| # taz.de -- Psychologin über Online-Selbsthilfe: „Depression ist ein Massent… | |
| > Jeder zweite Psychotherapie-Patient bekommt keine Behandlung. Nora Blum | |
| > hat ein Online-Portal zur Selbsthilfe aufgebaut. | |
| Bild: Psychotherapie war schon Thema am Esstisch ihrer Eltern: Nora Blum | |
| taz: Frau Blum, wie geht’ s Deutschland, psychisch gesehen? | |
| Nora Blum: Verbesserungswürdig. Es gibt in Deutschland noch immer sehr | |
| viele Menschen, die unter psychischen Erkrankungen leiden. Um die zehn | |
| Millionen Menschen haben Angststörungen und Depressionen. Diese Zahl ist | |
| seit Langem in etwa konstant, nur die Offenheit ist größer geworden. Die | |
| Anzahl derer, die Hilfe in Anspruch nehmen wollen, steigt. Viele davon | |
| bekommen diese Hilfe aber nicht. | |
| Sie kommen aus einer Familie von Psychologen, richtig? | |
| Meine Mutter ist Psychotherapeutin, mein Onkel Psychoanalytiker. Mein | |
| Bruder ist mittlerweile Life-Coach. Bei uns zu Hause am Esstisch war | |
| Psychologie ständig Thema. Meine Mutter hat uns schon früh Techniken | |
| beigebracht, wie wir es selbst schaffen, uns besser zu fühlen. Zum | |
| Beispiel, wenn ich nicht schlafen konnte. | |
| Was haben Sie dann gemacht? | |
| Viele Menschen geraten in eine Gedankenspirale. Das kennt jeder: Was muss | |
| ich morgen alles machen, hab ich dies und jenes bedacht? Es ist ein | |
| einfacher Trick, aber er hilft: vor dem Schlafengehen seine Gedanken | |
| externalisieren. Alles aufschreiben, dann ist das Wirrwarr nicht im Kopf, | |
| und auch hinzufügen, was man tun will, damit alles funktioniert. Ich war | |
| immer schon proaktiv, um zu schauen, wie ich Dinge ändern kann. Ich habe | |
| zum Beispiel eine Liste meiner Ressourcen angelegt, die half mir, wenn ich | |
| traurig war. Ich bin davon überzeugt, dass das eine gute Präventivarbeit | |
| gegen psychische Erkrankungen ist. | |
| Was kam noch am Esstisch zur Sprache? | |
| Gefühle wurden immer ausdiskutiert. Ich habe das als Privileg empfunden. | |
| Ich wurde zwar bedauert, schließlich ist meine Mutter auch Paar- und | |
| Sexualtherapeutin. Aber wenn meine Freundinnen bei uns anriefen, wollten | |
| sie oftmals nur mit ihr sprechen. Sie meldeten sich wegen ihres | |
| Liebeskummers, und dann schrieb meine Mutter mit ihnen Listen. | |
| Ihr Berufswunsch war also früh klar? | |
| Ich konnte gar nicht verstehen, wie jemand etwas anderes als Psychologie | |
| machen wollen könnte. Für mich gab es immer schon nichts Spannenderes als | |
| herauszufinden, warum wir uns so verhalten, wie wir uns verhalten. Ich habe | |
| die Entscheidung nie bereut, das Fach zu studieren. Ich fand alles | |
| spannend. | |
| Dafür brachten Sie ein gutes Abitur mit? | |
| Ich war schon immer eine Streberin. Ich habe einfach gerne gelernt. Ich | |
| habe die Abiturnote 1,0 gemacht und wurde deshalb für ein Stipendium | |
| vorgeschlagen. Ich habe dann im englischen York meinen Bachelor gemacht und | |
| bin für den Master nach Cambridge gegangen. Dort hatten viele Psychologen, | |
| die ich bewunderte, studiert. Ich habe mich auf Sozialpsychologie und | |
| Hirnforschung fokussiert. Um das Stipendium zu behalten, musste ich stets | |
| zu den besten zehn Prozent gehören. | |
| Was kam danach? | |
| Ich wollte nicht direkt in die Klinische Psychologie. Und eigentlich wollte | |
| ich erst einmal etwas anderes, Aufregendes machen. So bin ich beim | |
| Startup-Inkubator Rocket Internet gelandet, in der Abteilung, die die | |
| unterschiedlichen Unternehmen aufbaut. | |
| Ganz ohne betriebswirtschaftliche Kenntnisse? | |
| Ich musste in kurzer Zeit sehr viel lernen. Das hat mir als Gründerin | |
| später sehr geholfen. Mein erstes Projekt war gleich Foodora. Die wuchsen | |
