| # taz.de -- Debatte Aktivismus für Tierrechte: Hoffen, handeln – und beten? | |
| > Demonstrationen wie vor 20 Jahren bringen das Tierwohl und den Veganismus | |
| > nicht voran. Wie lassen sich derzeit Menschen überzeugen? | |
| Bild: Auch eine Form der Demonstration für mehr Tierrechte. Die Tierbefreiungs… | |
| Zwei Freunde von mir organisieren gelegentlich Demonstrationen. | |
| Tierrechtsdemonstrationen. Und sie sind frustriert. Vor fünf Jahren, | |
| erzählt der eine, seien 80 Leute zu ihrer ersten Demo erschienen. Ihre | |
| Gruppe wuchs, der Vegantrend setzte sich fort, und auf den nächsten Demos | |
| erschienen … wieder nur 80. Inzwischen sind fünf Jahre vergangen, da müsste | |
| es doch möglich sein, ein paar hundert Menschen gegen Schlachthöfe oder | |
| Pelzläden auf die Straße zu kriegen? Aber es bleibt bei einer Zahl so um | |
| die 80. Jetzt fragen sich die beiden, ob sie etwas falsch machen: Müssten | |
| sie lauter die Werbetrommel rühren oder spektakulärere Aktionen bieten? | |
| Vielleicht beides. Dennoch glaube ich nicht, dass sich meine Freunde | |
| Versäumnisse vorzuwerfen haben. Eher nehme ich an, dass die meisten | |
| Menschen, die sich durchaus für Politik und Veränderung interessieren, | |
| gleichzeitig so stark vom allgegenwärtigen Leistungs- und | |
| Selbstoptimierungswahn gefordert sind, dass sich ihnen zu wenige | |
| „Zeitfenster“ (allein das Wort!) für politischen Aktivismus bieten. Auch | |
| der Aktivismus erscheint da nur als ein Selbstverwirklichungsgenre neben | |
| anderen wie Yoga, Sport, In-sich-Gehen, Aus-sich-heraus-Gehen und ähnlichen | |
| Tätigkeiten, mit denen wir uns unserer Individualität versichern und | |
| gleichzeitig den Nachweis erbringen wollen, dass wir das obligatorisch | |
| glückliche Leben führen, ohne das man quasi als Paria gilt. | |
| Auch mit der Überlegung, ob Demonstrationen „spektakulärer“ werden sollte… | |
| liegen meine Freunde sicher nicht falsch; aber der altmodische Appeal einer | |
| üblichen Trott-und-Brüll-Demo ist schließlich nicht ihre Schuld. Jeder | |
| Demozug, der sich heute mit Lautsprecherwagen und Plakaten durch eine | |
| Innenstadt schiebt, konkurriert nun mal mit zig Märkten, Marathons und | |
| Werbeaktionen um Aufmerksamkeit. Sogar der Sinn von Demos selbst wird heute | |
| weniger als vor 20 Jahren darin gesehen aufzurütteln, „die da oben“ | |
| herauszufordern oder schlicht Unmut kundzutun; sondern heute suchen Demos | |
| vor allem Aufmerksamkeit. | |
| Sie wollen nicht stören, sondern gefallen. Eigentlich verstehen sie sich | |
| selbst als so etwas wie Werbung, und weil die anderen Menschen, die in | |
| denselben Innenstädten unterwegs sind, längst nicht mehr neugierig stehen | |
| bleiben, bloß weil da ein paar hundert (oder gar 80) Menschleins zwischen | |
| zwei Polizeiwagen durch die Straßen ziehen, muss man sich etwas einfallen | |
| lassen. Vor allem auch für „die Medien“: Ob sie über eine Aktion berichten | |
| oder nicht, ist fast schon Synonym für Erfolg oder Misserfolg geworden. | |
| Während meine Freunde und ich uns mit diesen etwas betrübten Gedanken | |
| trugen, las ich das soeben ins Deutsche übertragene Buch von Micah White, | |
| einem Mitbegründer der Occupy-Bewegung. Es heißt „Die Zukunft der | |
| Rebellion“ (Blumenbar), und White argumentiert wieder und wieder, dass alte | |
