| # taz.de -- Kolumne Schlagloch: Vegan geht alle an | |
| > Veganismus ist für Menschen mit Migrationsgeschichte nicht schwerer zu | |
| > verstehen als für andere. Warum werden sie nicht stärker involviert? | |
| Bild: „Wir leben in einer arg segregierten Gesellschaft“ | |
| Vor einigen Tagen war ich auf einem Vortrag über „Extinction Rebellion“. | |
| Diese Bewegung wurde Ende 2018 in Großbritannien gegründet und will sich, | |
| möglichst weltweit, mit Protest und zivilem Ungehorsam für eine radikal | |
| andere Klimapolitik engagieren. Die Anwesenden schienen gleichzeitig von | |
| Entsetzen und von Mut getragen, das war beflügelnd. Doch noch etwas fiel | |
| mir auf: Es waren fast ausnahmslos Menschen mit einheimisch-deutschem | |
| Hintergrund zugegen. Ähnlich war es mir schon [1][auf so vielen | |
| Veranstaltungen zum Klimawandel, zu Veganismus und auf Tierrechtsdemos] | |
| ergangen; ich sah fast nur helle Gesichter. | |
| Dies ist kein Vorwurf. An niemanden. Weder an die, die kommen, noch an die | |
| anderen, die wegbleiben. Die vielleicht nie davon erfahren haben oder die | |
| sich vielleicht nicht angesprochen fühlen. Wir leben in einer arg | |
| segregierten Gesellschaft, in der Milieus und ethnische Gruppen meist unter | |
| sich bleiben; in der Partnerschaften über Klassenschranken fast nie | |
| vorkommen und in der man bei vielen geselligen Anlässen nur auf Menschen | |
| mit ähnlicher Herkunft und Bildungsbiografie stößt. | |
| Darum ist es kein individuelles Versagen einzelner Aktivist*innen, wenn die | |
| meisten Klimaschutz- und Tierrechtsinitiativen bis heute nicht annähernd so | |
| vielfältig zusammengesetzt sind wie die Bevölkerung insgesamt. Vielmehr | |
| greifen hier weithin unbemerkte gesellschaftliche Muster. Dennoch müssen | |
| wir bewusst versuchen, diese Schranken zu durchbrechen – von beiden | |
| „Seiten“ aus, und für beide „Seiten“. Denn wenn weite Teile dieses Glo… | |
| unbewohnbar werden, wenn Ackerflächen zu Wüsten und etliche Metropolen zu | |
| Objekten der Unterwasserarchäologie werden, sind alle Menschen betroffen. | |
| Und alle sind wir verantwortlich. Der Wagen des Migrationshintergründlers | |
| verbraucht so viel Sprit wie der des hier Geborenen, beider Familien Strom | |
| wird von denselben Kraftwerken ins selbe Netz gespeist, und auch der Müll | |
| schert sich nicht um die Pässe der Urgroßeltern. Zwar mögen die Grünen eher | |
| eine Partei der Gebildeten und proportional auch eher der Weißen sein, und | |
| ja, Wohlhabendere verbrauchen (noch) mehr Ressourcen als Ärmere, doch | |
| Umwelt ist kein Privilegierten-Thema. | |
| ## Ums Schächten geht es nicht | |
| Genauso wenig wie Massentierhaltung und Tierrechte. Wenn ich in der Türkei | |
| mit Menschen übers Fleischessen spreche, höre ich übrigens [2][dieselben | |
| „Argumente“] wie hier in Deutschland. Na ja, mit einem Unterschied | |
| vielleicht. Was hier der „Biobauer um die Ecke“ ist, ist dort „das Dorf�… | |
| So hat jeder, der seit Jahrzehnten in Istanbul lebt, Kindheitserinnerungen | |
| an ein Dorf parat, in dem Hühner und Ziegen angeblich unbekümmert lebten. | |
| Mag sein. Aber die 15-Millionen-Stadt Istanbul wird natürlich nicht von | |
| Kleinbauern versorgt! | |
| Den Türkischstämmigen hierzulande wiederum wird die Fleischfrage oft im | |
| Hinblick auf das Schächten gestellt, dabei geht es doch darum nicht. Das | |
| Schächten ist grausam, und das Schlachten in konventionellen Schlachthöfen | |
| ist es auch. Die Betäubung, die das Tierschutzgesetz vorschreibt, bedeutet | |
| ja tatsächlich das Zerschmettern des Schädels, umfasst Elektroschocks oder | |
| Erstickungspanik. Alle Formen von Schlachten sind grausam, weil sie nun | |
| einmal Tiere treffen, die eigentlich leben wollen! Lasst uns also nicht | |
| übers Schächten oder Nicht-Schächten reden, sondern übers Töten. Denn so | |
| wie der Klimawandel von allen gemeinsam vorangetrieben wird, so leiden die | |
| Tiere unter der Ausbeutung durch uns alle. | |
| Daher müssen sich Veranstaltungen, Demos und Flugblätter nicht nur | |
| grundsätzlich an alle richten, sie müssen auch mehr Menschen mit | |
| Migrationshintergrund erreichen. Vielleicht müssen wir uns beim Flyern | |
| kritisch beobachten, ob wir wirklich alle Menschen mit demselben Nachdruck | |