| rasend schnell, jede Woche verdoppelte sich die Mitarbeiterzahl. Meine | |
| Mutter meinte schon zu mir: Es ist ja in Ordnung, wenn du viel arbeitest, | |
| aber muss es unbedingt ein Essens-Lieferservice sein? Und auch ich dachte | |
| mir, dass ich eigentlich gerne wieder etwas mit Psychologie machen wollte. | |
| Sie bekamen die Idee für Ihr Online-Soforthilfe-Portal gegen psychische | |
| Belastungen. | |
| An Selfapy arbeitete ich zu der Zeit schon intensiv am Wochenende. Das | |
| Versorgungsdefizit in Deutschland ist riesengroß. Jeder zweite Patient | |
| bekommt keine Behandlung. Die Wartezeit beträgt im Schnitt fünf Monate. In | |
| der Psychiatrie, in der ich ein Praktikum gemacht hatte, wurden Menschen | |
| nur aufgenommen, wenn sie knapp vorm Suizid standen. | |
| Nun geht es ja nicht allen Therapiebedürftigen so schlimm. | |
| Jeder zweite Mensch erkrankt mindestens einmal im Leben an einer | |
| depressiven Episode. Das ist ein Massenthema. Meine Mitgründerin Katrin | |
| Bermbach arbeitete in der Charité Berlin. Ihre Hauptaufgabe war es, | |
| Therapieplätze abzusagen! Obendrein ist die Hemmschwelle groß. Im Studium | |
| habe ich erlebt, wie viele abgebrochen haben, weil der psychische Druck zu | |
| groß wurde. Wir haben uns gedacht: Es muss eine niedrigschwellige Beratung | |
| geben, die sofort hilft, ein Online-Programm mit psychologischer | |
| Begleitung. An der Charité fing Katrin dann an, erste Kurse zu schreiben. | |
| Ihr Online-Portal fing also ganz analog an? | |
| Wir haben Bücher gewälzt und forschungsbasierten Content geschrieben, den | |
| wir mit den Charité-Professoren abgeglichen haben. Dann haben wir den | |
| Fragebogen kostenlos auf einer E-Learning-Plattform angeboten. Schon damals | |
| haben wir den Patienten angeboten, zusätzlich einmal die Woche ein | |
| Telefongespräch mit PsychologInnen führen zu können. Das waren damals nur | |
| wir beide. Das wurde sehr gut angenommen. Schließlich haben wir den Sprung | |
| ins kalte Wasser gewagt und ich habe bei Rocket Internet gekündigt. Die | |
| Tage waren lang, aber es hat unglaublich viel Spaß gemacht. | |
| Ist das nicht eine Krankheit unserer Zeit, dass keiner mehr weiß, wo die | |
| Arbeit aufhört und wo die Freizeit anfängt? | |
| Der Job soll heutzutage Selbstverwirklichung sein. Das ist schon so. Da | |
| muss man ein gutes Mittelmaß finden. Ich nehme mir mittlerweile auch mal | |
| Tage, an denen ich keine Mails beantworte. Aber Selfapy ist meine große | |
| Liebe, das Unternehmen habe ich immer im Kopf. Das ist gut, wenn es gut | |
| läuft, aber wenn es Probleme gibt, fällt es mir schwer, mich davon zu | |
| lösen. | |
| Nun sind Sie Geschäftsführerin, mit 27 Jahren. | |
| Der Titel bedeutet eigentlich nur, dass ich für alles zuständig bin. Heute | |
| fokussiere ich mich auf die Zusammenarbeit mit den Investoren und | |
| Krankenkassen. Wir müssen denen 113 gesetzliche Verträge vorlegen, dazu | |
| kommen 30 private. Ich tingele dafür durch das ganze Land. Es gibt ja so | |
| viele Kassen! Bisher übernimmt nur ein Teil davon die Kosten unserer | |
| Programme. | |
| Im Schnitt kosten Ihre begleiteten Programme 100 Euro im Monat. Was ist, | |
| wenn Bedürftige das nicht zahlen können? | |
| Wer es sich wirklich nicht leisten kann, der bekommt Rabatt. Wir wollen | |
| keine Abstriche machen, was die Wirksamkeit der Programme angeht. Wir sind | |
| kein Social-Profit-Unternehmen, aber unser Hauptziel ist auch nicht die | |
| Profitmaximierung. Investoren sind meist nicht begeistert davon, dass wir | |
| die kostenintensive telefonische Betreuung anbieten. Aber wir wollten nie | |
| ein reines Tech-Produkt machen. Menschlicher Kontakt ist wichtig. | |
