre Zwecke vereinnahmen könnte – und es oft | |
| genug tut. Aber es wäre fatal, den Rechten das Recht aufs Sprechen über | |
| Abtreibung und Trauer zu überlassen. Reden wir also: nicht nur über die | |
| entspannten Abbrüche, sondern auch über die traumatischen. Über Schmerzen | |
| und Blut, gute Gespräche und blöde, über die Therapie im Anschluss oder die | |
| Erleichterung. Nur so können Schwangerschaftsabbrüche für alle Frauen ein | |
| normaler Teil des Lebens werden. Und vermutlich würde nichts Jens Spahn so | |
| sehr ärgern. | |
| 7 Feb 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julia Lorenz | |
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