| Protestformen (darunter auch klassische Demos) heute nicht mehr denselben | |
| Erfolg haben könnten wie noch im 20. Jahrhundert. Seine doppelte Erklärung: | |
| Die alten Formen überraschten nicht mehr, und die Staatsgewalt hätte es | |
| nicht mehr nötig, sich dem Druck der Straße zu beugen. Es könnten an die | |
| Millionen protestieren wie 2003 gegen den Irakkrieg oder weltweit wie bei | |
| Occupy, doch das ringe den Regierungen nur ein mildes Lächeln ab. | |
| ## Die richtigen Adressat*innen | |
| Hier besteht natürlich ein großer Unterschied zwischen der | |
| Tierrechtsproblematik und Micah White. Während Letzterer davon ausgeht, | |
| dass sich auf Demos sozusagen „das Volk“ an die Regierung wendet, richten | |
| sich unsere Tierrechtsdemos zunächst einmal … an das Volk! IHR, liebe | |
| Leserinnen und Leser – so ihr nicht schon vegan seid – seid unsere | |
| Adressat*innen. Euch wollen wir daran erinnern, dass Tiere nicht | |
| eingesperrt und nicht ihres Lebens beraubt werden wollen; und dass sie | |
| entsprechende Rechte haben, zumal hier und heute niemand tierische Produkte | |
| zum Überleben braucht. Uns geht es weniger darum, die Polizeigewalt | |
| auszutricksen oder „die Mächtigen“ zu nerven – sondern genau jene Mischu… | |
| zwischen Nervigsein und Nettigkeit zu finden, die EUCH auf unsere Seite | |
| beziehungsweise die der Tiere zieht. | |
| Micah Whites Überlegung, dass man für die eigenen Ideen neue Anhänger | |
| gewinnen könne, indem man im Internet Bots mit ihnen diskutieren lässt, | |
| lehne ich daher ab. Auch wenn wir Veganer*innen oft dasselbe Argument 1.000 | |
| Mal wiederholen und dabei Frustrationen einfahren ohne Ende – ich glaube an | |
| die Notwendigkeit, sich von Mensch zu Mensch an die anderen zu richten. | |
| Demos und Diskussionen sollten wir nicht als Werbung ansehen, sondern als | |
| Möglichkeiten aufrichtiger Kommunikation. Dabei bitten wir die anderen, die | |
| Welt einmal mit unseren Augen oder denen der Ausgebeuteten zu sehen und | |
| sich uns anzuschließen, und wir vertrauen darauf, dass solche Bitten | |
| fruchten (können). | |
| Dies wiederum berührt sich mit einem Punkt, in dem ich mit White einer | |
| Meinung bin, mit dem er mich kolossal überrascht hat und sicher einige | |
| seiner antikapitalistischen Mitstreiter*innen vor den Kopf stößt: Er | |
| plädiert für die Rückkehr religiöser/spiritueller Formen in den politischen | |
| Aktivismus. Die marxistisch motivierte Konzentration auf die materiellen | |
| und ökonomischen Grundlagen gesellschaftlicher Stagnation und Veränderung | |
| lasse zu viele andere Kräfte und Potenziale außer Acht. | |
| Vertrauen. Hoffen. Handeln. – Und beten? Weil Micah Whites Buch mit der | |
| provokanten Idee schließt, für Veränderung (auch) zu beten, und zudem | |
| gestern Abend der Ramadan begonnen hat, schließe ich mit einem Gebet. Ich | |
| spreche es jedes Mal, wenn ich auf der Straße einen Tiertransporter sehe: | |
| „Oh Allah, stehe ihnen bei in ihrer Angst und ihrem Leiden. Gib uns die | |
| Kraft, für sie zu kämpfen, und gib uns allen ein Einsehen, um diese | |
| Ungerechtigkeit und Grausamkeit zu beenden.“ Ob es an uns oder ob es an | |
| Gott liegt, dieses Gebet Wirklichkeit werden zu lassen, weiß ich nicht. | |
| 22 May 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Hilal Sezgin | |
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