| ansprechen; vielleicht lohnt es sich, die Infos in manchen Stadtvierteln | |
| zweisprachig zu verfassen. Viele der „Szene“-üblichen Veranstaltungsräume | |
| werden nicht von allen gern besucht, wohingegen es andere Räume gäbe, in | |
| denen auch mehr Migrant*innen ein und aus gehen. | |
| Gezielt könnte man interkulturelle Initiativen ansprechen oder die | |
| Kooperation mit bestimmten Gruppen suchen. Gerade unter muslimischen | |
| Studierenden habe ich schon mehrfach Diskussionen zum Thema Umwelt erlebt. | |
| Doch bisher finden die diversen Engagierten selten zueinander und können | |
| ihre Kräfte daher nicht bündeln. | |
| Nun ahne ich, dass solche Vorschläge mancherorts Bedenken wecken könnten: | |
| Lässt das nicht kulturelle Bevormundung befürchten? Mitnichten! Es bedeutet | |
| schlicht, alle Mitmenschen ernst zu nehmen, und zwar unabhängig von | |
| irgendwelchen „Hintergründen“. Schließlich gibt es keinen Grund anzunehme… | |
| dass etwa der grundsätzliche Gedanke, dass Tiere leben wollen und dass | |
| Töten grausam ist, für Migrationshintergründler*innen schwerer zu verstehen | |
| sein sollte als für Einheimische. Ebenso wenig ist anzunehmen, dass eine | |
| bestimmte Menschengruppe zu blöd, zu primitiv oder zu egoistisch sei, um | |
| sich für die Zukunft der eigenen Kinder oder die Gegenwart anderer Tiere zu | |
| interessieren. | |
| Natürlich gibt es jede Menge Leute, die sich blöd, primitiv oder egoistisch | |
| verhalten, jede*r Aktivist*in weiß das. Da stehst du an einer Mahnwache | |
| vorm Zirkus, es kommt eine sehr weltläufig wirkende Dame auf dich zu – und | |
| beschimpft dich und dein Plakat mit den beklopptesten Sprüchen, die seit | |
| Einführung der allgemeinen Schulpflicht zum Thema „Elefant auf Podest“ | |
| gesprochen wurden. Man sieht es den Leuten halt nicht an. Man kann | |
| diejenigen, die bereit sind, über Handlungsspielräume und politische | |
| Verantwortung nachzudenken, nicht vorab von den Verdrängungskünstler*innen | |
| unterscheiden. Aber wenn man den Kreis derjenigen, die man politisch | |
| anspricht, erweitert – wer weiß, welche Gespräche, Ideen und Bündnisse | |
| entstehen könnten. | |
| 16 Feb 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Debatte-Aktivismus-fuer-Tierrechte/!5502898 | |
| [2] /Kolumne-Pflanzen-essen/!5551999 | |
| ## AUTOREN | |
| Hilal Sezgin | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| Fleischkonsum | |
| Integration | |
| Veganismus | |
| Schlagloch | |
| Tierrechte | |
| Knapp überm Boulevard | |
| Schlachthof | |
| Schneeschuhhase | |
| Tierschutz | |
| Pflanzen essen | |
| Ferkelkastration | |
| Vegetarismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kollektives Denken im Klimawandel: Ein neues Verhältnis zur Welt | |
| Jeden Einzelnen für den Klimawandel verantwortlich zu machen, ist falsch. | |
| Vielmehr braucht es politische Veränderungen, die alle mittragen wollen. | |
| Kommentar Halal darf nicht bio sein: Glückwunsch, fühlt euch besser! | |
| Halal-Fleisch darf kein Bio-Siegel tragen, weil Schächten zu qualvoll sei. | |
| Heuchelei – denn auch bei Bio-Fleisch geht es ums Fressen statt ums | |
| Tierwohl. | |
| Nicht alle Hasen sind Veganer: Langohr mit Lust auf Fleisch | |
| Forscher räumen auf mit der Legende vom veganen Hasen: Wenn es schwierig | |
| wird mit der Nahrungssuche, frisst der Schneeschuhhase auch Aas. | |
| Drei Jahrzehnte kostenlos zu Beyoncé: Vegan wie die Queen | |
| Sängerin Beyoncé und ihr Mann Jay-Z verlosen kostenlosen Einritt zu ihren | |
| Konzerten – 30 Jahre lang. Aber nur an Leute, die vegan sind. | |
| Kolumne Pflanzen essen: Sind wir blöde Besseresser? | |
| Diesen Vorwurf hört man oft: Wer vegan lebt, will sich als etwas | |
| Korrekteres, Reineres, Edleres inszenieren. Dabei gibt es andere gute | |
| Gründe. | |
| Vegane Lebensweise: Sechs Fragen bis zur Veganer*in | |
| Es gibt viele Gründe für ein veganes Leben: Unbetäubte Ferkelkastration, | |
| Kükenschreddern oder der UN-Klimareport. Ein kleines „How to“ für | |
| Unentschlossene. | |
| Debatte Aktivismus für Tierrechte: Hoffen, handeln – und beten? | |
| Demonstrationen wie vor 20 Jahren bringen das Tierwohl und den Veganismus | |
| nicht voran. Wie lassen sich derzeit Menschen überzeugen? |