| Sie werben mittlerweile nicht mehr mit dem Begriff „Online-Therapie“. | |
| Das ist kein geschützter Begriff, aber wir wollen nicht missverstanden | |
| werden. Wir bieten keine Psychotherapie an, das können nur approbierte | |
| Therapeuten face-to-face leisten. Für uns arbeiten Psychologen in | |
| Ausbildung, die parallel in Kliniken arbeiten. Für die ist das ein guter, | |
| flexibler Nebenjob. | |
| Können denn unfertige Therapeuten mit schwerkranken Patienten umgehen? | |
| Wir fragen immer mögliche Suizid-Absichten ab. Wer apathisch wirkt oder | |
| bestimmte Schlüsselwörter äußert, wird gleich an Kliniken weitergeleitet. | |
| Die Gespräche sollen keine Psychotherapie ersetzen, das ist per Telefon gar | |
| nicht zu leisten. Wir geben so eine Rückmeldung zum Online-Programm und | |
| motivieren, weiterzumachen. Es ist ein Selbsthilfeprogramm, das nur durch | |
| aktive Mitarbeit des Nutzers funktioniert und nachhaltig ist, weil man sich | |
| die Strategien selbst aneignet. | |
| Was macht man so in Ihren Programmen? | |
| Man lernt Strategien, die einem helfen, sich besser zu fühlen, zum Teil | |
| ganz banale Dinge, die aber viele nicht hinbekommen. Sich mit seinen | |
| Stärken befassen! Wer in einer Krise ist, vergisst die positiven Dinge um | |
| sich herum. | |
| Sie haben auch ein Programm gegen Burn-Out. Ist das nicht bloß ein Modewort | |
| für „Depression“? | |
| Das beobachten wir auch. Viele Nutzer buchen unser Burn-Out-Programm, und | |
| dann schieben wir sie im Verlauf in das Depressions-Programm. Burn-Out ist | |
| keine diagnostizierte Krankheit, aber es ist eine Sub-Form einer | |
| Erschöpfungsdepression. | |
| Sie bieten auch Unternehmen psychologische Unterstützung an. | |
| Es sind schon einige auf uns zugekommen, denn psychische Erkrankungen sind | |
| mittlerweile der zweithäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit. Das Angebot | |
| von Betriebspsychologen wird oft nicht wahrgenommen. Unser Programm ist | |
| niederschwellig und anonym. Und die Firma zahlt. | |
| Hätten Sie ein Problem, wenn es auf einmal genug reguläre Therapieplätze | |
| für alle gäbe? | |
| Es wird immer einen Bedarf für Online-Therapie geben. Wir behandeln auch | |
| Menschen, die normalerweise keine Therapie machen würden. Die schätzen die | |
| Flexibilität und brauchen gar keine richtige Gesprächstherapie. Unsere | |
| Übungen kann man per App auf dem Weg zur Arbeit machen. | |
| Was haben Sie noch vor mit Selfapy? | |
| Wir wollen das Thema Sucht angehen, aber auch Zwangsstörungen. | |
| Schizophrenie würden wir gerne behandeln, auch wenn es schwierig ist. | |
| Posttraumatische Belastungsstörungen würden sich dagegen gut online | |
| behandeln lassen. | |
| Haben Sie selbst Zwänge und Süchte? | |
| Eigentlich nicht. Ich fühle mich durch meinen Hintergrund sehr gut | |
| gewappnet. Ein kleiner Zwang vielleicht: Ich telefoniere noch immer jeden | |
| Tag mit meiner Mutter. Da bin ich ganz Mamakind. | |
| Sie wohnen und arbeiten mittlerweile in Berlin. Da sind Sie ja in guter | |
| Start-Up-Gesellschaft. | |
| Ich wohne seit vier Jahren in einer Siebener-WG. Alle meine | |
| MitbewohnerInnen sind selbständig. Das Berliner Umfeld hat mich schon | |
| geprägt: Mach dein Ding, und wenn du fällst, dann fällst du eben – und | |
| machst was anderes. | |
| Haben Sie auch das Nachtleben der Hauptstadt für sich entdeckt? | |
| Die Techno-Szene ist nicht so meine. Ich höre vor allem deutschen | |
| Schnulzpop, also Philipp Poisel und Co. Meine Freunde meinen, davon würden | |
| sie depressiv werden. Aber ich finde das schön. | |
| 28 Jan 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Paersch | |
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